Der kleine Vogel

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„Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!“ flehte der kleine Vogel die Welt an. „Lasst mich leben!!! Bitte!!!! Lasst mich leben...“ So lag er da, mit gebrochenen Flügeln auf den kalten Asphalt des Weges und wand sich unter Schmerzen, klammerte sich an sein Leben wie ein blinder an seinen Stock. Kämpfte, versuchte alles, um sein Leben zu erhalten.
Es konnte doch nicht richtig sein, dass es zu Ende sein sollte. Das es wirklich, wirklich nun zu Ende war.
Doch der Welt schien es egal zu sein. Denn sie erhörte sein Flehen nicht. Und so verlor er mit jedem Tropfen seines Blutes ein wenig mehr Leben, ein wenig mehr seiner Zeit, die nun so schnell und rücksichtslos zu vergehen schien. Damals hatte er nie auf Zeit geachtet, als er droben in den Lüften, leicht wie eine Feder geflogen war. Damals, hatte er über alle gelacht, die von ihr sprachen, sie als Dummköpfe verlacht, die doch nur die ihre damit verschwenden würde, über so etwas nach zu denken. Das Leben wird voraus gelebt und das hinterher verstehen hatte er immer als unsinnig empfunden, denn das kostete doch auch nur wieder unnötige Zeit und Mühen. Zeit, die man mit anderen, schöneren Dingen füllen konnte.
Wie dem Gleitflug auf den Winden des Meeres, die einen spielerisch über Klippen und Wellen dahintrug, oder dem nachstellen der Weibchen, das Umgarnen und – wenn man es richtig anstellte- dem Genuss von zwanglosem Sex. Danach immer wieder der Aufbruch in neue Abenteuer, meist Scherben zurücklassend, aber das aufräumen hätte ja nur wieder Zeit gekostet. Unnötig, fand er damals.
Jetzt zerrann sie ihm in vielen kleinen Tropfen und er begann, vielleicht zu ersten Mal in seinem Leben, wirklich zu denken. Wie merkwürdig, dachte er in seinen kleinen Universum aus Schmerz und Angst. Das er jetzt, wo seine Zeit zu Ende gehen würde, mit etwas anzufangen schien, was er nicht konnte. Denken. Sein innerliches, selbstironisches Lächeln verschwand augenblicklich unter einer neuen Welle aus Schmerz.
Seine Zeit lief unaufhörlich davon...
Nun ja, aber was sollte er auch andererseits jetzt noch tun, als zu denken. Denn wer kann schon noch fliegen, mit zerbrochenen Flügeln, und was das Spiel mit den Weibchen anging...
Wieder versuchte er zu lächeln, das jedoch wie zuvor sofort in der rauschenden Brandung seiner Schmerzen erstarb. Zeit...
Zeit sich zu erinnern... Zeit noch einmal diese Perle des Lebens zu betrachten. Er konnte es nicht verhindern, aber sogleich kam in ihm bei dem Gedanken ein großes Bedauern auf, dass er sich diese Perle nie wirklich angeschaut hat, meist achtlos in Gedanken und Handeln an ihr vorbeigerannt war ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen...
Aber er hatte doch sein Leben so sehr ausgekostet, wie er es konnte. Oder...? Die leise Erkenntnis, der erste Zweifel erwuchs aus einem kurzen Schmerzwellental wie eine dunkle Rose, voller Dornen, die sich in nicht in sein Fleisch, sondern in sein Herz zu bohren schien. Oder...?
Er hatte doch versucht, zu leben... Er hatte doch alles dafür getan, um das Leben so sehr auszukosten, wie es nur möglich war...
Schmerzen durchzuckten ihn, und dieses Mal wurden sie begleitet durch eine stärker werdende zweite Welle aus Schwäche, die ihn Blut spucken ließ und flimmernde Funken auf seiner Netzhaut tanzen ließ – wie der leichte, unstete Tanz von Elfen im Sonnenlicht.
Er hatte es versucht...das hatte er immer gedacht. Und er hatte doch auch viele Freunde gehabt...obwohl...wo waren sie gewesen, in diesen seltenen Momenten, in denen er drohte, nachzudenken, in denen er alleine gewesen war. So wie jetzt. Und was hatten sie getan, wenn doch einmal da gewesen sind, als es ihm einmal schlecht ging? Er erinnerte sich, schwach, aber er erinnerte sich...
Sie hatten ihm gesagt, „das wird schon wieder“, ihn mitgezerrt auf die nächste Party, und alles, wirklich alles getan, damit ... sie sich nicht mit seinem Problemen beschäftigen müssten. Damit er mitspielte, in ihrem egoistischen Spiel. Sie nicht daran erinnerte, dass es mehr gab als nur den Spaß. Eine neue Schmerz und Schwächewelle durchzuckte seinen kleinen Körper, so als wollten sie das Wort „Spaß“ dick mit blutrotem Stift unterstreichen...
Sie kamen nun in immer kürzeren Abständen; der Tanz der Elfen wurde immer wilder und intensiver und der Schmerz nahm zu...bald wäre es zu Ende...
