Der letzte seiner Art

Der letzte seiner Art

Rafnagurd hatte Kopfschmerzen. Er streckte seine steifen Glieder und wurde mit Millionen Nadelstichen dafür belohnt. Sein kantiger Schädel brummte, als hätte er drei Fässer dalmatischen Rotweins gekippt. Er war wie benebelt. Langsam kam die Erinnerung wieder. Es waren sieben Fässer gewesen, die er zum Abschied mit Onkel Hergart geleert hatte. Dalmatien. Onkel Hergart war der letzte Lordprotector südlich der Alpen. Sein Volk hatte sich nach Norden zurückgezogen, denn die Menschen der 4. Welt vermehrten sich rund ums Mare Mediterraneum wie die Karnickel. Ihre Ameisenstädte und Befestigungen wuchsen so schnell wie ihre Armeen. Sie nannten das Zivilisation. Wer brauchte da noch einen Protector? Onkel Hergart hatte Glück. Er wachte seit mehr als 400 Jahren über ein versprengtes Bergvolk, das sich weder von den Griechen noch von den Römern, die neuerdings immer stärker wurden, hatte vereinnahmen lassen. Dabei hatten sie nicht eine einzige Schlacht geschlagen. Sie waren einfach zu wenige und lebten zu abgelegen. Man hatte sie schlichtweg übersehen. Übersehen zu werden, war heutzutage die einzige Möglichkeit, der Zivilisation zu entkommen. Diese neuen Menschen lebten nicht mehr im Einklang mit der Natur. Sie schotteten sich mit ihren immer höheren Mauern dagegen ab, erklärten sich selbst zum Zentrum der Welt, was ihnen das Recht gab, letztere zu vergewaltigen. Die Wälder seiner Vorfahren waren längst Feldern gewichen und seine Rasse vom Aussterben bedroht. In Europa lebten noch 42, in Asien knappe 100 und auf dem Westkontinent vielleicht 60, aber den hatten die Zivilisationsmenschen der 4. Welt zum Glück noch nicht wiederentdeckt. In alten Zeiten hatte sein Volk auch Terra Africanum und die Südinseln bevölkert, doch die Klimaveränderungen gegen Ende der 3. Welt machten den wechselwarmen Geschöpfen das Leben schwer und so hatten sie sich in die gemäßigten Klimazonen zurückgezogen.
Rafnagurd streckte sich, schüttelte Eis und Schnee ab. Wie war er in diese vermaledeite Lage geraten? Er sah sich um. Nichts als schneebedeckte Berggipfel. Er lag mitten auf einem Gletscher, der in der Mittagssonne taute. Sein Brummschädel erinnerte ihn mahnend an das gestrige Gelage und er lächelte. Man sah seine Verwandten ja schließlich nur alle paar hundert Jahre. Er war in den frühen Morgenstunden zu seinem Rückflug aufgebrochen. Ein langer Flug war immer noch das beste Mittel, einen Kater zu vermeiden. Doch dann – über den Alpen – war ihm schlecht geworden. Vielleicht lag ihm auch eine der 4 Ziegen quer. Da war immer noch so ein flaues Gefühl im unteren Magen. Rafnagurd hatte entschieden, ein kleines Päuschen einzulegen und war gelandet, um ein Loch in den jungfräulichen Alpenschnee zu kotzen. Danach... was war danach geschehen? Filmriss.

Er spannte seine mächtigen Flügel, entfachte einen mittleren Schneesturm und bereute es sofort. Diese Gliederschmerzen! Er fühlte sich wie eingerostet. Dabei war 311 für einen Drachen kein Alter. Es half Alles nichts. Er musste hier weg, bevor sein schuppiger Arsch festfror. 72 Zähne fest zusammengebissen, erhob er sich stöhnend in die hellblaue Alpenluft, verfluchte den Tag seines Schlüpfens und schwor sich, nie wieder dalmatischen Wein zu trinken. Rafnagurd fand eine günstige Luftströmung und ließ sich seine müden Knochen von der Sonne wärmen. Merkwürdig! Die Sonne stand zu hoch für die Jahreszeit. Er war verwirrt. Musste der dicke Schädel sein. Doch was er als Nächstes sah, ließ ihn schlagartig nüchtern werden, wenn er es nicht schon vorher war. Er winkelte seine Schwingen an und ging in den Sturzflug. Blitzlandung auf einer Bergkuppe, hinter einem Felsen versteckt und hinunter ins Tal gespäht: “Das gibt’s doch gar nicht!”
