Der neue Sommerwein

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krokotraene

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Sabrina hält das Weinglas mit beiden Händen fest umschlungen. Ihr Blick wandert durch die Runde. Die kleine, feine Gesellschaft ist um die alten Weinfässer versammelt. Jeder Teilnehmer hält ein Glas in Händen und der Winzer hält große Reden über seine Weine.

Sabrinas Freundin hat sie dazu überredet. Eine Weinverkostung würde sie nach der Trennung von ihrem Freund auf andere Gedanken bringen. Missmutig ist sie mitgefahren. Sie, die Wein gerade an der Farbe unterscheiden kann beobachtet nun die Weinkenner und lauscht deren Ausführungen. Akribisch beobachtet sie die Bewegungen und Gesten der Anderen, da fällt ihr Blick auf den jungen Mann, der die Weingläser befüllt. Eine stattliche Erscheinung, groß, braungebrannt, muskulös und mit einem sanftem Lächeln im Gesicht. Ihre Augen verfolgen jede Bewegung, jedes Lächeln, jedes elegante Einschenken in die Weingläser der Teilnehmer der Weinkost. Hin und wieder verharrt er kurz bei einem der Gäste und plaudert angeregt mit diesem. Sabrina ist sich sicher, er kann nur der Sprößling des Winzers sein. Der junge Mann hat es ihr angetan, doch wie sollte sie mit ihm ins Gespräch kommen? Über Weine konnte sie wohl kaum mit ihm plaudern.

"Weinbeschreibungen sind wie Poesie und die Texte beflügeln unsere Phantasie. Es ist wie mit einem guten Buch, das uns gefangen nimmt oder bist du anderer Meinung?", ein junger Mann mit dicker Nickelbrille, Ziegenbart und stahlblauen Augen sowie fettigen Haaren steht vor Sabrina. "Na schöne Frau, darf ich Dich auf ein Gläschen Gewürztraminer Spätlese einladen? Er beschreibt genau Deine Schönheit, gewürzt mit zarten Rosennoten, begleitet von feinen Gewürzen und verführerischer Süsse, weich und füllig!" Er grinst sie breit an und sein Lächeln gibt eine unappetitliche Zahnlücke frei. Sabrina versucht sich aus dieser Situation zu befreien. Sie stammelt leise vor sich hin: "Tut mir leid, aber ich bin schon fix vergeben!" Sie bemüht sich so leise wie möglich zu sprechen, damit ihr auserwählter Blickfang, der junge Winzer, ihre Worte nicht hören kann.

Ihre Freundin kommt gerade richtig und rettet die peinliche Situation: "Komm, Du mußt unbedingt den Rosé Zweigelt probieren. Himbeer-Erdbeerduft, erfrischender, traubiger Geschmack, jugendlich, charmant und lebendig. Der Wein paßt hervorragend zu uns beiden und läßt Dich Deinen Kummer vergessen! Der wird Dir sicher schmecken!" und schon schenkt sie in Sabrinas Glas etwas von der neuen Errungenschaft. Sabrina stürzt den Inhalt des Glases in einem Zug hinunter. "Schätzchen", ihre Freundin lacht herzlich, "aber doch nicht so! Hast Du noch nie bei einer Weinverkostung teilgenommen?" Sabrina schüttelt den Kopf. "Schau", ihre Freundin dreht und wendet elegant das Glas in ihren Händen. "Siehst Du die Schlieren, die am Glas hinunterlaufen?" "Mhmm!", Sabrinas Blick hat wieder den jungen Mann eingefangen. Sie hält ihn ganz fest, ihre Gedanken schweifen ab. Wie könnte sie seine Aufmerksamkeit erreichen? Der Mann wäre wirklich ihr absoluter Traummann, aber sie hat ja keine Ahnung von Wein. Unbeholfen schwingt sie ihr Glas hin und her und prompt schwappt der Rebensaft aus dem Glas. "Da müssen wir noch üben!" ihre Freundin lacht sie schon wieder aus. "Komm, wir fahren. Die Weinverkostung ist vorbei." Sabrina ist enttäuscht, sie hat die Chance den Mann ihrer Träume anzusprechen nicht genützt. Sie schallt sich selbst, wieso sie plötzlich so schüchtern und unbeholfen ist. Wieso hat sie ihm nicht einfach angesprochen?

