Der kleine Himmel

Costner

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Kathrin lief die Stiegen so langsam hoch, als müsste sie sich jeden Schritt genau überlegen.
Die Stiegen zu ihrem Appartement im letzten Stock, begann sie jedes Mal zu zählen. Sie hatte irgendwann aufgehört, sich darüber zu ärgern, dass als Ergebnis immer etwas anderes herauskam.
Wo hast du dich rumgetrieben, hörte Kathrin die Schwester sagen, als sie durch die Tür kam und zwei Tüten herein schleppte. Kathrins Schwester war weiß und dick, im Nacken hockte ihr schwarzer Zopf. Ihre Augen glotzten aus dicken Wangen wie schwarze Knöpfe. In der Wohnung roch es nach Essen. Kathrin betrat die Küche, die in einem Dunst lag, und stellte die Tüten auf den Küchentisch.
Ich habe zu Essen gekocht, sagte die Schwester.
Kathrin sah sie kurz an. Sie trug eine Kette, deren Farbe schwer auszumachen war, weil sie unter dem dicken Hals fast verschwand. Ihre Brüste wippten auf dem Bauch, wenn sie etwas sagte. Kathrin nickte und räumte die Einkäufe weg.
Sie sagte nur, dass sie sich darüber freue, dass sie gekocht habe. Kathrin hörte den schweren Atem ihrer Schwester.
Kathrin verließ die Küche und lief ins Schlafzimmer. Dort hockte sie sich auf die Bettkante, schlüpfte aus den Schuhen und spürte ein Gewicht von sich abfallen, als löse sie sich von einem großen Schmerz. In der Küche war ein Poltern zu hören und Kathrin schreckte auf, als werfe die Panik, die sie bei den Geräuschen immer erfasste, ihre Schatten voraus. Dann stand sie wieder auf, um in die Küche zurückzukehren.
Als sie zusammen am Küchentisch beim Essen saßen, hörte Kathrin ihre Schwester schnaufen, während sie einen Berg Eintopf nach dem anderen auf ihren Löffel schaufelte und anschließend in ihren Mund. Kathrin lehnte sich zurück und ihr Blick ging an ihrer Schwester vorbei durch das Fenster in den Hof dahinter. Sie erinnerte sich an die Ruhe, während der Tag in den Abend hinein dämmerte, das Licht im Hof wechselte und eine wohlige Kühle aufkam.
Aber dann war die Mutter plötzlich ins Krankenhaus gekommen und von dort aus in ein Heim. Als Kinder waren sie gemeinsam um den Küchentisch gesessen und hatten Mutter dabei zugesehen, wie sie heißes Wasser für Tee aufgesetzt hatte. Zwanzig Jahre war das her, dachte Kathrin. Willst du Zitrone in den Tee, hatte sie immer gefragt, und die Antwort war immer gleich ausgefallen. Im Fernseher lief am Abend die Schlagerparade, die sich Mutter angesehen hatte. Sie summte jeden Refrain mit. Und irgendwann, das war sicher gewesen, hatte sie immer gesagt, lasst euch mal gesagt sein, wenn ich tot bin, gehört das alles euch. Kathrin hatte da nicht gewusst, dass sie nichts hatte.
Wenn es kälter wurde, nahm Kathrin den Kohleeimer und ging in den Keller. Ihre Schwester musste nie gehen; als Kind war sie schon zu dick, um die vielen Stiegen in den letzten Stock zu laufen.
Kathrin hatte nie geheiratet. Einen Freund hatte sie eine Zeit lang gehabt, Helge, aber die Geduld war nicht groß gewesen, weil Kathrin immer auf ihre Schwester aufpassen musste.
Manchmal schlich sie sich nachts die Stiegen hinunter. Sie schlich an dem Licht der Straßenlaternen, das wie ein Raum war, vorbei und stellte sich in den Hinterhof, der wie ein Schacht wirkte. Es war dunkel und im Winter gab es oft Schnee. Die beruhigenden Augenblicke genoss sie, wenn sie allein war und sich die Ruhe um sie herum wie eine Mauer hochzog. Dann musste sie an nichts denken, nicht an ihre Schwester und das Leben, in dem sie nur eine Figur war, an deren Fäden ihre Schwester zog.
Kurz vor der Dämmerung, wenn das Licht als fingerdünner Streifen über ihrem Kopf auftauchte, ging sie zurück in die Wohnung.

