Der lange Weg zurück

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Eve

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Der lange Weg zurück

Noch ein paar Meter bis zur Tür. Jeder Schritt verringerte die Entfernung, ließ die Abstände der Wände in der kühlen Halle enger werden und die dick lackierte Flügeltür mit den hohen Griffen näher rücken. Ein denkwürdiger Moment hatte es sein sollen, wenn diese Tür sich zum letzten Mal hinter ihr schließen würde. Aber jetzt, da dieser Moment endlich da war, spürte sie nur ein Ziehen in der rechten Schulter vom Gewicht ihres Koffers, der schwer an ihrem Arm lastete. Links trug sie zwei dieser Öko-Einkaufstaschen, deren Henkel tiefe Striemen in die Haut über dem Handgelenk schnitten.

Da war sie also, die Tür, die viele von ihnen jeden Tag mit sehnsüchtigem Blick beobachteten. Manche waren froh, dass diese Tür geschlossen war, dass sie Schutz in einem bekannten Raum bot und deutlich ihre besondere Welt abgrenzte. Manchen genügte der Blick durch die Gardinen behangenen Fenster hinaus auf die Straße oder in den Hinterhof.

Ohne nach rechts oder links zu schauen, lief Mirja unbeirrt auf die Tür zu. Vier Monate, eine Woche und die ersten neun Stunden dieses Tages - in dieser Zeit hatte sich jede Farbnase an der hohen, elfenbeinfarbenen Tür in ihr Gedächtnis gebrannt.

"Sie dürfen das Gebäude nicht verlassen - erst wenn Sie ein Mindestgewicht von 52 kg erreicht haben, erhalten Sie alle zwei Tage zwei Stunden Ausgang ... in Begleitung."
Forschende Augen, die in sie hineinschauen wollten, aber Mirja hatte der neugierigen Schwester sofort klar gemacht, dass niemand so einfach in sie hineinschauen durfte, das wäre ja noch schöner!
"Ist mir egal."
Und es war ihr auch egal gewesen. Sie hätte gar keine Zeit gehabt, überhaupt auch nur an die Tür zu denken, zwischen all den selbstmitleidigen Heulattacken, den scheinbar 24 Stunden dauernden Krämpfen und der Angst.
"Nehmen Sie Kontakt mit anderen auf, tauschen Sie sich aus – das wird Ihnen helfen."
Mirja hatte die Worte der Schwester einfach ausgeblendet. Was wusste die schon? Dieser Trakt des Klinikums lag etwas zurückgesetzt von der Straße, grenzte an einen schmalen Streifen Wiese, der in einen kleinen Park mündete. Geharkte Kieswege und grün gestrichene Sitzbänke, auf denen man sich vom Spaziergang ausruhen konnte. Nicht für sie. Aber sie hätte sowieso keinen Gebrauch von diesem Park gemacht.

Mittwochs und sonntags war Besuchszeit; Mirja saß eingewickelt in eine dicke Decke auf ihrem Bett, weit hinten an die Wand gelehnt, die Knie angezogen. Und dennoch fühlte sie sich nackt unter den Fragen der Mutter, die wohl froh war, dass es hier keine Türen zum Zuschlagen gab, kein Weglaufen, kein Ignorieren. Sie wollte reden, Mirja nicht.
"Wie ist das hier? ... Kannst du essen? Und kannst du es auch behalten?"
Der Vater sagte selten etwas, er blickte sich um, verfolgte die verstreichende Zeit peinlich genau auf seiner Uhr und blieb still.
"Und was ist mit den Drogen, hier gibt es doch sicherlich nichts, oder? Aber natürlich nicht, es wird dir nur gut tun, wenn du auch auf Alkohol verzichtest ..."
Wie an jedem Sonntag verloren sich die Fragen der Mutter irgendwann zwischen den Büchern in dem Regal über ihrem Bett, verfingen sich zwischen den Ecken und verklangen, ohne beantwortet zu werden. Mirja fühlte sich wund und klein - nur weil sie hier sein musste, nahmen sich alle das Recht heraus, sie ständig nach ihren Empfindungen und Gedanken zu fragen. Es war, als rissen ihr alle ständig die Kleider vom Leib, die sie mühsam übergestreift hatte. Kein Wunder, dass sie sich so fest in ihre Decke wickeln musste und die Wärmflasche das einzige war, an dem sie sich festhielt.

