Der letzte Schultag

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Artsneurosia

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„Und, wann kommst du zurück?“
Petra legte die Stirn in Falten und antwortet:
„Ich weiß es nicht genau. Es schellt um elf. Dann bringen wir die externen Schüler zu den Taxen und haben anschließend noch eine Stunde Zeit, um unsere Klassenräume aufzuräumen und das Lehrerzimmer einigermaßen in Schuss zu bringen. Um zwölf haben wir die Jahresabschlusskonferenz und um halb zwei beginnt die Weihnachtsfeier mit allen Mitarbeitern der Einrichtung. Claudia meinte, dass es da erst ein gemeinsames Essen gibt und dann ein paar Reden gehalten werden, um den Mitarbeitern weißzumachen, wie erfolgreich und gelungen die pädagogische Arbeit doch war, die sie im vergangenen Jahr geleistet haben. Dann gibt’s Kaffee, dann werden die Wichtelgeschenke verteilt und dann beginnt der sogenannte gemütliche Teil des Tages, der sich besonders für viele Lehrerkollegen bis in den späten Abend hinein ziehen wird.“
Stefan sah sie direkt an. „Es wird also später?“
Petra zuckte mit den Schultern.
„Muss nicht. Ich habe eigentlich nicht vor, dort so lange zu bleiben. Und Alkohol kann ich ja auch nicht trinken. Ich habe keine Möglichkeit, nachher von jemandem mitgenommen zu werden. Fährt keiner so weit in meine Richtung.“
Stefan stand auf und begann damit, den Esstisch abzuräumen.
Als er dann in der Küche war, rief er: „Aber wäre es nicht sinnvoll, bei der Feier etwas länger zu bleiben? Würde dir vielleicht mal ganz gut tun.“
Und wieder im Esszimmer: „Du sagst doch immer, dass du bis jetzt kaum Kontakt zu deinen Kollegen hattest. Ich glaube, dass so eine Weihnachtsfeier ein ganz guter Anlass sein könnte, sich etwas besser ins Kollegium einzufügen.“ Petras Augen funkelten.
„Ich habe mich eingefügt, verdammt noch mal. Ich bin halt nur noch nicht per Du mit allen. Und das muss auch gar nicht sein.“
Stefan trat auf sie zu und streichelte ihr mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Er merkte, wie gereizt und wütend sie plötzlich war. Es war dieselbe Stimmung, die sie in der letzten Zeit immer wieder überfiel, wenn sie auf ihren Job in der Schule angesprochen wurde. Es war dieselbe Stimmung, die ihre Beziehung seit einigen Monaten belastete.
„Das war doch jetzt nicht böse gemeint. Ich dachte nur, dass es dir in der momentanen Situation vielleicht helfen könnte, wenn du deine Kollegen besser kennen lernen würdest.“
Petra stieß ihn mit einer forschen Handbewegung von sich fort.
„Momentane Situation? Schön ausgedrückt. Nenn es doch, wie es ist: es ist eine Scheißsituation! Doch das liegt an diesen kranken, beknackten Schülern, nicht an meinen Kollegen. Die können nichts dafür. Ich bin es, die in diesem Job einfach nicht klar kommt, die ständig völlig hilflos vor der Klasse steht und darauf wartet, dass es endlich klingelt. Ich bin es doch, die mit Magenschmerzen zur Schule fährt und mit Angst in jede Pausenaufsicht geht und ständig betet, dass sie nicht wieder zwei sich verprügelnde 1,90 Meter Typen trennen muss!“
Petra schrie jetzt fast: „Ich bin doch die Unfähige, nicht meine Kollegen!“ Sie ging zum Sekretär und schenkte sich aus der Hausbar einen Sherry ein.
„Ich hasse diese Schule. Ich hasse sie. In meiner Ausbildungszeit war das alles anders. Wenn mir einer vorher gesagt hätte, wie Scheiße es ist, Lehrerin zu sein, hätte ich was anderes gemacht. Aber ich war ja so naiv, so weltfremd. Helfen wollte ich den Jugendlichen; für sie da sein, ihnen Wegbegleiter sein. Und wie sieht`s jetzt aus? Wie sieht`s aus? Sie lachen mich aus, beleidigen mich mit Hure oder Schlampe und an normalen Unterricht ist schon gar nicht zu denken. Ich kann ja froh sein, wenn sie mich nicht direkt niederschlagen, wenn ihnen mal etwas quer kommt.“