Es mussten Römer sein, die Truppen in die germanischen Wälder verlegten. Doch sie sahen so seltsam aus. Viele bunte Streitwagen, die er in dieser Form noch nie gesehen hatte, rasten in aberwitzigem Tempo auf einer Straße dahin, die in ihrer Perfektion alles übertraf, was er an römischer Baukunst jemals bewundert hatte. Und diese Wagen fuhren ohne Pferde. Von solcher Zauberei berichteten die alten Sagen. Der 2. Welt war es gelungen, die Geheimnisse der Schwerkraft zu lösen, doch das Wissen darum war beim Atlantischen Krieg verloren gegangen. Weder die 3. Noch die 4. Welt hatten diese technologischen Leistungen auch nur annähernd erreichen können, obwohl einige der Maschinen noch bis vor wenigen tausend Jahren funktioniert hatten. Er betrachtete die Straße genauer. Dabei fiel ihm auf, dass der Verkehr in die Gegenrichtung fast genauso stark war. Es gab auch keine Fußtruppen. Das war ungewöhnlich für die Römer, die nie ohne Infantrieunterstützung anzugreifen pflegten. Waren das überhaupt Römer? Sein scharfes Auge prüfte die Insassen. Viele sahen wie Germanen aus, andere wie Kelten. Es waren Frauen darunter und sogar Kinder. Seltsam gewandet - er konnte nicht eine einzige römische Uniform entdecken. Bevor dieses Rätsel nicht gelöst war, schien es klüger, unbemerkt zu bleiben. Also hielt er sich fern von diesem seltsamen Verkehr und flog durch die benachbarten Täler weiter. Doch es dauerte nicht lang, und er stieß auf die nächste Straße. Sie war schmaler und kaum befahren, aber aus dem selben ebenen Material, das schwarz glänzte und geschliffener Kohle glich. Ein einzelner Zauberwagen glitt vorbei, seine elegante Form sanft geschwungen, fast wie ein Schiff. Silbern in der Sonne glänzend, schmückte stolz eine magische Rune in metallenem Kreis seinen Bug. Das musste ein Magus sein. Seltsame Zeichen am Heck fielen ihm auf. Lateinische Buchstaben, M – ST, und arabische Zahlen, 788. Diese Verbindung war ungewöhnlich. Sonst war kein Fahrzeug zu sehen. Rafnagurd beschloss, dem Magus in sicherem Abstand zu folgen. Drachen sind nämlich neugierig, ein Umstand, der nicht unwesentlich zu ihrem Aussterben beitrug...

Der Zauberwagen fuhr zu einem Berg und röhrte dabei die ganze Zeit wie ein Hirsch in der Brunstzeit. Nur dass Hirsche zwischendurch auch mal Luft holen. Als der Berg näher kam, nahm Rafnagurd Deckung in einem Hochwald, denn dort unten standen viele Zauberwagen und Menschen liefen durcheinander wie auf dem Jahrmarkt. Das wilde Treiben konzentrierte sich um ein Gebäude, das mit einem riesigen Apparatus verbunden war, der, einer Seilwinde nicht unähnlich, Römer, Germanen, Kelten und Slawen den Berg hinauf beförderte. Sogar einen Nubier sah er. Im ersten Augenblick drängte sich der Gedanke an eine Militäroperation auf, denn diese gemischte Truppe trug lange Schwerter mit sich. Doch was machten diese Irren damit? Kaum oben angekommen, befestigten sie die Schwerter irgendwie an ihrem Schuhwerk und rutschten damit den Berg hinunter. Mit Befremden bemerkte er, dass viele sich unten im Tal wieder einreihten, um dieses sinnlose Tun fortzusetzen. Sie fuhren hoch und wieder runter, hoch und wieder runter. Er kam zu dem Schluss, dass es sich hier um einen verrückten Sysiphus-Kult handeln musste, eine weitere Ausgeburt der realitätsfremden mediterranen Religionen. Langsam ging die Sonne unter. Dann das nächste Wunder: die Menschen zündeten Fackeln an. Diese Fackeln brannten grell wie kleine Sonnen und sie flackerten nicht einmal. Auch die Zauberwagen waren mit solchen Minisonnen ausgerüstet. Am Bug schienen sie weiß und erhellten dem Reisenden den Weg. Am Heck leuchteten sie feuerrot wie die Augen von Onkel Hergart, wenn er wütend war, wahrscheinlich um Feinde abzuschrecken. Die Sekte löste ihren geheimnisvollen Konvent auf und zerstreute sich in alle Winde. Einige saßen noch in dem Haus mit der großen Seilwinde, das wohl ihren Tempel darstellte, und unterhielten sich bei Speis und Trank. Rafnagurd glitt lautlos hinunter, um sie zu belauschen. Hatte ich schon erwähnt, dass Drachen neugierig sind? Hatte ich. Na gut.
