Der letzte Schritt

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Paragon

Mitglied
Ich bin froh, dass die Schmerzen heute erträglich sind und doch fällt mir jeder Schluck schwer. Nur langsam leere ich das Glas mit der milchig trüben Flüssigkeit.

Gustav nimmt es mir aus der Hand und stellt es auf den kleinen Tisch. »Schlaf gut mein Engelchen«, sagt er liebevoll und legt seine Hände auf meine. Wie oft hat er in den letzten dreißig Jahren meine Hände gehalten, wie oft, hat er sie geküsst? Wie oft mich gestreichelt? Kann man nach dreißig Jahren immer noch verliebt sein?

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in dem kleinen Kaffee am Kurfürstendamm sitzt, mit einem Blumenstrauß, vor einer Tasse Kaffee. Ich war 22 und ein paar Minuten zu spät zu unserem ersten Treffen gekommen, so wie es sich gehört. Wir haben erzählt, gescherzt und gelacht. Die Zeit verflog und als wir uns trennten, war ich bis über beide Ohren verliebt. Zum Abschied hat er mich sanft auf die Wange geküsst und gesagt: »Wenn ich jemals heiraten sollte, dann wirst das du sein!«, hat sich umgedreht und ist gegangen. Auf Wolken schwebte ich nach Hause. Es begann ein heißer Sommer voller sehnsuchtsvollen Treffen und wilder Leidenschaft, wir haben uns gesehen so oft es ging. Ein Jahr später, haben wir geheiratet und ich war mit Paulchen schwanger.

Ich habe mich entschlossen zu sterben, mich nicht mehr den Ärzten und den Medikamenten auszuliefern. Vor allem nicht mehr dieser trügerischen Hoffnung, die sie einem nach der schrecklichen Diagnose machen. »Das wird schon, für die Krankheit haben wir durchaus positive Prognosen.... Ja es müssen einige Maßnahmen ergriffen werden, die die Lebensqualität etwas beeinträchtigen... Es tut uns sehr leid aber die Medikamente wirken bei Ihnen nicht... in anderen Fällen... muss ihnen leider sagen sie sind aus therapiert, das heißt...« verdammt noch mal, ich weiß, was das heißt, dahinsiechen und unter Schmerzen auf den Tod warten, oder Medikamente schlucken gegen die Schmerzen und fast nichts mehr mitbekommen.

Nach Paulchen kam noch Maria und Johannes, alles prächtige Kinder, alle haben studiert, aus allen ist was geworden, wie man so sagt. Gustav trug mich auf Händen, wir haben unser Leben in vollen Zügen genossen. Ein wunderschönes Haus, herrliche Reisen, Gustav hatte einen guten Job als Vertriebsleiter einer Versicherung, wir hatten genügend Geld für uns und unsere Wünsche. Ein perfektes Leben!

Man sagt, die Hoffnung stirbt zuletzt, ich weiß jetzt, dass das nicht stimmt. Meine Hoffnung ist vor Monaten gestorben, sie war weg, als ich das Wort aus therapiert gehört habe. Ich habe Angst vor dem Tod wie jeder Mensch. Erst der unausweichliche Tod macht das Leben so unendlich wertvoll. Der Weg in den Tod, die Schmerzen, das Ausgeliefert sein, das Dahinsiechen, davor hatte ich Panik und habe sie noch. Eines Tages habe ich Gustav davon erzählt. Er hat ruhig zugehört, mich geküsst und gestreichelt.
Wenige Tage später hat er mich gefragt: »Was hältst du eigentlich von der Schweiz?« Ich hab ihn verständnislos angesehen, und er hat mir von der Möglichkeit der Sterbehilfe in der Schweiz erzählt. Das ist erst zwanzig Tage her und nun liege ich hier in diesem Zimmer und warte auf den Tod.

Die Kinder gingen nach und nach aus dem Haus. Wir reisten noch mehr. Big Five Safari in Afrika, Strandurlaub in Thailand, Bildungsreise nach Australien, einfach herrlich. Und dann die Diagnose. Wie eine Rechnung. Für alles Schöne und Gute im Leben muss man bezahlen. Gustav hat es mehr getroffen als mich, erst dachte ich, er überwindet es nicht. Oft hab ich ihn weinen sehen, wenn er glaubte, alleine zu sein. Das hat mir fast das Herz gebrochen.

Diese verfluchte Krankheit hat mich ausgelaugt, hat mir das Leben Stück für Stück entrissen. Zwanzig Jahre oder mehr wären mir noch geblieben, ohne diese vernichtende Diagnose. Zwanzig Jahre an Gustavs Seite, welch ein schöner Traum. Jetzt bleiben mir nur noch wenige Minuten, bis ich den letzten Atemzug mache.

Sterben soll ganz einfach sein, hat Gustav mir erzählt. »Es ist wie einschlafen, man sagt, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes, du bekommst es gar nicht mit!« Mag sein, dass er recht hat, aber selbst wenn es wie einschlafen ist, weiß ich diesmal, dass ich nie mehr aufwachen werde.