Petra setzte sich mit angezogenen Beinen auf das Sofa. Dabei spielte sie nervös mit ihrem Glas.
Stefan setzte sich schweigend neben sie und streichelte ihr Knie.
„Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Es kann doch nicht sein, dass ich jeden Tag diesen Horror aushalten muss.“
„Petra, du arbeitest mit schwererziehbaren Jungen und du bist gerade mal vier Monate in dieser Schule. Vielleicht brauchst du einfach noch ein wenig Zeit, um dich an dieses Klima vor Ort zu gewöhnen. Du musst bedenken, dass du für diesen Job eigentlich auch nicht bist, sondern Grundschullehrerin bist. Du bist mit ganz anderen Erwartungen und Absichten in dein Berufsleben gestartet. Du hattest vor, kleine Kinder zu unterrichten und keine 17-jährigen Intensivstraftäter. Es ist doch völlig normal, wenn man da am Anfang Probleme hat. Vielleicht wäre es wirklich mal gut, deine Kollegen während der Weihnachtsfeier besser kennen zu lernen. Ich bin sicher, dass sie die gleichen Probleme haben wie du. Die können dir bestimmt viele nützliche Tipps im Hinblick auf deine Arbeit geben.“
Sie trank den letzten Schluck.
„Meinst du, die haben Lust, sich die Sorgen einer kleinen Primimaus anzuhören?“ Ihre Stimme klang wieder etwas besänftigt.
„Natürlich, da bin ich mir ganz sicher. Und du wirst sehen, dass es auch unter deinen Kollegen viele geben wird, die ganz genau dasselbe durchgemacht haben wie du. Und auch wenn du in deiner Klasse alleine vor diesem Haufen stehst. Es tut mit Sicherheit gut, in den Pausen mal mit anderen Lehrern über diese Situationen zu sprechen. Das ist zumindest besser, als sich immer hinter seiner Kaffeetasse zu verstecken und zu schweigen.“
Stefan nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch.
„Gehe zu dieser Weihnachtsfeier. Ich schwöre dir: Es wird ein schöner Tag und du wirst es nicht bereuen.“

XXX

Lange hatte es so ausgesehen, als würde Stefan sich irren. Obwohl Petra den letzten Schultag mit den besten Absichten begonnen und sogar einen ganzen Korb voller Brötchen, Marmelade, Honig und den verschiedensten Wurst- und Käsesorten für ein gemeinsames Frühstück mit ihren acht Jungen in der Klasse besorgt hatte, herrschte bereits um kurz nach acht nicht nur im Unterrichtsraum, sondern auch in ihrem Kopf das totale Chaos. Mirco, einer der aggressiveren Schüler der Lerngruppe, hatte bereits beim Erblicken des Frühstückskorbes die Schnauze voll.
„Du glaubst doch wohl nicht, dass wir jetzt hier so ein asoziales Frühstück mit dir abziehen, oder? So ein Piss kannst du mit anderen machen. Wir wollen einen Film gucken. Andere Klassen gucken auch Film.“ Dabei blickte er, nach Zustimmung haschend, in die Runde seiner Mitschüler.
Diese nickten.
„Genau, Schmidt! Film gucken! Aber nicht wieder einen ab zwölf. Wir sind doch keine Babys mehr.“ Das Gemurmel wurde lauter, und Füße scharrten auf dem alten Holzfußboden.
„Jetzt hört mir mal zu.“ Petras Stimme klang nicht so kraftvoll und selbstbewusst, wie sie es sich erhofft hatte. „Ich habe diese Sachen hier mitgebracht, um mit euch ein schönes, gemütliches Weihnachtsfrühstück zu veranstalten. Vielleicht könnten wir uns dabei auch mal in aller Ruhe miteinander über die ersten Monate hier unterhalten. Vielleicht finden wir dann auch einen Weg, um unser Miteinander hier für alle etwas angenehmer zu gestalten.“
Mirco ließ laute Würgegeräusche verlauten.
„Ich kotz mich weg. Alte. Verpiss dich mit deinem Sozialtherapeuten-Dreck. Hab ich von meinem Bewährungshelfer diese Woche schon genug gehört.“ Er verstellte die Stimme und sprach in einem hohen Ton weiter. „Mirco, du musst an dich glauben, dann schaffst du alles, was du dir vornimmst.“ Und dann wieder dunkel und aggressiv: „Geh mir weg und fick dich. Da scheiß ich doch drauf.“ Mit diesen Worten stand er auf, ging auf Petras Pult zu und fegte den gesamten Frühstückskorb mit einem Fußtritt vom Tisch.
„Viel Spaß beim Frühstücken, alte Schlampe!“ Er verließ den Klassenraum und knallte die Tür so heftig zu, dass sie wieder aus dem Schloss sprang und sich langsam öffnete. Vom Flur her hörte Petra, wie Mirco nacheinander alle Klassentüren des Ganges öffnete, ein lautes „Scheiß Weihnachten, ihr Wichser!“ hineinbrüllte und sie dann wieder zuknallte. Vereinzelt konnte sie laute Antworten von ihren Lehrerkollegen vernehmen. Dann war es still.
Sie blickte in die Runde und musste ihre ganze Beherrschung aufbieten, um nicht loszuheulen.

Ein stämmiger Rothaariger mit einfältigen Gesichtsausdruck und Pickeln auf der Stirn stand auf. „Darf ich auch gehen? Ich will eine rauchen.“ Sofort standen zwei weitere Jungen auf.
Petra musste sich an der Kante ihres Pultes festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Nein! Wir reißen uns jetzt alle zusammen und frühstücken. Sonst ...“
„Sonst?“ Der Dicke sah sie herausfordernd an. „Pass mal auf. Wir haben alle Heimwochenende und bleiben bis nach Neujahr zu Hause. Meinst du, da kümmert es die Erzieher auch nur einen feuchten Scheiß, wenn du dich nach der Schule über uns beschwerst? Wir sind in drei Stunden weg hier. Ich geh rauchen. Wer kommt mit?“