Er landete auf dem Seil. Kalt. Es bestand aus Metall. Grauenhafte Musik drang aus dem Inneren des Tempels, obwohl keine Musiker zu sehen waren. Ein unsichtbarer Sänger verkündete in einem schwer verständlichen germanischen Dialekt, er sei so schön, er sei so toll, er sei der Anton aus Tirol. Ob er schön war, konnte Rafnagurd mangels Sichtkontakt nicht beurteilen, toll musst er auf jeden Fall sein, den Tirol war fest in römischer Hand und kein Germane würde es wagen, dort dumm herumzugröhlen, wollte er nicht als Sklave enden. Geredet wurde in verschiedenen Zungen, die sein feines Gehör zwar als romanische, germanische, und angelsächsische Mundarten erkannte, aber sie klangen so verfremdet, dass er nur einzelne Worte verstand. Niemand sprach Latein. Die Tür ging auf und ein junges Pärchen kam hinaus. Sie küssten sich und gingen kichernd zu ihrem Zauberwagen. Schamlos. Er verspürte wenig Angst, entdeckt zu werden. Menschen denken und bewegen sich zweidimensional. Deshalb schauen sie fast nie nach oben. Rafnagurd hatte genug gesehen. Diese Sysiphus-Sekte war ihm unheimlich. Er flog weiter nach Norden. In 2 Tagen sollte er das Gebiet seiner Schutzbefohlenen erreichen. Es war Zeit, sein eigenes Protektorat zu übernehmen. Papa war im Lenz 1.200 geworden und fühlte seine Zeit kommen. Ihm blieben höchstens noch 100 Jahre. Sein Vater war nicht mehr derselbe, seit Mutter gestorben war. Sie war zwar ein alter Drachen gewesen, aber Papa hatte sie abgöttisch geliebt. Ihre Verbindung war älter als Rom. Er kam nicht dazu, sich lang in Reminiszenzen zu ergehen, denn am Horizont zeichnete sich die nächste Überraschung ab und vertrieb jäh seine melancholischen Gedanken. Er hatte das Alpenvorland erreicht und blickte jetzt auf ein wahres Netz von Straßen, die, leuchtenden Perlenschnüren gleich, in der Ferne funkelten. Straßenbeleuchtung kannte er nur aus Rom. Was für ein Wunderland lag da vor ihm? Welche Zauberei war hier im Gange? Vor nicht einmal einem Monat hatte er dieses Gebiet überflogen. Zu diesem Zeitpunkt hatte hier wilder Urwald gewuchert, durchzogen von nur einer römischen Straße, die zu den Provinzen südlich des Limes führte. Jetzt rasten unzählige Zauberwagen unter ihm dahin, Siedlungen, wahre Orgien magischen Lichtes, säumten die Prachtstraßen, wohin das Auge blickte. Menschen. Überall Menschen. Sie lebten in Häusern, die sich sowohl durch Perfektion als auch durch den absoluten Mangel an Ornamenten auszeichneten. Eine funktionelle jedoch arme Architektur. Je weiter er nach Norden flog, desto mehr Siedlungen, um so größer die Städte. Dann der nächste Schock. Der Mond ging auf. Rafnagurd hatte seine Reise erst gestern angetreten. Bei Vollmond. Das hielten Drachen bei langen Flügen immer so, denn so ein Berggipfel verursachte ordentliche Kopfschmerzen, wenn man ihn zu spät bemerkte. Die Sicht war bei Vollmond einfach am besten. Das Nachtgestirn aber, das sich jetzt im Osten über den Horizont quälte, schien als mickrige zunehmende Sichel. Es musste also etwa 2 Tage nach Neumond sein. Zum ersten Mal seit ihn Mama von der Felsklippe geschubst hatte, um ihm das Fliegen beizubringen, verspürte er Furcht. Es lief ihm kalt den Schuppenschwanz hinunter. Das hier war nicht seine Welt. Es war nicht seine Zeit. Panik kroch in ihm hoch wie ein mächtiger, unaufhaltsamer Rülpser. Fast hätte er nicht mehr ausweichen können. Im letzten Augenblick zog er hoch und nur seine Klauen streiften die heimtückischen Kabel. Er sah sich um. Riesige Masten standen dort, verbunden mit vielen Seilen, die man in der Dunkelheit kaum erahnen konnte: Drachenfallen! Nichts wie weg! Er drehte ab nach Südwesten. Vielleicht konnte man dieses drachenfeindliche Zauberland umfliegen. Rafnagurd hielt sich am nördlichen Alpenrand und folgte dem Gebirge nach Westen. Die halbe Nacht. Doch das Reich des Wunderlichtes schien keine Grenze zu haben. Er wurde müde. Besser, sich rechtzeitig einen Schlafplatz zu suchen, der abseits der Lichterstraßen lag. In einer eleganten Kurve schwang er nach Süden, um sich in die Alpen zurückzuziehen. Als wechselwarmes Reptil war es nicht ratsam, oberhalb der Schneegrenze zu campieren. Seine immer noch steifen Glieder erinnerten ihn schmerzhaft daran, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Nach einer Weile entdeckte er eine Hochalm, die geeignet schien. Kein Licht weit und breit. Unser schuppiger Freund fühlte sich verwirrt, verängstigt und allein. Er landete am Rand der Alm. Hier boten ein paar Bäume Schutz vor dem kalten Wind. Er rollte sich zusammen und schlang die großen ledrigen Flügel wie eine Decke um seinen Leib. Seine Gedanken rasten. War all das ein böser Zauber? Oder hatte er nur geträumt? War es der dalmatische Wein? Rafnagurd kam nicht dazu, diese Frage zu erörtern. Sein erschöpfter Körper war sofort eingeschlafen.