Jetzt stand sie vor der Tür, hinter der das normale Leben statt fand. Aber was war schon normal? SIE wusste es ganz sicher nicht. Vor einem halben Jahr war es normal gewesen, drei Tage durchzufeiern, an immer häufigeren Abenden mehr als zwei Gramm Koks wegzumachen, war es normal gewesen, sich am Tag zehnmal über der Toilette den Finger in den Hals zu stecken. Es war normal gewesen, verzweifelt zu weinen und keinen Halt zu finden – außer wenn sie "es" tat. Was also sollte jetzt normal sein?

Mirja stellte den Koffer ab, um eine Hand für den Türgriff freizuhaben. Aus dem Badezimmer am Ende des Flures drangen heftige Würgegeräusche. Mirja wusste, wer sich im Bad aufhielt – und sie fühlte sich gestört.

Eine Armlänge vor ihr glänzte der abgenutzte Türgriff, er wurde immer größer und größer. Wenn sie jetzt nicht zupackte, würde sie es nicht schaffen, die Tür zu öffnen. Dabei war es nur eine Tür - die Tür, die irgendwann Mittelpunkt ihres Denkens geworden war. Als ob sich etwas wegen einer Tür ändern könnte!

Bei ihrem ersten genehmigten Ausflug in Begleitung ihrer Mutter war sie zusammengebrochen. Mirja erinnerte sich nicht gern an diesen Tag, aber jetzt drängte alles Erlebte in ihr zusammen, schwappte vor ihrem inneren Auge hoch und drohte sie zu überspülen. Ein Taxi hatte sie einen Kilometer von der Klinik entfernt abgeholt, und sie musste am Arm ihrer Mutter zurück auf ihr Zimmer gebracht werden.

Aber das war vorbei. Sie hatte seit mehr als vier Monaten regelmäßig essen müssen, keine Drogen mehr angerührt, weder Bier noch Wein getrunken, sie fühlte sich sicher auf ihren zwei Beinen. 56 kg stand in ihren Entlassungspapieren – und mit einem ermahnenden Zeigefinger hatte man ihr mit auf den Weg gegeben, dass daraus mindestens noch drei mehr werden sollten.

Mirja feixte. Stolz dachte sie an die beiden Lötdrahtspulen in ihrem Koffer – beide zusammen wogen knapp 3,4 kg. Zusammen mit den 1,5 l Wasser, die sie vor jedem Wiegen in sich hineingeschüttet hatte, hatte sie das Programm um knapp 5 kg beschwindelt. Die beiden Spulen hatte sie heimlich mit einem breiten Gürtel unter der Pyjamahose um ihren Bauch gewickelt. Wenn sie den Bauch einzog und sich nur vorsichtig bewegte, hielt diese Konstruktion sogar dem Weg über den Gang ins Wiegezimmer stand.

Kalt lag der Türgriff in ihrer Hand, als sie mühsam an der schweren Tür zog. Licht quoll von draußen herein, blendete sie für einen Moment. Es war niemand da, um sie abzuholen, absichtlich hatte sie ihrer Mutter die falsche Uhrzeit genannt.

Mirja bückte sich nach ihrem Koffer, nur weg hier. Die Stufen hinunter ging alles glatt, aber als sie durch die breite Einfahrt auf die Straße hinaus treten musste, wurde ihr die Kehle eng. Sie schluckte trocken und spürte, wie heiße Röte in ihr Gesicht schoss. Wie sollte sie all den Leuten begegnen? Und sie meinte damit nicht nur die Passanten, die eilig auf dem Gehsteig vorbei hasteten. Wie sollte sie ihren Freunden begegnen? Sie fühlte sich wieder wund, wie aufgescheuert – als ob ihr jeglicher Schutz genommen worden wäre und sie als Galionsfigur in stürmischer Nacht vor den Bug eines Schiffes gekettet war. In ihrer Vorstellung war dieser Tag einfach gewesen – jetzt schien er schwerer zu sein, als der, an dem sich damals die lackierte Flügeltür hinter ihr geschlossen hatte.