XXX

Petra hatte sich schon als kleines Mädchen dazu entschieden, Lehrerin zu werden. Sie hatte die Schule immer geliebt, niemals Schwierigkeiten mit Noten oder Mitschülern gehabt und ihre Lehrerinnen und Lehrer insgeheim alle zutiefst verehrt. Nach dem Abitur war es darum für ihre Eltern und Freunde auch keine große Überraschung gewesen, als sie das Lehramtsstudium für die Primarstufe in Köln aufnahm, das ihr vom ersten Tag an große Freude bereitet hatte. In ihrer kargen Freizeit gab sie Nachhilfeunterricht in Mathe und Deutsch, um sich etwas zu ihrem BAföG hinzu zu verdienen. Ihr Referendariat absolvierte sie dann erfolgreich in einer 2-zügigen Grundschule auf dem Lande. In dieser Zeit lernte sie auch Stefan kennen, der gerade als Rechtsanwalt in einer kleinen Kanzlei im Kölner Norden angefangen hatte, wo er seine Probezeit ableistete.
Petra erinnerte sich gerne an diese Zeit zurück. Sie waren beide völlig in ihrer Arbeit aufgegangen und sie hatten in dem jeweils anderen einen Partner gefunden, der dieses absolut nachvollziehen konnte.

Dann war die Zeit des unbefriedigten, langen Wartens gekommen. Trotz ihres guten Abschlusses hatte es für Petra keine Möglichkeit gegeben, in ihrem Traumjob eine Einstellung zu bekommen und so hatte sie sich halt schweren Herzens dazu entschieden, in einer ihr völlig fremden und unbekannten Welt zu arbeiten. Als Grundschulpädagogin in einer privaten Heimschule für schwererziehbare und verhaltensgestörte Jugendliche.

Die neue Schule lag etwa 75 km von ihrem Wohnort entfernt in der Bauernschaft eines 4000 Seelen Dorfes. Die Einrichtung ruhte mit ihren ca. 30 Gebäuden, zu denen eine eigene Kirche, verschiedene Wohngruppen, Werkstätten, Verwaltungsgebäude, Sporthallen, eine Gärtnerei und zwei Schulgebäude gehörten, mitten in einem von der Hauptstraße uneinsehbaren Waldstück. Petra wäre bei ihrem ersten Vorstellungsgespräch fast vor Glück geplatzt, als sie das riesige, dicht begrünte Gelände sah. Davon hatte sie immer geträumt - eine Schule mitten im Wald. Mit kleinen Klassen und einer überschaubaren Schülerschaft.
Die Schülerschaft war überschaubar geblieben und auch die Klassen hatten höchstens acht Schüler, doch das Grün des Waldes und der Natur veränderte sich im Laufe der ersten Monate.
Die Schwierigkeiten hatten direkt am ersten Tag begonnen. Die neu gebildete Klasse L10 bestand aus drei externen Schülern und fünf Heimschülern, die direkt auf dem Gelände wohnten. Petra hatte es nie geschafft, das Vertrauen der Jungen zu gewinnen. Sie hatte es nie geschafft, auch nur annähernd sie selbst sein zu können oder gar in ihrer Tätigkeit aufzugehen. Sie erlebte die Zeit, die sie alleine mit der Klasse verbringen musste, stets als den reinen Horror. Die Jungen, besonders der fast 18-jährige Mirco, tanzten ihr regelrecht auf der Nase herum. Normaler Unterricht war nur in den seltensten Fällen möglich; eigentlich nur dann, wenn Mirco mal wieder eine Gerichtsverhandlung, einen Termin beim Jugendamt oder keine Lust auf Schule hatte und folglich nicht anwesend war. In der Zeit nach den Herbstferien wurde sein Verhalten dann immer schlimmer. Er verweigerte sich vollständig, hetzte seine Mitschüler entweder gegen Petra oder andere, zumeist jüngere, Schüler auf und bediente sich einer Fäkalsprache, die Petra kaum ertragen konnte. Auf Zurechtweisungen oder Verwarnungen hörte er schon lange nicht mehr. Auch die Erzieher in der Wohngruppe fühlten sich völlig machtlos. Er wurde in der Freizeit immer häufiger straffällig. Er brach in Häuser und Geschäfte ein, klaute Fahrräder und Motorroller und war in gefährliche Schlägereien verwickelt. Es kam nicht selten vor, dass Mirco nachts von der Polizei zur Wohngruppe gebracht wurde und die Liste seiner Vorstrafen wurde länger und länger. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er wieder ins Gefängnis musste.
Doch so unangenehm es auch in den Unterrichtsstunden war; das Schlimmste waren die Pausenaufsichten. Da stand Petra dann mit vierzig bis fünfzig Jungen alleine auf einem der drei Schulhöfe und fühlte sich wie ein kleines, hilfloses Mädchen. Besonders, wenn sie wieder einmal zwei oder mehrere Streithähne trennen musste, die ihr in der Regel körperlich überlegen waren. Von den Schülern ihrer eigenen Klasse konnte sie da keine Hilfe erwarten. Es war sogar schon vorgekommen, dass sie von einem Jungen so hart zur Seite gestoßen wurde, dass sie auf den Asphalt des Schulhofes stürzte und sich blutige Schrammen an Händen und Ellenbogen zuzog.
Von diesem Tag an kam immer einer ihrer Kollegen mit nach draußen in die Aufsicht, wenn sie Dienst hatte. Diese Neuregelung half ihr zwar, die Pausen besser zu meistern, verstärkte jedoch auch ihr tiefes, immer stärker werdendes Gefühl der Unfähigkeit, das sich in ihrem Unterbewusstsein breitmachte.

