Der goldene Topf.

pleistoneun

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Es war einmal ein alter Mann, der sein ganzen Leben lang den Regenbogen suchte. Aber jedesmal, wenn er glaubte, einen prächtigen Regenbogen zu sehen, kam er nicht rechtzeitig dorthin. Der vielen Jahre endloser Suche müde wollte der Alte nicht mehr so recht an diesen sagenumwobenen Regenbogen glauben, als er eines Tages einen kleinen Jungen traf, der einen Topf voller Gold bei sich hatte. "Was trägst du den Topf mit Gold mit dir herum?", fragte der Alte. "Damit ich den Himmel und die Bäume und mein Gesicht in anderen Farben sehen kann.", antwortete der Junge. Das machte den Mann neugierig und bat um einen Blick in den Topf. Als er hineinschaute, war ihm, als wäre sein Gesicht noch älter, noch fahler und kälter, der Himmel sah düster aus und der Wald wurde dunkel und unfreundlich um ihn. "Das Gold lügt", rief der Alte "was ich hier sehe, ist kein getreues Abbild der Umgebung, und schon gar nicht bunt". "Du hast nicht richtig hingesehen", forderte der Junge den überraschten alten Mann zu einem nochmaligen Blick in den Goldtopf heraus. "Schaue nicht mit den Augen des alten Mannes, richte den Blick nach innen, ganz ins Herz hinein!". Doch auch ein zweiter Versuch, die Welt in üppiger Farbenpracht zu sehen, scheiterte am selben Grund wie beim ersten Mal. In eintöniges Grau schien die Umwelt getaucht, so grau wie alles was er bisher zu sehen bekam. Der alte Mann sah alles nur in grau, sein Leben lang. Er besaß nicht die gesegnete Fähigkeit zum Farbsehen, für ihn trugen Blätter immer dunkles Grau und das Wasser war schwarz, Blumen hielten sich einheitlich fahl, kein Farbstrahl durchbrach diese glanzlose Welt. "Das Gold macht, dass der Himmel bunt wird. Du musst nur deine Welt um dich herum durchbrechen und in diese neue tauchen. So wie der Regentropfen vom Sonnenstrahl durchbrochen wird und daraus unzählige Farben malt."

Das war neu für den Alten, alles ihm Bekannte aufzugeben, so sehr ans Herz Gewachsenes abzutrennen und feste Überzeugungen über Bord zu werfen. Aber das war notwendig, wenn er das erste Mal in seinem langen Leben in einen Topf aus Gold schauen dürfte, der ihm die andere Welt da drüben, die aus Farbe, offenbaren würde. Zu groß war die Versuchung, gleich hier alles zu verändern, zu lange schon war er auf der Suche nach dem farbenfrohen Regenbogen und gerade so schwer war es für ihn mittlerweile geworden, sich aus sich selbst zu verändern. Die schattenhaften Eindrücke unscharfer Bilder seiner Umgebung waren zu seinem Alltag geworden, keine Wünsche einer besseren Welt, kein Anspruch an ein besseres Leben, nur die verstummte Sehnsucht nach dem Regenbogen, der sich so schillernd mannigfarbig, so leuchtend, bunt und glänzend vor den Augen der übrigen Welt präsentierte.

Und gerade während er diese Untiefen in seinem Inneren mit frischer, goldener Energie füllte, funkelte ein Pünktchen Farbe im Topf des Jungen. Der alte Mann wich erschrocken zurück, um danach sofort wieder das Bild aus Gold anzustarren, in dem sich nach und nach ein Wandel von stumpfem, farblosem Abguss zu reiner, lebendiger und greifbarer Materie vollzog. Seine Augen glänzten vor Tränen und ihm verschwammen die neuen Farben zu einem bunten Licht- und Farbenspiel. Noch nie in seinem Leben sah er Farben, jetzt, in diesem Moment aber, schlug er eine Tür in eine neue Welt auf, die ihn mitsamt seinen festgesetzten und bewährten Überzeugungen für immer in Besitz nehmen würde, denn er hatte es erstmals geschafft, über seinen altgewordenen Schatten zu springen, um das Neue und Fremde zuzulassen.

"Du kannst jetzt deinen Regenbogen malen", sagte der kleine Junge und erhielt dafür den Dank eines jungen, alten Mannes.
 



 
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