Was sollte sie mit diesem Tag anfangen? Auf einmal schien unendlich viel freie Zeit vor ihr zu liegen, die sie nicht zu nutzen wusste. Sollte sie sich ein Hobby suchen? Auf jeden Fall brauchte sie ihren Job wieder! An der Bushaltestelle lehnte sie die beiden Jute-Taschen an den Koffer, rieb sich die schmerzenden Handgelenke und wartete auf den Bus nach Bensheim. Es tat gut, ein Ziel zu haben.

Im Haus ihrer Eltern war niemand anzutreffen, was ihr nur recht war. Sie legte einen Zettel auf den Küchentisch, dass sie schon früher entlassen worden wäre und am Abend wieder da sei. Dann fuhr sie in das Kaffeehaus, in dem sie vor ihrer Auszeit gearbeitet hatte.

Die Biergarten-Hochsaison stand kurz bevor, und sie bekam nur allzu gerne ihre alten Schichten zurück. Auch das kein Problem. Sie versuchte, dort anzuknüpfen, wo sie vor vier Monaten aufgehört hatte. Unsicherheit brannte in ihrem Magen, aber sie bekämpfte sie mit blindem Durchhalten. Das Anknüpfen in ihrer Vorstellung war einfach gewesen, tatsächlich aber erschien ihr die Welt auf einmal viel schneller. Schneller, als sie mithalten konnte. Als sei sie immer einen Schritt zu spät, könnte die Dinge nur noch verzerrt im Vorbeifliegen auffangen. "Das geht vorbei", sagte sie sich, "nur durchhalten!" Sie dachte an die Tür, durch die sie vor ein paar Tagen erst gegangen war und die ihr nun wie ein Teil eines anderen Lebens erschien. Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass es so sein würde. Sie fühlte sich wie im Marihuana-Nebel, nur nicht so scheißegal-entspannt. "Bau dir einen normalen Alltag, schaff dir deine Rituale ..." wie ein Mantra wiederholte sie den Ratschlag der einen Schwester, die sie eigentlich ganz nett gefunden hatte, später dann.

An ihrem dritten Arbeitstag tauchten die alten Freunde auf. Sabine war die erste, sie kam direkt an die Bar und lachte sie an.
"Hey, da bist du ja wieder, schön!"
"Ja ... da bin ich wieder ..."
Mirja war unsicher, sie hatte Angst, aber sie freute sich auch. Sabine machte es ihr so einfach, alles war, wie es eben war.
"Du hast dich überhaupt nicht verändert ... muss `ne coole Kur gewesen sein!"
Sie hatte den anderen nie genau erklärt, warum sie überhaupt weg musste. Hatte sie sich denn nicht verändert? War sie noch die gleiche?

Mirja räumte benutzte Gläser in die Spülmaschine, brachte Getränke an die Tische, gab Essens-Bestellungen in die Küche - war sie noch die gleiche? Sie fühlte sich immer noch wund, jeden Tag aufs Neue, und sie war empfindlich geworden, hörte versteckte Andeutungen hinter den Worten derer, die sie ansprachen. War sie noch dieselbe? So klein hatte sie sich früher nie gefühlt. Alles Bekannte schien sich verändert zu haben, nur äußerlich wirkte alles noch gleich. Sie kannte sich selbst nicht mehr aus, zwang sich beharrlich zu jedem Schritt, lächelte, während ihre Augen brannten.

"Kommst du nachher noch mit auf einen Zug durch die Gemeinde?"
Sabines Frage schwebte in der Luft wie eine Hand, die ihr den Weg nach Hause weisen konnte. War sie noch dieselbe? Es wäre so einfach, zuzugreifen. Sich fallen lassen. Es wäre ja auch nur ein Abend, ein bisschen tanzen, nicht allein sein ... und sie bräuchte ja nichts zu nehmen ...

"Ja, ich komme mit."
Die elfenbeinfarbene Flügeltür fiel ins Schloss.



Eve
 



 
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