Obschon ihr natürlich klar war, dass ihren Kollegen ihre missliche Lage aufgefallen war, versuchte sie sich während der Zeiten im Lehrerzimmer völlig normal und unauffällig zu verhalten. Sie entwickelte sich zu einer perfekten Schauspielerin, die erst ihre Maske ablegte, wenn sie alleine mit ihrem Wagen und ihren Tränen auf der Autobahn war.
XXX
Der Tag kann ja nur noch besser werden, dachte sich Petra, als das letzte Taxi mit einem ihrer Schüler um kurz nach elf das Gelände verließ. Diejenigen Jungen, die auf dem Gelände lebten, waren bereits in ihren Wohngruppen, wo für die meisten die Heimfahrt zu ihren Eltern oder zu anderen Erziehungsberechtigten, wie Omas oder Tanten, geplant wurde. In weniger als einer Stunde würde sich dann kaum noch ein Schüler auf dem riesigen Gelände befinden.

Petra hatte beschlossen, sich und ihrem Kollegium eine Chance zu geben. Wenn ihr die Weihnachtsfeier gefallen würde, würde sie Stefan anrufen und ihm mitteilen, dass sie über Nacht in der Schule bliebe und erst am nächsten Morgen zurück nach Köln führe. Für diesen Fall hatte Petra einen Schlafsack im Kofferraum ihres Wagens liegen. Sie dachte an die Couch im Entspannungsbereich ihrer Klasse und stellte sich mit einem leicht flauen Gefühl im Magen vor, wie es wohl sein würde, in dem Raum zu schlafen, in dem sie morgens schon so oft gelitten hatte. Aber vielleicht würde es ihr ja auch ganz gut tun, so entspannt und mit ein paar getrunkenen Gläsern Bier die Nacht im eigenen Klassenraum zu verbringen. Na ja, dachte sie. Mal sehen. Vielleicht fahre ich ja doch noch heute Abend zurück.

XXX

Sie fuhr nicht. Die Weihnachtsfeier entpuppte sich als genau das, was ihr seit Monaten gefehlt hatte. Es wurde, nachdem die ca. 120 Mitarbeiter der Einrichtung, Erzieher, Lehrer, Verwaltungsangestellte, Therapeuten und Handwerker die Reden von Hausleitung und einigen politischen Gästen der Gemeinde über sich hatten ergehen lassen, eine regelrechte Party.
Die Feier fand in dem großen Versammlungssaal im Kirchengebäude statt. Als es gegen halb fünf draußen zu dämmern begann, wurde die Kaffeetafel vom Hausmeister und einigen Zivildienstleistenden durch etwa zwei Duzend Stehtische ersetzt. An der Stirnseite des Saales hatte ein DJ damit begonnen, seine Verstärker, Boxen und Mischpulte aufzubauen. Kaffeekannen und Kuchen waren verschwunden und an deren Stelle wurde eine Theke mit Zapfanlage im hinteren Teil des Raumes aufgebaut. Hunderte von Teelichtern und Kerzen verwandelten den Konferenzsaal in eine heimelige Grotte mit tanzenden, streichelnden Schatten, die sich elfenhaft über die vielen Gesichter bewegten.

Petra fühlte sich sehr schnell sehr wohl. Vergessen waren die Probleme des Vormittags, vergessen die letzten vier Monate der Qualen und Demütigungen. Sie stand zusammen mit einer netten Gruppe von jüngeren Lehrern und Erziehern an drei zusammengeschobenen Stehtischen und lachte, redete und trank frisch gezapftes, kühles Bier. Es verwunderte sie, dass fast überhaupt nicht über die Arbeit gesprochen wurde. Und es verwunderte sie ebenfalls, wie verwandelt und menschlich erleichtert alle ihre Kollegen plötzlich wirkten; als wäre von allen eine unsichtbare Last abgefallen. Irgendwann wurde sie vom Schulleiter zum Tanzen aufgefordert und sie ließ sich von ihm ohne Widerreden auf die Tanzfläche führen.

Gegen Mitternacht, sie hatte Stefan bereits vor Stunden über den geplanten Verlauf des Abends informiert, bewegte sie sich nur noch wie im Traum. Der DJ steigerte sich scheinbar von Lied zu Lied und spielte nun alle großen Hits ihrer Jugend. Sie drehte sich wie ein Kreisel, mit geschlossenen Augen, zusammen mit den anderen Mitarbeitern und Kollegen auf der Tanzfläche, hielt dabei ein leeres Bierglas umklammert, sang lauthals mit und fühlte sich wie ein Vogel im sanften Sommerabendwind. Ein Sommerabendwind am Meer. Sie war glücklich. Es war ihr egal, dass sie ziemlich viel getrunken hatte und sich zurzeit nicht mehr genau daran erinnern konnte, wo sie ihre Schuhe gelassen hatte. Es war ihr auch egal, dass sie von allen Seiten verwunderte Blicke erntete. Es war ihr einfach alles egal. Heute Abend wollte sie feiern. Und sie tat es.