Am nächsten Morgen war Kathrin vor Sonnenaufgang wach geworden. In der Wohnung roch es seltsam vertraut und doch fremd. Kathrin ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Sie bereitete das Frühstück vor. Für sie selbst war es meistens nur ein Joghurt, für ihre Schwester dann schon Rührei mit Speck und Toast, Marmelade und Wurst und was sonst noch im Kühlschrank zu finden war.
Im Halbdunkel lief sie durch den Flur ins Kinderzimmer, ihr früheres Zimmer, das jetzt ihrer Schwester gehörte. Sie lag schwer im Bett und schlief. Sie setzte sich auf den niedrigen Kinderstuhl. Das Zimmer erschien ihr so klein, alles war klein, das Bett, der Stuhl, der Tisch, der irgendwann rot gewesen war.
Die Jalousien waren geschlossen, nur das Nachtlicht in der Steckdose glomm, ein rosaroter Punkt. Im rosaroten Licht sah ihr Gesicht seltsam starr aus. Und wenn sie tot wäre, dachte Kathrin. Kathrin hatte es sich nie überlegt, aber was würde mit ihrem Leben passieren, wäre ihre Schwester nicht mehr da.
Einen Augenblick war es ganz ruhig in der Wohnung. Es war eine Stille von solcher Heftigkeit, das nichts mehr ging. Sie weckte ihre Schwester, berührte deren massige Schulter.
Du musst aufstehen, sagte Kathrin, zog die Jalousien hoch und das Licht brach herein. Kathrin schauderte. Du musst aufstehen, wiederholte sie. Die Schwester herrschte Kathrin an. Ihr Atem zwischen den Worten war nur noch ein Pfeifen. Sie roch herb und säuerlich. Ihre Wangen quollen unter den Knopfaugen rot hervor. Kathrin hatte Angst, sie nochmal zu berühren. Sofort öffnete sie das Fenster, um den Dunst im Zimmer loszuwerden.
Dann holte Kathrin tief Luft und ihr Mund verzog sich zu einem Schmerzlächeln. Sie griff nach dem Nachttopf, der neben dem Bett stand und den ihre Schwester benutzte, um ihn zu leeren und auszuwaschen. Kathrin konnte diesen Geruch schon immer sehen, sie roch ihn nicht nur. Er kroch unter der Kinderzimmertür hindurch und erfüllte nachts die ganze Wohnung, wanderte unter die Decke und schlief mit uns. Morgens war er als erster wach, und Kathrin rieb sich dabei die Nase.
Während Kathrin mit dem Löffel im Joghurt stocherte, kam ihre Schwester in die Küche und ließ ihr Gewicht auf den Stuhl fallen. Sie schnaufte schwer. Kathrin las die Tageszeitung, sprang von einem Artikel zum anderen. Renten vor der Kürzung! 37 Jähriger wegen Raubüberfall verurteilt! Defizitäres Verhalten von Menschen mit Übergewicht wissenschaftlich erforscht! Kathrin legte die Zeitung zurück auf den Tresen. Sie saß so da, als wäre sie leblos, ohne Orientierung. Und dann sah sie ihre Schwester, wie sie versuchte, das Rührei mit möglichst wenig Handgriffen in ihren Mund zu schieben. Dann dachte sie an ihre Mutter, dass sie recht damit gehabt hatte, dass nach dem Tod alles ihr gehören würde.
Aus der Stille wuchs ein Schluchzen und Kathrin versank in ihren Träumen, die sich aber immer weiter von ihr entfernten, je mehr sich ihr Leben an das ihrer Schwester kettete. Nie hatte sie alles haben wollen.
Ich kann heute einen Kuchen backen. Wir haben etwas Mehl, Milch und Hefe und noch Eier.
Kathrin spürte deutlich, dass lange zuvor schon etwas in ihr zerbrochen war.
Für heute Abend, zum Nachtisch, hörte Kathrin sie reden.
Dann fuhr Kathrin hoch. Sie lief in weitem Bogen um die Schwester herum und zog eine Jacke über.
Die Schwester verdrehte den Kopf, der zwischen ihren Schultern hockte. Wohin gehst du?
Da wo ich hingehe, kannst du sowieso nicht mitkommen.
Daraufhin schluchzte die Schwester. Sie weinte wieder. Aber Kathrin ließ sich nicht täuschen, stieg in ihre Schuhe und trat aus der Wohnung heraus wie aus einem Gefängnis, das sie verließ. Draußen auf dem Flur fühlte sie sich plötzlich wie auf Entzug, als löse sie sich von einer Abhängigkeit. Sie atmete.
Schließlich lief sie die letzten Stiegen auf die Dachterrasse. Etwas drehte sich in ihr. Die Höhe, dachte sie, die schwankte. Sie setzte einen Schritt vor den anderen, bis an den Rand, bevor die Sicht senkrecht hinunter auf die Straße stürzte. Als sie hoch in den kleinen Himmel blickte, der über ihr thronte, erschrak sie vor soviel Eleganz. Schöne, kalte Luft, dachte sie und an die Nächte im Hof, an die dunklen, ewigen Monate. Dann war es, als nehme sie die Luft durch ihre Haut auf, als löse sich alles auf, verschmelze alles miteinander zu einer dunklen Masse. Alles, die Straßen, Häuser, der Schnee, legten sich übereinander wie Schatten und wurden zu einer großen, formlosen Dunkelheit.
Und dann sah Kathrin das Licht, das sie lange nicht gesehen hatte. Wie ein feiner Vorhang zog es über den Horizont. Kathrin wartete, sah zu, wie der breite Schleier schmaler wurde: Plötzlich war es nur noch ein dünner Streifen, eine zuckende Linie, eine Schlange, die sich wild am Himmel wand. Kathrin dachte an das Hinabstürzen. Es war ruhig gewesen und jetzt war es auch still. Sie tröstete sich in diesen Ausweg hinein. Ihr Zögern. Ihre Angst. Das Abfallen von Schmerz und Last. Sie richtete sich auf und lauschte. Und plötzlich herrschte ein anderes Licht.
 



 
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