"Wenn Du willst, dann nehme ich Dich nächstes Monat wieder mit!", ihre Freundin bringt ihr die erlösende Idee. "JA, JA, JA!", Sabrina ist außer sich vor Freude. "JA! Sofort!" Ihre Freundin steht ihr verdutzt gegenüber, sie kann sich die plötzliche Euphorie nicht ganz erklären.

Sabrina setzt sich zuhause sofort an den Computer. Sie muss so rasch wie möglich alles über österreichische Weine lernen. `In Österreich sind 22 weiße und 13 rote Rebsorten für die Produktion von Qualitätswein oder Qualitätswein besonderer Reife und Leseart (Prädikatswein) sowie von Landwein zugelassen`, Sabrina stöhnt, wie sollte sie das alles in so kurzer Zeit erlernen?

Sie stöbert weiter, alleine die geschmacklichen Unterschiede bringen sie an den Rande der Verzweiflung. Von pfeffrig würzig, feinem Aroma, feinem Burgunderbukett, jugendlich, feinen Fruchtelementen, schwarze Fruchtaromatik, samtigen Tannin und komplexen Struktur steht da geschrieben. Sie liest tagelang über grünen Veltliner, Muskateller, Traminer, Sylvaner, Neuburger, Rotgipfler, Weißburgunder, Welschriesling, Blauburger, Blauen Portugieser, Zweigelt, Cabernet Sauvignon, Merlot und einer Menge an Süßweinen. Sie studiert Klima und Boden, lernt Fachbegriffe und findet stets neue Sorten und Unterscheidungen.

Sie weiß nicht, wie oft sie verzweifelt und vollkommen erledigt über dem Computer eingeschlafen ist. Ihre Freunde hat sie vertröstet und auf später verschoben. Sie sei an einer "großen Sache" dran, hat sie bei jedem Telefonat in den Hörer geflötet. Ihre Freunde mögen doch verstehen und verzeihen. Im Büro hat sie sich auf das Wesentliche beschränkt und der Haushalt mußte einfach warten. Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Abwasch, der Wäschekorb quillt über. Schweißgebadet erwacht sie frühmorgens aus ihren Träumen, in welchen sich weiße mit roten Weintrauben um die besten Lagen streiten.

Sie probiert verschiedene Gläser. Tagelang übt sie das vorsichtige und perfekte Schwenken und studiert die Schlierenbildung. In ihrer Wohnung stapeln sich leere Flaschen von diversen Winzern in ganz Österreich. Sie könnte ein Museum für Weinkorken eröffnen. Mit großer Aufregung fiebert sie den Tag der Weinverkostung entgegen. Sie würde ihrem Traummann begegnen, mit ihm fachsimpeln, eine Privatführung in die Tiefen des Weinkellers erhalten. Neben dem größten und ältesten Weinfass wird er um ihre Hand anhalten.
"Komm, wir müssen los!", ihre Freundin wartet an der Tür. Der große Tag beginnt für Sabrina. Heute beginnt ihre neue Zukunft.

Die Gruppe steht wieder um die Weinfässer versammelt, der erste Sommerwein wird kredenzt. Der junge Mann schenkt elegant die Gläser ein. Sabrina kramt in ihren Erinnerungen und legt mit ihrem Fachwissen los. Gekonnt schwenkt sie das Glas und kostet perfekt, spukt aus und erklärt entzückt und verklärt, was sie alles herausschmeckt. Der junge Mann schaut sie liebevoll an. Er nimmt sie auf die Seite: "He schöne Frau, darf ich Dich heute zum Abendessen einladen? Letztens warst du so schnell weg und ich habe immer gehofft, Du kommst eines Tages zurück" Sabrina kann ihr Glück nicht fassen, es hat funktioniert.

"Aber lass bitte das Fachchinesisch, ich verstehe nichts von Weinen", setzt er fort, "ich bin der Sohn vom Schlosser nebenan und helfe dem Freund meines Vaters bei seinen Weinverkostungen einfach nur aus!"
 



 
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