XXX

„Und, wie kommst du heim?“, fragte sie ein junger Erzieher, der mit ihr zusammen gegen zwei Uhr aus dem Festsaal gestolpert war. „Mit einem Taxi?“
Seine Stimme klang angenehm dunkel und freundlich. Petra hatte während der letzten Stunde fast nur mit ihm getanzt und er war ihr zutiefst sympathisch.
„Nein, ich bleibe heute Nacht hier. Habe einen Schlafsack im Auto und werde mich wohl in meinem Klassenraum auf die Couch legen.“
Der junge Mann bekam große Augen, witterte eine ungeahnte Chance und versuchte Petra seinen Arm um die Schulter zu legen.
„Na, das sind ja schöne Aussichten. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich gar nicht mehr genug Geld für ein Taxi. Wir …“
„Nee, nee Freundchen“, entgegnete Petra bestimmt. „Lass mal lieber. Wir wollen doch nichts machen, was uns morgen früh leid tut, oder?“
Sie schob den Erzieher sanft von sich fort, sprach aber mit freundlicher Stimme weiter.
„Du, es war eine tolle Party, aber jetzt muss ich schlafen. Gute Nacht und komm gut nach Hause.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, gab ihrem Begleiter einen Kuss auf die Wange und ließ ihn frierend und leicht verwirrt vor dem Eingang des Kirchengebäudes stehen.

Es war eiskalt, und schwerer, dichter Nebel lag wie eine dicke Daunendecke über dem gesamten Gelände. Alle Gebäude und Häuser waren dunkel - nirgendwo brannte Licht. Je weiter sie sich vom Kirchengebäude in Richtung Hauptparkplatz entfernte, desto leiser wurden die Partygeräusche. Bald waren so viele Bäume und Gebäude zwischen ihr und der Kirche, dass sie nur noch einen leisen Bass hören konnte. Und als sie dann plötzlich vor ihrem Wagen stand und nichts anderes hören konnte als das eigenwillige Geräusch der sich öffnenden Kofferraumtür, wurde ihr mit einem Mal schlagartig bewusst, dass sie sich alleine mitten in einem Wald befand. Sie lauschte. Nichts. Durch den Nebel konnte sie die Umrisse des 2-stöckigen Verwaltungsgebäudes sehen. Links daneben befanden sich eine nun menschenleere Wohngruppe und die Holzwerkstätten. Rechts neben der Verwaltung führte ein kleiner Fußweg durch dichtes Buschwerk direkt auf ihre Schule zu. Trotz ihrer plötzlich aufkeimenden Furcht ob dieser bedrückenden Finsternis, entschied sie sich, diesen schmalen Pfad zu nehmen, da er den direktesten Weg zwischen Parkplatz und Schule darstellte. Zügigen Schrittes ging sie über den verwaisten Platz und befand sich Sekunden später auf dem gefrorenen Weg als sie das Geräusch hörte. Wie vom Blitz getroffen, blieb sie stehen.
Ist da etwas im Gebüsch? Oder folgt ihr jemand? Sie lauscht vor Kälte und Angst zitternd. Nichts. Stille. Nebel und Dunkelheit. Wind bewegt blattlose Bäume. Äste ragen, strecken sich wie drohende, warnende Finger in den schwarzen, sternenlosen Himmel. Erst jetzt realisiert sie, dass sie noch immer barfuss ist. Wo sind meine Schuhe?
Wieder ein Geräusch. Es scheint vom Parkplatz her zu kommen. Petra beginnt zu laufen. Sie spürt ihre eingefrorenen Füße nicht mehr, sie atmet keuchend ein und aus. Sie rennt - den Schlafsack unter dem linken Arm, den Kulturbeutel unter dem rechten.
Dann wird es ihr klar: Es sind Schritte. Da ist jemand hinter ihr. Jemand, der schneller geht als sie. Da sieht sie die Schule. Wie eine verlassene Burg aus vergangenen Zeiten liegt sie vor ihr. Noch fünfzig Meter. Petra greift mit der linken Hand nach dem Kulturbeutel, sucht mit der anderen Hand nach dem Schulschlüssel in ihrer Manteltasche. Sie findet ihn. Eiskalt liegt er zwischen ihren Fingern. Sie hört hinter sich jemanden atmen, keuchen. Noch zwanzig Meter. Sie wagt es nicht, sich umzusehen. Sie schreit. Noch zehn Meter. Noch fünf, noch zwei. Sie streckt die Hand aus, versucht den Schlüssel ins Schloss zu stecken, lässt ihn fallen und als er ihr von hinten in den Rücken springt, schlägt sie mit der Stirn gegen die Panzerglastür und sinkt benommen zu Boden.

XXX

Als sie wieder zu sich kam, roch sie seltsamerweise zuerst die trockene Heizungsluft. Dann spürte sie, dass sie lang ausgestreckt auf einer weichen Unterlage lag. Sie öffnete die Augen. Dunkelheit umgab sie. Als sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte sie Stühle erkennen, die auf einzelnen Tischen standen. Dann sah sie die Tafel mit ihrer eigenen Handschrift: Unterrichtsbeginn: 07.01.2004, 8:45 Uhr, Schöne Ferien!

