Der leere Autor

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Der Autor saß vor seinem Blatt, den Stift in der Hand und sah nichts. Er fühlte, hörte, dachte nichts. Er war völlig leer, hohl. Kein Wort, kein Satz forderte ihn zum Spielen auf. Kein Buchstabe schmiegte sich an einen anderen um sich mit ihm zum Wort zu vereinen.
Der Autor ließ den Kuli von einer zur anderen Hand gleiten, drehte ihn, steckte ihn sich in den Mund, kaute am Plastikdruckknopf. Er wartete, doch nichts geschah. Er schloss die Augen, versuchte sich von seiner Umgebung inspirieren zu lassen, doch keine Farben, Figuren oder Klänge entführten ihn, luden ihn zu einer schillernden Erlebnisrundfahrt ein.
Es war nicht das erste Mal, dass er so da saß. Nicht zum ersten Mal krallte er die Finger um den Stift und flehte das Blatt an, sich schwarz beschrieben zu lassen. Nicht zum ersten Mal beschlich in eine unheimliche Starre und Anspannung. "Was ist?" sprach er laut mit gereizter Stimme. "Los! Wörter, wo bleibt ihr?" Seine Ungeduld und Unzufriedenheit wuchs mit jeder Minute die er vor dem leeren Blatt saß, ohne auch nur einen Buchstaben zu schreiben. Gerade hatte er doch so viele Ideen gehabt, so viele Situationen, Träume und Ängste in Geschichten verpackt, vor sich abspulen sehen. Noch vor wenigen Minuten war er um die Welt gesegelt, hatte eine Reise zum Ich gemacht und den Helden neben sich gesehen. Da hatte er das Heiß und Kalt, den Schmerz und die Wohltat, die Gier und Furcht, die Liebe und Einigung, das Alles und Nichts durchlebt, gespürt, erfahren. Er hatte seine Gefühle nicht beschreiben können, wusste nicht, wie er es bewältigen sollte. Noch vor wenigen Minuten öffnete sich die Welt vor ihm...
Schnell hatte er sich ein Blatt und einen Stift gesucht, wollte schreiben, formte bereits die ersten Sätze, und dann? Als er mit der besagten Ausrüstung ausgestattet war, fand er sich vor einer großen Leere vor. Alles war im entfallen, keines der gerade erfahrenen Emotionen kam mehr hoch.

Er hatte ja auch schon über alles geschrieben. Er hatte über das Leben und den Tod, über Menschen und Tiere, Freunde und Feinde geschrieben. Wirkliches und Phantastisches, Sterben und Auferstehen, Alles und Nichts, Angst und Mut, Bewegung und Stillstand, Zeit und Ewigkeit – alles hatte er beschrieben, bebildert, auf seine Weise erschaffen.
Was ist ein Schreiber, dem die Worte fehlen? Der Held oder der Besiegte?
Was sollte denn jetzt noch kommen? Was sollte ihm noch erfahren? Was sollte er mit sich anfangen? Seine Aufgabe als Dichter schien ihm erfüllt. Er hatte schließlich über alles geschrieben, und seine Werke hatten einen beachtlichen Gesamtumfang erreicht.
Dennoch fühlte er jene besagte Leere, ein hohler Körper, der in ihm wuchs, sich in seinem Fleisch und Blut einnistete. Er fühlte sich verloren, hilflos. Sein Reich, seine besten Freunde, die Worte, hatten ihn verlassen. Sein Kabel zur Welt, zu sich selbst, war durchtrennt worden. Nun stand er vor einem Problem. Da er geistig und körperlich fit war, gerade erst geheiratet hatte und noch sich noch viele Lebensjahre erhoffte, konnte er sich auch nicht hinlegen, mit der Ruhe, im Leben genug geschrieben zu haben. Gewiss hatte er viel geschrieben, aber nicht genug. Der Autor wusste, dass das Sternenmeer an Themen, die sich zum Schreiben boten, reich, unendlich war. Und er wusste, dass er noch viele Sterne, Themen noch nicht in Erfahrung gebracht hatte.
Vielleicht, dachte er, werde ich betrogen. Möglicherweise spielten die Worte ein böses Spiel mit ihm, versteckten sich vor ihm und wollten nicht entdeckt werden. Vielleicht gefiel ihnen die Eigenschaften, die der Autor ihnen bisher zugeordnet hatte, nicht. Möglicherweise, fuhr es dem Schreiber durch den Kopf, rächten sich die Buchstaben nun an ihm. Gut, ihr wollt einen Kampf?, dachte er listig. Also kämpfen wir!
Er setzte sich an seinen Computer und begann wirr und blind auf den Tasten zu tippen. Nachdem er eine Seite mit Schriftzeichen, welche wild aneinander gereiht waren, übersäht hatte, lehnte er sich zurück und betrachtete das Blatt. Er beobachtete, wie die Zeichen zu fliehen versuchten. Wie sie sich bekämpften, wie sich ein großes "I" zwischen zwei Klammern drängte, zu einem Schmetterling formte und vom Bildschirm flog. Er sah, wie ein "T" in die Falle eines großen "U's" tappte – ob er das "T" retten wollte? Er könnte es zumindest. Aber wieso sollte er? Schließlich hatte es ihm auch nicht geholfen! Zufrieden nahm er das "T" und platzierte es vor einem "a", auf welches ein "t" folgte. Er gab jedem Buchstaben einen rechten und linken Nachbarn, mit dem er sich verstünde.

Der Schreiber lernte, mit den Buchstaben zu experimentieren. Er tippte noch viele unverständliche Seiten, denn so wurde er sich bewusst, dass nicht er der Schöpfer der Wörter war, sondern nur der, der manchmal den Schlüssel zu ihren Geheimnissen hatte.
 

gox

Mitglied
Hallo Tochter des Ozeans,

schöne Geschichte!
Aber ich weiss nicht, ob sie Menschen mit Schreibhemmung so sehr glücklich machen wird. Wenigstens vermittelst Du zum Ende hin ein Quäntchen Hoffnung für den, dem sich die Buchstabensuppe hartnäckig verweigern will ;-)

Viele Grüsse vom gox
 



 
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