Noch ein paar Gedanken...er musste...wollte doch noch ein paar Gedanken finden, etwas, das im Trost böte, etwas das ihn selig sprach und sagte “es ist okay, es ist alles okay, so wie es ist“... doch er fand sie nicht. Doch er verstand es nicht...nichts...
„Es ist okay. Es ist alles okay...“
Überrascht stellt er fest, dass diese Stimme nicht von innerhalb seines zerbrechenden Universums aus Schmerz kam, sondern von außerhalb und auch nicht seine eigene Stimme war, sondern die eines weiblichen Vogels.
Er öffnete die blutunterlaufenden, schmerzverzerrten Augen und erkannte schemenhaft ein Gesicht. Ein bekanntes Gesicht, aus einer längst vergangnen Zeit...
„Wer...“er spuckte Blut. „Wer bist du?“ keuchte er flach, denn zum sprechen war er nicht mehr in der Lage. Seine Lungen schienen so zerrissen zu sein, wie sein Geist.
„Das ist doch jetzt egal,“ sagte die Stimme jenseits der Schmerzen. „Das ist doch egal. Alles ist okay. Es ist alles okay...“ flüsterte sie behutsam, wie eine liebende Mutter ihrem Kind zuflüstert. „ Es ist gut so...“
Obwohl er eigentlich laut hätte lachen sollen, bei diesen Worten, sarkastisch und bissig hätte werden sollen, wie er es immer gewesen war, konnte er es nicht. Hätte es selbst dann nicht gekonnt, wenn seine Lungen noch mehr Luft als Blut enthalten hätte. Seine Zunge nicht schlaff wie ein alter Bettvorleger in seinem Mund gelegen hätte. Denn irgendwie spürte er, durch all den Schmerz, durch all die Nebel aus flackernden Licht und der Dunkelheit seiner Angst... das es wirklich gut war. Es war wirklich gut...
Er blinzelte durch den immer intensiver werdenden Schleier aus Schmerz zu der Gestalt, die dort außerhalb seiner zerfallenden Welt im Leben stand. Und durch all denn körperlichen Schmerz, spürte er, wie sie ihn langsam und sanft berührte. Auch hätte es eigentlich unmöglich sein müssen.
„Wieso...?“ keuchte er in einem verzweifelten Versuch Worte nach außen zu bringen, in die Welt der Lebenden. „Wieso...ist e...es...gut?“ Starkes Flackern, getragen auf einer Welle aus Schmerz und Schwäche.
Einen kurzen, kostbaren Augenblick gewährte ihm der heranschleichende Tod einen klaren Blick auf ihre wunderschönen, gütigen Augen...und ein warmes, herzliches Lächeln, bevor er wieder zurückfiel, in das immer dunkler werdendende, flackernde Licht seiner versinkenden Welt.
„Du hast alles so getan, wie du es wolltest,“ flüsterte die Stimme, ganz nahe an seinem Ohr und doch so weit hinter der Wand, die sie trennte. „Du hast gelebt. Du hast alles so getan, wie du es für richtig gehalten hast. Mehr konntest du nicht tun. Kann niemand tun. Egal, was andere sagen, und egal, was du im Leben gefunden und verloren hast. Es war alles so gekommen wie für dich vorbestimmt war.“
„Ab...aber...wieso muss es so...en...end..?“ waren die letzten Worte, die er noch durch seinen Mund nach draußen bringen konnte. Dann überwältigten ihn Schmerz und die Übelkeit der Schwäche und er übergab sich hilflos in Blut und Schleim.
„Niemand weiß, warum ein Leben beginnt, wie es beginnt. Und warum es endet, wie es tut. Alles was ich dir sagen kann, ist das es gut so ist, wie es ist. Wir alle konnten nur deshalb leben, weil andere vor uns gestorben sind. Anfang und Ende sind untrennbar miteinander verbunden. Gräme dich nicht, denke nicht an verpasste Chancen, die du nicht verhindern konntest, da du es nicht besser gewusst hast. Es gab doch auch so viel Licht in deinem Leben, und jeder findet auf anderen Wegen sein Licht – und seine Dunkelheit. Aber letzten Endes ist es doch wunderschön gewesen, oder? Und bei denen, deren Leben der dunkelste Himmel erscheint, sind die Sterne am Himmel doch um so viel heller und klarer, als bei denen, die immer im Sonnenlicht tanzen. Du hast beides gekannt. Und das ist die unendliche Gerechtigkeit. Also gräme dich bitte nicht. Es war gut, es war immer gut, auch tat es manchmal noch so weh. Und jetzt schlafe ohne Reue und Schmerz...“
Die Stimme schien wie ein Komet aus seiner Welt in die Dunkelheit wegzuschwinden. Und er sah nichts mehr. Es wurde dunkel und still in ihm. Völlig still. Und er wusste, das alles gut war, gut so wie es gewesen ist und wie es jetzt war. Es hätte noch gerne „Danke“ gesagt oder irgendetwas in der Art. Doch er hatte keine Stimme mehr. Er sah kein Licht mehr und spürte keine Schmerzen mehr, keine Angst. Es war gut so. Ja, es war wirklich gut so...
Sein Herz lächelte sein letztes, inneres Lächeln, und er ließ los...
 



 
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