Leere am Horizont. Er flog, so schnell er konnte. Er flog vor etwas davon. Heillose Flucht. Wovor? Das wusste er nicht. Wohin? Das wusste er erst recht nicht. Vor ihm lag eine endlose Steppe. Kein Ausweg. Er war der einzige Drache auf der großen weiten Welt. Der Letzte seiner Art. Ihn verließen die Kräfte. Er sank zu Boden und atmete keuchend den rötlichen Staub ein. Plötzlich hörte er das Geheul. Ein Wolf. Hoffnung keimte auf. Er würde noch einmal all seine Kraft mobilisieren und den Wolf erlegen. Nahrung. Kraft. Ein Ausweg. Doch da war noch ein Wolf. Er hörte ihn knurren. Ein dritter. Und noch einer. Eine ganze Meute. Sie hatten ihn umzingelt. Er war verloren. Das Knurren wurde lauter. Zähnefletschen. Wütendes Gebell...

Rafnagurd schreckte hoch. Wer? Was? Wo war er? Das Gebell hörte nicht auf. Schlaftrunken schüttelte er sich. Majestätische Gipfel, prachtvoller Sonnenaufgang, eine saftig grüne Hochalm und hysterisches Gekläffe. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Dieser Meinung war auch der Hirtenhund und ließ nicht nach, seiner Empörung ob des sonderlichen Fremdlings weiterhin lautstark Ausdruck zu verleihen. Der Fremdling war genervt, denn er litt immer noch unter Kopfschmerzen, denen lautes Gebell in seine empfindlichen Ohren nicht gerade zuträglich schien, und in ihm reifte der Plan diese Fell gewordene Lärmbelästigung zum Frühstück zu verputzen, als er eine Stimme vernahm. “Was ist denn los, Lauser? Ich komm ja schon.” Der Drache stutzte. Das war Rhetoromanisch, eine der 18 Zungen und 44 Dialekte, die er fließend verstand. Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ein kleines Mädchen tauchte plötzlich auf und guckte genau so dämlich wie er. Peinliche Situation. Der Hund hörte auf, zu kläffen, rannte zu dem Mädchen, leckte ihre Hand und winselte unsicher. Nachdem die drei sich eine endlose Minute lang blöd angegafft hatten, brach unser geflügelter Protagonist das Schweigen: “Man nennt mich Rafnagurd. Ich bin auf der Durchreise. Darf ich wagen, nach eurem Namen zu fragen, holdes Fräulein?”
Mit der allen Kindern eigenen Gabe, sich in absolut verrückten Situationen absolut normal zu verhalten, kicherte sie, machte einen höflichen Knicks und sagte: “Ursula.”
“So so, die kleine Bärin. Ich muss mich doch nicht fürchten, oder?”
Ursula kicherte erneut: “Nein. Du brauchst keine Angst zu haben. Bist du ein Drache?”
“Das habt ihr wohl erkannt, Fräulein Ursula.”
“Ich dachte, Drachen gibt es nur im Märchen.”
“Dies ist ein Märchen! Sagt, Ursula, was macht ihr hier?”
“Spazieren gehen, Blumen pflücken, Fernsehen... Es sind Sommerferien.”
Rafnagurd kannte keine Sommerferien, doch offensichtlich war es die Zeit für kleine Menschenkinder, um spazieren zu gehen, Blumen zu pflücken und in die Ferne zu sehen. “Wo lebt eure Familie?”
“Drunten im Tal. Du kannst unseren Hof von hier aus erkennen.” Tatsächlich. Er sah ein Gehöft, das ihm gestern Nacht entgangen war, aber keine schwarze Straße und keine Zauberwagen. Vielleicht konnte ihm dieses freundliche Menschenkind weiterhelfen: “Ich fürchte fast, ich weiß nicht genau, wo ich bin. Wie nennt man dieses Land? Und kennt ihr die Länder nördlich von hier?”
“Wir sind in der Schweiz. Nördlich von hier liegen Frankreich und Deutschland.”
Schweiz, Deutschland, nie gehört; und dass die Franken, ein unbedeutender germanischer Volksstamm, ihr eigenes Reich gegründet hatten, war ebenfalls absurd. Das war kein böser Traum mehr. Rafnagurd befand sich eindeutig im falschen Film, auch wenn der seiner Meinung nach noch gar nicht erfunden war. Verzweifelt startete er einen letzten Versuch, sein Leben irgendwie mit dieser verzerrten Realität in Einklang zu bringen: “Ist Julius Caesar noch Imperator von Rom?”
