Der letzte Band

Raniero

Textablader
Der letzte Band

Der Tag X rückte näher und näher, doch für eine unruhige Leserschaft verging die Zeit bis dahin bei weitem nicht schnell genug.
Seit Monaten wartete eine große Anzahl von Menschen in diesem Lande auf die Neuerscheinung des Buches wie eine Religionsgemeinschaft auf den Erlöser.
Mit großem Werbeaufwand war er angekündigt worden, dieser letzte Band einer Reihe von Phantasieromanen, die an Verkaufszahlen alles, was in den vergangenen Jahrzehnten über die Büchertische gegangen war, weit hinter sich gelassen hatte.
Und der Werbeaufwand zeigte eine enorme Wirkung; nie zuvor waren bereits Monate vor Erscheinen des literarischen Wunderwerkes eine solche Anzahl an Vormerkungen zu verzeichnen gewesen, Vorbestellungen in Millionenhöhe für ein Buch, dessen Inhalt außer der Autorin und einigen Lektoren des Verlages niemand anderem auf dem gesamten Erdenrund bekannt war.
Ob es an den Verfilmungen der vorangegangenen Bücher lag oder am unaufhaltsamen Spannungsaufbau der einzelnen Fortsetzungen, niemand vermochte genau zu sagen, woran dieses ungeheure Interesse an dem neuen Band herrührte, Fakt jedoch war, dass über eine Millionen von Büchern bereits verkauft waren, ehe sie überhaupt die Ladentheke überquert hatten.
Für den Termin des Erscheinens des letzten Bandes hatte der Verlag natürlich, wie bereits bei den anderen Bänden, ein Spektakel erster Güte geplant.
Pünktlich um zwölf Uhr Nachts sollten die Buchhändler, vor dessen Läden eine riesige Zahl von Fans seit Tagen geduldig Schlange stand, die neuen Exemplare verteilen, wie warme Semmeln zum Frühstück.


Endlich war es soweit, der große Tag respektive die Nacht stand unmittelbar bevor und genau zum mitternächtlichen Glockenschlag strömten Abertausende über die Schwellen der Buchläden im gesamten Land, und die Kassen begannen wie nie zuvor zu klingeln.
Wie groß aber war das Erstaunen, wenn nicht gar Entsetzen, als die Käufer feststellten, nachdem sie voller Ungeduld die Folie des Buches entfernt und einen ersten Blick in das so lang ersehnte Exemplar geworfen hatten, dass sich zwischen dem Cover und der Rückseite kein weiteres gedrucktes Wort mehr in dem gesamten Band befand, nicht einmal ein einziger Buchstabe, sondern nur leere Seiten.
Während die ersten Leser noch im Laden ihrer Empörung lautstark Luft machten, beschlich andere ein ungutes Gefühl.
Was hatte das zu bedeuten?
Stand der geistige Untergang des Landes bevor?
Schon verlangten viele Käufer unisono, auf der Stelle die jeweiligen Geschäftsführer zu sprechen, als sie sich zu ihrem Erstaunen elegant gekleideten Herren gegenübersahen, die sich als Anwälte des Verlags vorstellten.
Was soll das nun wieder, fragte man sich empört?
Man wollte sich doch nur darüber beschweren, dass man als Gegenwert für gutes Geld nur ein Buch mit leeren Seiten erworben hatte, wozu brauchte man da Anwälte?
Schnell aber wurden die lautesten Schreihälse und mit ihnen auch die anderen Kunden in allen Buchläden über die Rechtslage aufgeklärt.
Man hatte zwar ein Buch erworben, so hieß es, aber damit noch lange nicht ein Recht darüber, was und wie viel an Gedrucktem in diesem Buch stehe.
Diese einvernehmliche Aussage der Anwälte sorgte allerdings nicht für Ruhe in den Buchläden, sondern steigerte die vorhandene Empörung in namenlose Wut.
Tumultartige Szenen bahnten sich an, als plötzlich allüberall in den Buchgeschäften Totenstille einsetzte
Keine Geringere als die berühmte Autorin selbst sprach über großflächige Bildschirme zu ihrer Fangemeinde:

„Liebe Leserinnen und Leser,
Sie werden sich ein wenig wundern, über Inhalt und Ausstattung des letzten Bandes meiner Phantasieromane, aber dafür gibt es eine ganz simple Erklärung.
Ich habe einfach die Schnauze voll vom Schreiben, mir fällt nichts mehr ein.
Das aber sollte für Sie alle da draußen kein Ärgernis darstellen, im Gegenteil.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Vollenden Sie doch selbst meine Romanreihe, schreiben Sie selbst den letzten Band, genug leere Seiten haben Sie ja!
Ich wünsche Ihnen alles Gute, und nochmals, schreiben Sie los, ich zähl’ auf Sie!“

Nach ein paar Sekunden ungläubigen Staunens geschah etwas völlig Unerwartetes; tosender Jubel setzte ein, in allen Buchläden im Land der Dichter und Denker und spontan machte sich eine erste Gruppe von Lesern auf der Stelle daran, mit der Niederschrift des letzten Bandes zu beginnen.
Eine zweite Gruppe jedoch klemmte sich das Buch mit den leeren Seiten unter den Arm und machte sich auf den Weg nach Hause oder sonst wohin, um es dort zu anderen Zwecken zu benutzen.

Was die restlichen Käufer damit taten, ist bis heute ungeklärt.
 



 
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