»Hast du Schmerzen mein Engel?«, fragt Gustav. Ich schüttle nur leicht den Kopf, das Sprechen fällt mir schwer. »Das ist gut mein Engelchen, das ist gut!«
Er streichelt meine Wange. Ich liebe seine Berührung.

Dann, von einem Tag auf den andern, kehrte Gustavs Lebensfreude zurück, ich verstand nicht warum, wichtig war nur, dass er das Leben wieder zu lieben schien. Wir gingen wieder auf Reisen, nicht mehr so abenteuerlich und anstrengend wie früher, sondern mehr luxuriös und gemütlich, wir machten einige Kreuzfahrten zwischen meinen Behandlungszyklen. Gustav hatte unser Haus mit einer neuen Hypothek belastet um Geld in die Tasche zu bekommen, damit er uns die Reisen ermöglichte. Wenn ich tot bin, wird er bis ans sein Lebensende die Schulden abstottern müssen.

»Du musst keine Angst haben, ich bin bei dir!« Gustav steht auf. Ich folge ihm mit den Augen. Er holt eine kleine Flasche aus seiner Anzugtasche hervor und gießt den Inhalt in das Glas, aus dem ich vor ein paar Minuten meinen tödlichen Cocktail getrunken habe. »Meinst du es war zu wenig?«, flüstere ich mühsam. Er schüttelte mit dem Kopf und lächelt mich an, »Liebes, wir haben immer zusammen Cocktails getrunken. Weißt du noch vor einem Jahr unsere letzte Kreuzfahrt in die Karibik? Jeden Abend haben wir einen leckeren Pinacolada getrunken mit Schirmchen drauf, ein Strohhalm und eine Ananasscheibe.«

Immer schwerer fällt es mir die Augen offen zu halten, manchmal fallen sie zu, mühsam öffne ich sie wieder. Gustav sitzt an meinem Bett und trinkt die Pinacolada ohne Schirmchen, ohne Strohhalm und ohne Ananasscheibe. Ich sehe zu, wie er das Glas in kleinen Schlucken leert und dann auf den Tisch stellt. Die milchigen Reste laufen innen an der Glaswand nach unten und sammeln sich am Boden.

Gustav lächelt mich an, ich habe sein Lächeln so sehr geliebt - nein ich liebe es, ich liebe ihn. Ich spüre die Wärme seiner Hand, er hat immer so wunderbar warme Hände. Jetzt erst merke ich, dass er neben mir in dem Doppelbett liegt, Wange an Wange, unzählige Male sind wir so eingeschlafen.

Ich höre Meeresrauschen und ich sehe einen hohen blauen Himmel, über einer türkisfarbenen See. Ein Delphin taucht aus der Tiefe auf und springt spielerisch die über die Gischt der flachen Wellen.

»Mein Engelchen, ich werde dich nie alleine lassen!.«, zwitschert der Delphin mit Gustavs Stimme. Zusammen mit der leichten Meeresbrise, dem rauschen der Wellen vermischt sich alles zu einer wunderschönen Melodie.

Ich kann meine Augen nicht mehr öffnen.

Das Letzte, das ich spüre, ist Gustavs leichter Atem, wie er sanft über meinen Hals streicht.
 

Wipfel

Mitglied
Hi Paragon,

das ist stark! Klar, soetwas will keiner lesen. Der Tod gehört zum Leben. Ohne das Leben gäbe es ihn nicht. Und doch wird er aus dem Alltag gestrichen.

Du schreibst über eine Leerstelle unserer Gesellschaft aus der Perspektive des/der Betroffenen. Das ist die Aufgabe von Literatur.

Handwerklich gibt es aus meiner Sicht nix zu meckern.

Grüße von wipfel
 

Vagant

Mitglied
hallo paragon, hallo wipfel,
warum sollte gerade das keiner lesen wollen? fast jeder kennt jemanden, entweder aus dem freundeskreis, der nachbarschaft, oder der familie, der mit einer krebsdiagnose konfrontiert war/ ist / sein wird, und dem langwierige behandlungen bevor stehen. und manchmal sind die bemühungen aussichtslos. ich denke, genau das sind die texte die der leser lesen will.
über die stilistik, den formalen aufbau und das eine oder andere wort ließe sich sicher streiten, aber alles in allen hat mir dieser text gefallen.
lg vagant.
 
U

USch

Gast
Hallo paragon,
ich bin auch der Meinung, dass solche Themen in die Literatur gehören und kenne solche aussichtslosen Fälle in meinem Umfeld. Klar, viele Menschen verdrängen diese Probleme lieber. Ist ja in Ordnung, wenn´s zu sehr belastet und keiner ist gezwungen, solche Texte zu lesen. Aber Realitäten kann man letztendlich nicht ausweichen.
LG USch
 



 
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