Ursula war 10 und ging in die 5. Klasse. Caesar hatten sie zwar noch nicht durchgenommen, aber sie kannte ihn aus Asterix-Comics: “Der hat vor ganz langer Zeit gelebt, vor 100 oder 1000 Jahren oder so. Weiß ich nicht so genau. Aber es ist lange her. Die Gallier haben die Römer immer verprügelt”
Die Gallier hatten also mit ihren ständigen Rebellionen Erfolg gehabt und ein eigenes Reich gegründet. Das war bemerkenswert. Noch bemerkenswerter war die Tatsache, dass ihm in seiner Erinnerung offensichtlich 100 oder 1000 Jahre fehlten. Oder so. Wie konnte das sein? Er kramte noch mal in seinem Kurzzeitgedächtnis. Also er flog über die Alpen. Ihm wurde schlecht. Er landete und bereicherte die Landschaft um einen großen Haufen Drachenkotze. Und dann? Da war ein Vibrieren, ein Grollen. Plötzlich sah er es vor seinem gesitigen Auge. Das Grollen kam wider Erwarten nicht aus seinem versoffenen Schädel. Es stammte von einer weißen Wand aus Schnee, die auf ihn nieder raste. Dann riss die Erinnerung ab. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen (alter Drachenspruch): Eine Lawine! Sein grauenhaftes Würgen hatte eine Lawine ausgelöst. Die einzige Erklärung. Sie schien so bescheuert, wie manchmal nur die Wahrheit sein konnte. Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende war er eingefroren gewesen. Daher die steifen Glieder. Verdammt!
“Du schaust so traurig. Hast du dich verlaufen? Findest du nicht nach Hause?”
Das traf die Sache auf den Punkt: “Ich habe kein Zuhause. Ich habe niemanden”
Der Drache tat ihr Leid: “Du hast mich. Lass uns Freunde sein!” Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sich Ursula auf sein rechtes Vorderbein und tätschelte aufmunternd seinen langen Hals. Die Geste rührte ihn: “Ihr seid zu gütig.”
“Und ihr Drachen riecht aus dem Mund.”
Rafnagurds dröhnendes Lachen hallte durch die Alpen. Der Hirtenhund, der sein anfängliches Mißtrauen überwunden und begonnen hatte, neugierig an ihm zu schnüffeln, klemmte den Schwanz zwischen die Hinterbeine und stellte den alten Sicherheitsabstand wieder her. Das Lachen war ansteckend, also fiel Ursula mit ein. Ein kleines Glöckchen und eine riesige Basstrommel.
“Wo kommst du her und was machen Drachen so?”, wollte sie wissen.
Die Frage war nicht so leicht zu beantworten. Doch da Rafnagurd nichts Besseres zu tun hatte, erzählte er Ursula die Geschichte der Drachen: “Die 1. Welt wurde von uns Drachen beherrscht, doch sie wurde durch Feuer, das vom Himmel fiel, zerstört. Die Sonne war viele Jahre nicht zu sehen, die Meisten meines Volkes gingen zugrunde. In der 2. Welt übernahmen die Warmblüter das Zepter, allen voran die Atlanter, ein Menschenstamm. Sie lebten auf einem Inselkontinent, der noch westlich des Westkontinentes lag...”
“Du meinst westlich von Amerika?”
“Kann sein, dass das jetzt so heißt. Sie waren ein sehr fortschrittliches Volk. Ihre Städte wuchsen in den Himmel. Sie bauten großartige Maschinen, die fliegen und auch die riesigste Last schwerelos befördern konnten. Sie vermochten den härtesten Granit wie Butter zu schneiden und über große Strecken mitteinander zu sprechen. Es existierten noch viele andere Völker, doch sie lebten so primitiv wie in der 1. Welt. Die Bewohner von Atlantis wurden von ihnen als Götter verehrt. Wir Drachen lebten in Frieden mit den Atlantern, doch Menschen können Frieden untereinander nur schwer bewahren. Es kam zum Krieg. Leider waren die Waffen der Atlanter so hochentwickelt wie ihre Kultur. Sie bekämpften einander mit unsichtbaren Wellen des Schalls, die ihre Körper zerplatzen liessen. Eine grausame Waffe. Man bekam davon noch Kopfschmerzen, wenn man hunderte von Meilen entfernt war. Die Erde begann zu beben. Als der Krieg den Höhepunkt erreicht hatte, brach der Inselkontinent auseinander und versank im Meer. Um ihn herum entstand der Ring des Feuers, dessen Vulkane sich heute noch nicht beruhigt haben. Atlantis und all seine Wunder waren zerstört, doch einige