Sie war in ihrem Klassenraum und lag auf dem Sofa. Ihr altes Sofa, welches ihr ihre Eltern zum 18. Geburtstag geschenkt hatten und das sie zur Verschönerung des Klassenraums mit in die Schule gebracht hatte.
Dann sah sie die dunkle Gestalt, die auf ihrem Platz hinter dem Pult saß. Ein Gesicht konnte sie nicht erkennen.
Obschon es mindestens zwanzig Grad Celsius in dem kleinen Klassenzimmer sein mussten, fror Petra. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen und sie hatte stechende Kopfschmerzen.
Plötzlich erhob sich die Gestalt hinter dem Pult und kam langsam durch den Klassenraum auf sie zu.
„Tut mir leid, Schlampe, wenn ich dir wehgetan habe. War nicht so geplant.“

Verwunderung und Zweifel machten sich in ihrem Gehirn breit, als ein letzter Funke Restverstand ihr signalisierte, dass es kein unbekannter Triebtäter und auch kein freundlich wahnsinniger Erzieher mit eindeutigen Absichten war, der da auf sie zukam. Nein, es war eine andere, ihr bekannte Stimme.

XXX

Eine Weihnachtskerze wurde angezündet und Petra sah direkt in Mircos Gesicht. Es war keine dreißig Zentimeter von ihrem entfernt. Er roch nach starkem Alkohol und Zigarettenrauch.
„Mirco, was willst du von mir?“ Petras Stimme klang heiser und belegt.
Mirco stellte die Kerze auf den Beistelltisch neben der Couch und kramte eine Zigarette aus seiner Hemdtasche. Im Licht der Kerze konnte Petra erkennen, dass es völlig verdreckt und zudem am linken Ärmel aufgerissen war.
Mirco zündete sich die Zigarette an und blies ihr den Rauch ins Gesicht.
„Du erlaubst doch, dass ich rauche, oder? Du wirst verstehen, dass ich bei der Scheißkälte keinen Bock habe, extra bis in die Raucherecke zu gehen.“
Petras Kopfschmerzen brachten sie fast um, doch sie riss sich zusammen. Trotz der vielen Gedanken und Gefühle, die ihr durch den Kopf und den Bauch schossen, dachte sie plötzlich darüber nach, wie falsch ihr der Zigarettenrauch in ihrem Klassenraum vorkam. Er passte irgendwie nicht hierher und ließ die Situation noch irrealer erscheinen.
„Mirco, was hast du vor?“ Langsam richtete sie sich auf. Sie wollte nicht liegen, während er in der Hocke vor ihr verweilte. Mirco erhob sich und trat einen Schritt zurück.
„Keine Ahnung. Erst mal zu Ende rauchen und dann mal sehen.“
„Dann mal sehen? Tolle Antwort, Mirco.“ Petra merkte, wie sich ein neues Gefühl in ihre vom Alkohol durchschwängerte Furcht mischte: Es war Wut und sie wunderte sich selbst am meisten darüber. Doch sie konnte sich nicht mehr bremsen. Mit zitternden Beinen stand sie auf. Ihre Füße brannten, als liefe sie über glühende Kohlen.
„Dann mal sehen?“, schrie sie jetzt schrill auf. „Na super! Hast ja auch noch nicht genug Scheiße gebaut in der letzten Zeit. Fällt in deiner Akte ja gar nicht weiter auf, wenn jetzt auch noch Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung und Vergewaltigung dazukommt, was?“ Ihre Stimme bebte und sie fragte sich, welcher Teufel sie ritt, dass sie ihrem Widersacher solche Dinge an den Kopf warf.
Mirco trat blitzschnell einen Schritt auf sie zu und schlug ihr so heftig gegen die Schulter, dass sie zurück auf das Sofa fiel.
„Schnauze, du Schlampe! Halt deine erbärmliche Fresse!“
Dann drehte er sich wieder um und zog an seiner Zigarette, während Petra sich auf der Couch wimmernd zusammenrollte und ihre Schulter massierte.

XXX

Mirco hatte sich wieder auf den Schreibtischstuhl hinter ihrem Pult gesetzt. Die Beine lagen auf der Tischplatte.
Er hatte inzwischen mindestens drei weitere Zigaretten geraucht und die Kippen durch den ganzen Klassenraum geschnippt.
Es lag eine bedrückende und unheimliche Stille über den zwei Menschen. Petras Schmerzen hatten etwas nachgelassen. Sie saß jetzt wieder aufrecht auf dem Sofa und starrte Mirco unentwegt an. Dann hörte sie ihn reden:
„Ich wollte auch immer Lehrer werden. Muss cool sein, soviel Hausaufgaben aufgeben zu dürfen, wie man will. Und dann kann man die Schüler am nächsten Tag auch noch bestrafen, wenn sie was nicht gemacht haben. Ist voll der Machtmensch, so ein Lehrer. Was ist mit dir, Schmidt? Warum bist du Lehrerin geworden? Gib es zu, du warst auch geil auf die Macht, oder? Bist doch wahrscheinlich in deiner Jugend auch nur verarscht worden, oder? Und jetzt rächst du dich auf deine Weise an der bösen Jugend, indem du sie herumkommandierst.“

Petra sagte kein Wort. Sie starrte ihn nur weiter an. Es war ihr noch immer unbegreiflich, wie sie in diese Situation kommen konnte.
„Ist ja auch egal. Ich wollte zumindest immer Lehrer werden. Aber soll ich dir was sagen? Was ganz Ehrliches? Ich hab meine Lehrer immer irgendwie gehasst …, na ja, ... und irgendwie hab ich sie auch gemocht.“ Er zündete sich eine weitere Zigarette an.
Petra richtete sich ein wenig auf. „Du hast sie gemocht? Aus deiner Schülerakte geht nicht gerade hervor, dass du deine Lehrer mit Samthandschuhen angefasst hast. Da stimmt doch was nicht.“
Mirco blies den Rauch gegen die Zimmerdecke. Der Kerzenschein ließ sein Gesicht älter und verlebter aussehen.
„Doch, doch. Irgendwie waren viele von denen echt in Ordnung. Waren halt immer für mich da, verstehst du? Waren jeden Morgen pünktlich zur Stelle, um mich für nicht gemachte Hausaufgaben zu bestrafen. Echt, da konnte man die Uhr nach stellen. Pünktlich um fünf nach acht hatte ich meine erste sechs des Tages kassiert. Echt. Das ist so ziemlich das Einzige, was in meinem Leben ständig geklappt hat. Da konnte man sich drauf verlassen, die Scheiß Pauker, die.“
„Was ist heute passiert, Mirco? Wolltest du nicht über Weihnachten zu deinem Bruder nach Essen fahren?“ Petra stand vorsichtig auf und ging langsam auf Mirco zu. Sie hatte seit zwei Jahren keine Zigarette mehr geraucht, doch in diesem Augenblick hätte sie ein Monatsgehalt für eine hergegeben. Mirco kratzte sich hinter dem Kopf und blies dabei erneut den Rauch gegen die Decke.
„Ach Scheiße. Der hat gestern Abend angerufen und gemeint, ich könnte nicht kommen. Der ist krank. Schwere Grippe. Und da war er so blöd, hier anzurufen. Muss das ja jedem auf die Nase binden, dass er sich dann nicht um mich kümmern kann, und so. Und die von der Gruppe haben dann beim Jugendamt angerufen und die wollten mich dann bis Januar in eine Übergangswohngruppe stecken, weil hier doch kein Erzieher da ist und niemand Dienst hat. Weil doch alle Jungen zu Hause sind.“
Mircos Stimme klang nun plötzlich etwas weicher.
„Und dann?“ Petra setzte sich auf einen Schülerstuhl in unmittelbarer Nähe des Pultes.
„Na, dann bin ich abgehauen. Direkt weg aus der Gruppe. Bin so wie ich war, ohne Jacke durch den Wald zum Dorf. Wollte zum Bahnhof und dann versuchen, irgendwie zu meinem Bruder zu kommen. Aber am Bahnhof standen die Bullen rum. Dann hab` ich mir einen Roller von so einem Kerl geschnappt; der war schon erwachsen.“
„Und dann?“
„Na, was wohl? Der hat sich gewehrt und dann hab ich ihm einen gegeben. Richtig durchgelassen habe ich den, so wütend war ich plötzlich. Der hat nur so laut gerufen, dass die Bullen mich direkt gesehen haben.“
„Wie, das ganze hat sich am Bahnhof abgespielt? Vor den Augen der Polizei?“
Mirco nahm die Füße vom Pult und stützte den Kopf auf die Hände. Seine Ellenbogen lagen auf seinen Knien.
„Ja, halt hinter einer Bushaltestelle. Konnte ja nicht wissen, dass der Typ Ärger macht.“
„Und wie alt war der Mann?“
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall viel älter als du. Sah ungefähr so aus wie der Hausmeister.“
„So alt?“ Petra war schockiert. „Unser Hausmeister wird im nächsten Jahr sechzig.“
„Ja, vielleicht `n bisschen jünger. Keine Ahnung. Ist mir auch egal.“
Wieder dieses Kratzen hinterm Kopf. Dann drückte er die Zigarette auf dem Holzboden aus.
„Und was war nachher mit dem Mann?“
„Keine Ahnung. Der lag da halt. Ich bin dann direkt abgehauen. Zum Sportplatz. Dort hab ich die Tür von diesem Vereinsheim da eingetreten. Weißte, von dem Fußballverein. Und da war dann dieser Partyraum mit Theke und tausend Flaschen Schnaps. Und da konnte ich halt nicht Nein sagen ...“
Petra sah ihm direkt ins Gesicht. „Und warum bist du jetzt hier?“
„Irgendwann kamen da so ein paar Typen. Und da bin ich weg. Zurück durch den Wald, hierher. Wollte in die Klasse einsteigen. Mich aufs Sofa hauen und ein bisschen schlafen. Und morgen früh? Mal sehen, ob ich nicht doch irgendwie nach Essen trampen kann.“
„Und wie geht`s dir jetzt?“ Petras Stimme klang ruhig, fast mütterlich.
Mirco sah sie verwundert an. Und plötzlich erkannte Petra Tränen in seinen Augen. Er wirkte nun nicht mehr alt und verlebt. Er war plötzlich wieder der kleine Junge, der er immer gewesen war und niemals hatte sein dürfen.
„Wie solls mir schon gehen? Wie immer halt. Beschissen!“
Petra überlegte einen Moment lang, wie sie auf seine Antwort reagieren sollte; dann stand sie einfach auf, trat um das Pult herum und legte Mirco eine Hand auf die Schulter. Der Junge wehrte sich noch einige Sekunden gegen seine Gefühle, doch schließlich lehnte er seinen Kopf schluchzend gegen Petras Seite, während seine Lehrerin damit begann, ihm sanft über den Kopf zu streichen.