Atlanter konnten entkommen. Die 3. Welt war die Zeit ihrer Diaspora. Die Ära der Verwirrung. Die überlebenden Atlanter flohen nach Osten zum Westkontinent, den ihr Amerika nennt. Sie wollten sich dort niederlassen, doch sie wurden von eingeborenen Stämmen vertrieben. Über das Mare Atlanticum gelangten sie nach Terra Africanum. Einige sollen sogar bis zum Dach der Welt gekommen sein. Es war die Zeit der großen Völkerwanderungen und Kriege. Wir wurden auch hineingezogen. Die Drachen in Mittelwald mussten ihr Territorium gegen Menschenstämme verteidigen, die wie Ameisenheere aus dem Süden und dem Osten in ihren Lebensraum strömten. Es waren zu viele. Wieder starben die Meisten von uns. Die 3. Welt wurde durch Eis zerstört, das von Norden und von Süden kam. Mittelwald wurde von Kilometer hohen Gletschern platt gewalzt. Fast alle Wesen – Menschen, Tiere und Drachen drängelten und prügelten sich rund ums Mare Mediterraneum, das damals fast ausgetrocknet war. Zu Beginn der 4. Welt schmolz das Eis und die Meere wurden wieder größer. Die Eiszeit hatte alle Völker in ihrer Entwicklung weit zurück geworfen, doch das interessierte uns nicht. Die Kultur der Drachen bestand nie in Dingen, Gebäuden oder Technologie. Die Wälder waren voller Rotwild, Wölfe, Wildschweine. Das und der Himmel war alles, was wir zum Leben brauchten. Unsere Kultur widmete sich der Philosophie, der Magie und der Natur. Als die Gletscher sich zurückzogen und Mittelwald frei gaben, kehrten auch wir zurück, während die Menschen am Mare Mediterraneum sich in Ackerbau und Viehzucht versuchten und die Nachfahren der Atlanter sich mit den wenigen Maschinen, die sie aus der 2. Welt gerettet hatten, Denkmäler setzten. Auch wenn es weiterhin nomadisierende Völker gab, stellte die Zivilisation, wie die Römer es nennen, den entscheidenden Fortschritt dar. Aus Lagern wurden Dörfer, aus Dörfern Städte. Reiche entstanden, das der Nubier, der Ägypter, der Griechen und neuerdings der Römer. Dafür musste man munter Krieg führen. Im Gegensatz zu uns Drachen, die weitgehend Einsamkeit vorziehen, seid ihr Menschen Rudeltiere. Durch diese Zivilisation wurden eure Rudel immer größer. Ein Rudel dehnte sein Territorium aus, bis es an die Grenzen eines anderen Rudels stieß und dann gab es Keile, bis ein Rudel unterlag. Diese Denkart ist uns fremd, aber wir vermehren uns auch nicht so schnell wie ihr. Viele unterlegene Rudel, äh Stämme, mussten ihren Lebensraum im Süden und im Osten aufgeben. Sie zogen umher und einige ließen sich in Mittelwald nieder. Da sie uns Drachen als gefährliche Monster betrachteten – in der 4. Welt war das alte Wissen bereits verloren – wurde manch ein Drache im Schlaf gemetzelt und manch ein vorwitziger Mensch bereicherte unseren Speiseplan. Doch so konnte es nicht weitergehen. Ihr wart so viele und eure Zahl nahm ständig zu. Wir waren nur noch so wenige und unsere Zahl sank. Da beschloss der Rat der Tausendjährigen von Mittelwald, Frieden mit den Menschen zu schließen. Das war leichter gesagt als getan. Wir sprachen die Zungen der Menschen, doch manch ein Friedensangebot endete im Fiasko, weil die Menschen uns entweder angriffen oder schreiend wegliefen, kaum dass sie einen von uns erblickten. Aber nach und nach gelang es uns, Bündnisse mit einzelnen Stämmen zu schließen. Wir hielten Wölfe, Berglöwen und Bären von ihren Behausungen fern. Das war nicht allzu schwierig, denn kein Drache schlägt ein gutes Mahl aus. Im Gegenzug ließen sie uns in Ruhe, spendierten in kalten Wintern sogar die eine oder andere Ziege oder Kuh. Abgesehen von einigen notorischen Einzelgängern, die nach Osten zogen, war bald jeder Drache Lordprotektor eines menschlichen Stammesfürsten in Mittelwald. Unsere einzige Bedingung war, dass man uns nicht in ihre dummen Kriege hineinzog. Diese Symbiose funktionierte einige tausend Jahre ganz gut. Es gelang, in Harmonie mit den Menschen zu leben.”
“Stimmt es, dass ihr Drachen Feuer speien könnt?”