XXX

Es war halb neun, als der Polizeiwagen auf das Gelände der Einrichtung fuhr. Der Himmel wies bereits erste Spuren von Morgenröte auf, und es wehte ein eisiger Wind. Es sah aus, als würde am Horizont ein riesiges Himmelsfeuer lodern. Warm und gewaltig. Petra und Mirco standen rauchend vor der Panzerglastür der Schule und beobachteten die zwei Polizeibeamten, die den kleinen Fußweg entlang kamen.
Mirco schnippte seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Dann drehte er sich zu seiner Lehrerin um.
„Hauptsache, Sie gewöhnen sich das schnell wieder ab.“
Petra lächelte und ließ ihre Zigarette ebenfalls auf den Boden fallen.
„Da mach dir mal keine Sorgen, Mirco. Das kriege ich schon irgendwie hin.“
„Es tut mir leid, ich wollte ihnen heute Nacht nicht wehtun. Und das mit dem Korb gestern Morgen tut mir auch leid.“
Petra berührte ihn für eine Sekunde mit der Hand an der Schulter. „Schon vergessen.“
Dann waren die zwei Polizisten da.
„Sind sie Frau Schmidt? Die, die eben bei uns angerufen hat?“
„Petra nickte und reichte dem ersten Beamten die Hand.
„Na und das ist dann wohl der Übeltäter, nicht wahr?“
Der zweite Polizist griff nach Mircos Arm.
„Ich kann alleine laufen. Sie brauchen mich nicht anzufassen.“
Der erste Beamte kam nun hinzu und griff nach Mircos zweiten Arm.
„Das entscheiden wir, mein Bürschchen. Dann komm mal mit.“
Mirco begann sich zu wehren, doch der zweite Polizist drehte ihm blitzschnell den Arm auf den Rücken, so dass Mirco in die Knie ging und zwei Sekunden später der Länge nach auf dem eisigen Boden lag. Dann war er plötzlich ganz ruhig. Er hatte die Augen geschlossen; mit der Stirn berührte er fast die zuvor ausgetretene Zigarettenkippe.

Petra ging auf die Polizisten zu und sagte:
„Ich glaube, sie können ihn jetzt wieder aufstehen lassen. Er hat sich doch freiwillig gestellt.“
Die Polizisten rissen Mirco unsanft in die Höhe.
„Fräulein, jetzt passen Sie mal auf!“ Der Mann keuchte, und Mirco sah zu Boden. An seiner Wange klebte Schmutz. „Sie haben hier heute Nacht einen verdammt guten Job gemacht. Ehrlich. Spricht für Sie als Lehrerin, dass Sie so einen Bastard hier ruhig gestellt und dafür gesorgt haben, dass er nicht wieder abhaut. Aber jetzt übernehmen wir die Sache, in Ordnung?“
Die Beamten nickten ihr zu. „Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch, Frau Schmidt.“
Dann führten sie Petras Schüler ab.

XXX

Und während sich der Nebel langsam verzog und Platz für den neuen Tag machte, stieg die Sonne blutrot am Horizont auf. Und dann saß auch der letzte Junge in seinem Taxi. Und zurück blieb seine Lehrerin, die sich langsam umdrehte, das Schulgebäude betrat und zielsicher ihren Klassenraum ansteuerte, um diesen vor den Weihnachtsferien noch einmal aufzuräumen. Und auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln.
 

Clara

Mitglied
Hallo Arts
meine Bewunderung dafür, das das wie Jugendliche und auch ältere heute sprechen können, so viel davon gehalten hast.
Ich kann das immer gar nicht aufnehmen, so schnell werden diese unnetten Sprüche abgerattert.

Es ist ein Tag aus dem Leben der Lehrerin.
Der Text ist sehr lang, aber hängen geblieben war ich nirgendwo.

Lediglich der Erste Teil, die sehr vielen Zeiteinheiten an diesem Tag fand ich noch recht gut und auch hetzig geschrieben, wie man sich dann auch fühlt.
Das die Beziehung zu Stephan stimmig ist, lese ich auch heraus -
dennoch ist mir der Teil kürzungsnötig.
(was für ein Wort - kürzungsnötig - also wert eingekürzt zu werden :))
Auch das Feiern an sich hast du doch recht lang beschrieben -
das auch gut oder viel getrunken wurde ebenfalls.
Könnte auch etwas verkürzt werden -
denn das wichtigste ist doch, das der Leser erkennen soll, was in Mirco los ist -

Aber ganz allgemein gedacht: Es geht nicht dem Hauptteil der Jugendlichen so schlecht, das sie diese Sprach-GEWALT aus sich herausfliessen lassen müssen - das wäre ein falscher Eindruck, obwohl einige es tun.
Nun, dein Schüler ist bereits straffällig geworden - das ist eine andere Klasse, als die Allgemeinheit und doch kenne ich Personen, die dauernd so sprechen, obwohl der Backround oder auch nur annähernd ähnlicher, dafür nicht erkennbar ist.

Der Text scheint sich mir sehr stark an Realitäten entlang zu hangeln - dadurch ist er sehr lang. Die Kunst des Schreibens ist, das zu verkürzen, ohne den Inhalt zu verändern.
 



 
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