Rafnagurd grinste, was Lauser, den Hirtenhund, ängstlich aufjaulen ließ. Dann schüttelte er den Kopf: “Dieses Gerücht hat also die Geschichte überdauert. Ich will berichten, junge Maid, wie es dazu kam. Ich erzählte euch bereits, dass wir Bündnisse mit einigen Stämmen schlossen. Wir lernten sogar, bestimmte menschliche Erfindungen zu schätzen, wie die Weinkelterei und das Rösten eines Tieres über dem Feuer, obwohl das nicht jedem bekam. Wie zum Beispiel, Isgart, meinem Ururgroßvater mütterlicherseits, der diese Legende auslöste. Er war der Lordprotektor eines nordgermanischen Stammes, der vor langer Zeit am Mare Balticum lebte. Ein Rudel Schneewölfe war in ihr Land eingefallen, riss ihr Vieh und bedrohte das Volk. Isgart bat den Stammesfürsten um eine Ziege, die er ausserhalb des Lagers an einen Pflock binden sollte. Er hockte sich auf eine hohe Eiche, bis die Wölfe dem ängstlichen Meckern des Zickleins nicht mehr widerstehen konnten. Dann stieß er im Sturzflug hinunter und biss dem Leitwolf den Kopf ab. Es wurde ein harter Kampf und Isgart trug einige Wunden davon, aber am Ende liessen 6 Wölfe ihr Leben. Der Rest der Meute floh, um niemals wiederzukehren. Nachdem mein Ururgroßvater die 6 Wölfe nebst Ziege verputzt hatte – das arme Tier starb an Herzversagen – und zum Lager zurückgekehrt war, feierte man ihn als Helden und Retter des Stammes. Es wäre beleidigend gewesen, den Ochsen abzulehnen, den man ihm zu Ehren röstete. Das wilde Gelage dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Kurz vor Sonnenaufgang geschah es. Das gemeine Volk war längst zu Bett gegangen. Nur die Ältesten und der Stammesfürst saßen noch am Lagerfeuer. Sie hatten die Weinschläuche geplündert, sich selbst gefeiert und den Ochsen vernichtet, eine schwierige Arbeit, bei der Isgart den Löwenanteil bewältigt hatte. Das rächte sich, denn als der 8. Warmblüter endlich vertilgt war, musste er fürchterlich aufstoßen. Das Gas, welches von seinem oberen Magen so vehement in die Freiheit drängte, erwies sich als hoch brennbar. Isgart rülpste also gewaltig ins Lagerfeuer, eine Stichflamme schoss aus seinem Rachen, setzte 2 germanische Bärte in Brand und versengte ein Dutzend Augenbrauen. Man glaubte seinen Beteuerungen, dies sei keine Absicht gewesen und nahm seine Entschuldigung an. Die Bärte waren schnell gelöscht, niemand ernsthaft zu Schaden gekommen, doch die Legende, Drachen könnten Feuer speien, verbreitete sich schneller als unsereins zu fliegen vermag.”
Ursula kicherte: “Das ist lustig, hi hi.”
“Ho ho ho, stellt euch vor, mein Ururgroßvater hätte furzen müssen! Ho ho, das hätte Tote gegeben, ho ho ho! Welches Märchen daraus wohl entstanden wäre, ho ha ha hu!”

Ursula war glücklich. Dieser Drache machte ihr viel Spaß. Er brachte sie zum Lachen. Sie öffnete ihren Rucksack und holte die Brotzeit heraus: “Hast du Hunger?”
“Nein, danke. Ich habe erst vor 2 Tagen reichlich gegessen. Oder vor 2000 Jahren, wer weiß das schon so genau. Drachen kommen mit 2 bis 3 Mahlzeiten pro Woche aus. Aber bitte, mein junges Fräulein, erzählt mir von eurer Welt! Wie ist es den Menschen ergangen?”
Das Mädchen kaute an einer dicken Brotrinde und biss grübelnd in ihren Käse: “Fast alle Menschen leben in Städten. Ich mag Städte nicht. Sie sind laut und die Luft stinkt. Unsere Familie lebt in der kleinen Gemeinde dort unten. Wir halten Schafe, Ziegen, Kühe und Bienen. Gemüse und etwas Getreide bauen wir auch an. Wir haben nicht viel Geld. Das wenige vom Verkauf der Wolle reicht kaum aus, aber wir haben genug. Mein Papa macht den besten Käse weit und breit. Ich weiß nicht viel von der Welt, aber das hier könnte dir helfen..”
Sie holte einen kleinen Kasten aus dem Rucksack, dessen Vorderseite gläsern glänzte. Dann zog sie einen Metallstab aus dem Kasten und drückte mit dem Finger auf einen roten Kreis: “Ich komme manchmal zu Fernsehen hier hoch. Drunten im Tal kann man kaum etwas empfangen. “Funkloch.”, sagt der Papa. Hier oben kann man sogar italienische Programme sehen.”
Rafnagurd erschrak, denn in dem Kasten erschien plötzlich das Bild einer Frau im Schneesturm. Ursula bewegte den Metallstab und das Bild wurde klar. Die Frau sprach in einem kaum verständlichen romanischen Dialekt – und sie blickte ihn an. Potzblitz! Das Mädchen besass eine magische Kristallkugel. Sie war zwar nicht rund, doch sie funktionierte einwandfrei. Ihm kam ein Verdacht: “Seid ihr eine Zauberin?”
Ursula lachte: “Nein. Das ist doch nur ein Fernseher. Dreh an dem Rad hier und du bekommst verschiedene Sender. Die Batterien halten etwa 4 bis 5 Stunden. Ich muss zurück nach Hause, sonst macht Mama sich Sorgen. Ich komm dich heute Nachmittag noch mal besuchen und hol ihn ab. Machs gut! Bis nachher.”

Ursula hüpfte fröhlich ins Tal hinunter, wobei ihre langen, blonden Zöpfe lustig herumtanzten. Lauser, ihr Hund, sprang schwanzwedelnd nebenher, glücklich, einen völlig verdatterten Drachen mit einer Sinnkrise und einem portablen Kleinfernseher auf einer malerischen Hochalm zurückzulassen.

Rafnagurd konnte mit dem italienischen Frühstücksfernsehen nicht viel anfangen. Er spitzte eine Kralle und drehte vorsichtig an dem Rad. Da saßen 7 Menschen auf 7 Stühlen und schrien sich an. Ein Mann stand vor ihnen und stellte kurze Fragen, woraufhin die Menschen sich noch lauter anschrien. Wieso stellte man die Stühle nebeneinander, so dass die Menschen sich gar nicht vernünftig unterhalten konnte? Warum klatschten und johlten die Zuschauer, wenn ein Mensch den anderen besonders laut angeschrien hatte? Er drehte noch mal am Rad. 4 Leute auf 4 Stühlen stritten sich in einer anderen Sprache. Eine Frau mit sehr roten Lippen stellte hier die Fragen, doch auch sie schien den Streit nur anzuheizen. Er drehte weiter. Ein einzelner Mann. Er sprach ruhig und freundlich in einer germanischen Zunge, so dass Rafnagurd vieles verstehen konnte. An einer blauen Wand hinter ihm erschienen schreckliche Bilder. Kriege, Überschwemmungen und Waldbrände. Der Mann fuhr lächelnd fort, von den Katastrophen des Tages zu berichten, während hinter ihm Landkarten eingeblendet wurden, um zu zeigen, welche Katastrophe gerade wo statt fand. Dann sagte er das Wetter voraus. Rafnagurd drehte weiter am Rad...
* * *

Das Gebell riss ihn aus seinen Gedanken. Die Sonne hatte ihren Zenit weit überschritten. Die Zeit war schnell vergangen. Ursula und ihr lebendsmüder Hirtenhund waren zurückgekehrt: “Hör auf, zu kläffen, Lauser! Ganz ruhig. Der tut dir nichts.”
Wenn sie sich da mal nicht zu sicher war. Rafnagurd hätte einen kleinen Snack durchaus vertragen können. Der Hund schien diese Gedanken zu erahnen, stellte die akustische Umweltverschmutzung ein und legte sich in sicherem Anstand hin, um den Drachen zu beobachten. Ursula blickte neugierig zu ihm auf: “Hast du was über unsere Welt gelernt?”
“Das habe ich. Vielen Dank für euren Zauberkasten! Ich muss jetzt gehen.”
Das Mädchen zog eine enttäuschte Schnute: “Aber ich dachte, wir wären Freunde. Kommst du mich wenigstens mal besuchen?”
“Vielleicht – irgendwann. Ich muss jetzt weiter. Es war eine Ehre, eure Bekanntschaft zu machen, holde Maid. Lebt wohl! Ich werde euch nie vergessen.”
“Ich dich auch nicht.”, erwiderte sie mit trauriger Stimme. Dicke Tränen füllten ihre Augen. Die Oberflächenspannung hielt der Schwerkraft nur einen Moment stand, dann ergossen sich zwei kleine Rinnsale über rosige Wangen. Der Drache breitete seine Schwingen aus und erhob sich mäjestätisch in die Luft. Lauser winselte ängstlich, Ursula winkte. Sie winkte noch lange nachdem er hinter dem nächsten Berg verschwunden war.

Er war der Letzte seiner Art. Sein Entschluss stand fest. Er suchte sich einen steilen, schneebedeckten Hang aus und landete an dessen Fuß. Mit seinen starken Klauen grub er ein tiefes Loch in den Schnee. Nach etwa 25 Ellen stieß er auf Fels. Egal. Das musste reichen. Dann erhob er seine mächtige Stimme. Sein Ruf hallte weit durch die Alpen. Es war ein trauriger Gesang, ein Klagelied. Auch Trotz und Wut klangen mit: “Hört mich, ihr Berge! Hör mich, o Sonne! Hör mich Himmel! Ich lebe!”

Die Melancholie wich einer inneren Ausgeglichenheit, als er das Grollen der Lawine vernahm. Er ließ sich in das Loch gleiten und gedachte seiner Ahnen. In dieser Welt war kein Platz für Drachen. Vielleicht in 100 oder 1000 Jahren. Oder so. Rafnagurd lächelte.

Dann war da nur noch Kälte. Und Dunkelheit.
 



 
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