Der rothaarige Gitarrist

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Ximo

Mitglied
Bis zum Abgabetermin verblieb nur noch wenig Zeit. Ich nahm das Telefon und rief Matti an.
"Hallo, Du, hör mal, ich muss in sieben Tagen eine Kurzgeschichte fertig haben, die ich meiner Freundin vortragen muss. Aber ich habe kein Thema! Mir fällt nichts ein."
Ich hörte, wie Matti seinen Tabakbeutel bemühte, während er gleichzeitig mit mir sprach: "Na, dann schreib doch einfach über deine Schreibblockade, so nennt man das doch, oder?"
Wie originell! Wie oft wohl schon haben Leute über ihre Schreibblockade geschrieben, dachte ich, und sagte: "Na toll. 'Ich habe eine Schreibblockade. Ich habe ja noch nicht einmal eine Idee. Es fällt mir nichts ein.' Und weiter?"
Matti zündete offenbar seine frisch gedrehte Zigarette an. "Ja, stimmt, ist schwierig, kommt nicht viel zusammen, ne? Aber sag mal, wieso musst du ihr denn eine Geschichte schreiben?"
Ich erklärte: "Weil wir aus einer Wein-Laune heraus vereinbart haben, dass jeder bis zum 15. Dezember eine Geschichte schreibt, die wir uns dann gegenseitig vorlesen. Egal was, Genre egal, Hauptsache, es ist einigermaßen interessant. Nicht mehr als drei DIN-A-4-Seiten."
"Schöne Idee eigentlich".
"Ja, und ich will nicht versagen. Stell dir vor, sie hat eine Geschichte und ich nicht. Das ist wie Weihnachten, wenn dir jemand was schenkt, und du stehst mit leeren Händen da, weil du darauf vertraut hast, dass man sich diesmal nichts schenkt."
"Ja gut, ich rufe mal Javier an, vielleicht weiß der was. Ich rufe dich gleich zurück."
Zehn Minuten später klingelte das Telefon.
"Hallo Jan, ich habe mit Javier gesprochen. Er meinte, es gäbe einen Laden in Valencia, wo man dir helfen könnte. 'Plot Point' nennt der sich und ist in der Straße B. Nr. 15. Die verkaufen wohl Text-Ideen. Soll aber nicht ganz billig sein."
"Hey, das klingt ja super! Muchas gracias, amigo. Da gehe ich hin! Ich halte dich auf dem Laufenden."

Ich sprang unter die Dusche und genoss das heiße Wasser. Wenn das was wird mit dem Laden, dann bin ich gerettet. Ich beschloss, die Straße B. zu Fuß aufzusuchen. Die letzten Fahrten mit dem Bus hatten mich nicht sonderlich inspiriert. Über Menschen zu schreiben, die mit spitzen Fingern ihr Smartphone bearbeiteten und es dann in der Regel anlächelten, wäre ja wohl zu abgedroschen. Auch keine abstürzenden Flugzeuge und auch keine Geschichte über den talentlosen rothaarigen Gitarristen, den wir fast täglich von unserer Terrasse aus "genießen" können, müsste ich erfinden. Ich würde einfach eine gute Story kaufen!

Als ich an der besagten Straße ankam, wurde mir bewusst, dass ich noch nie zuvor hier war. Ein Frisör, eine Bäckerei, eine Kneipe, ein Handy-Laden und ein China-Basar waren die ganz normalen Zutaten einer typischen Straße in der valencianischen Innenstadt, dann kam die Nummer 13, ein Beweise-Fachhandel, und daneben, wie erhofft, der 'Plot Point'. Mit Schwung wollte ich eintreten, doch die Tür war verschlossen. Natürlich, man muss erst klingeln. Nach einer halben Minute sah ich durch die Glastür einen mittelgroßen Asiaten auf mich zukommen. Er schloss auf, öffnete die Tür und begrüßte mich warmherzig mit ausgestreckter Hand.
"Buenos días, qué tal?"
"Hola buenas", erwiderte ich freudestrahlend. "Ich hoffe, Sie können mir eine gute Idee verkaufen."
"An was haben Sie gedacht? Soll es ein Roman werden oder ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte?"
"Nun, eine Kurzgeschichte wäre ideal."
"Na dann kommen Sie mal herein. Möchten Sie einen Tee?"
"Sehr gerne."
"Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich, machen Sie es sich bequem. Wissen Sie, Ideen für Gedichte haben wir im Moment keine, und die für Romane sind alle schon wieder vergriffen. Ideen für Romane sind gewöhnlich preisgünstiger als die für Kurzgeschichten und daher stark nachgefragt."
Ich wurde nervös. Würde ich genug Geld haben, um hier zum Stich zu kommen? Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und sagte: "Wie viele Ideen für Kurzgeschichten haben Sie denn im Moment?"
"Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich bin sicher, dass wir Ihnen ein gutes Angebot machen können."
Er ging zur Ladentheke und holte ein Blatt Papier hervor, das er mir aushändigte. Das Blatt enthielt fünf Zeilen.
"Schauen Sie mal drüber, vielleicht können Sie etwas damit anfangen."
Ich las die paar Sätze und war umgehend berauscht.
"Was kostet das denn?"
"20.000 Euro", antwortete der Asiate ohne zu zögern.
"Ah, oh", entfuhr es mir, "das Material scheint mir ausgezeichnet zu sein, aber wissen Sie, ich brauche die Idee in erster Linie für eine private Angelegenheit, haben Sie noch etwas Günstigeres?"
Ich dachte, er würde sich beleidigt fühlen, aber das war nicht der Fall. Er ging wieder zur Theke und kam mit einem weiteren Blatt Papier zurück.
"Das hier kann ich Ihnen für 5.000 Euro anbieten."
Auch dieses Blatt hatte fünf Zeilen, die ich schnell las. Mir wurde übel. Es handelte von einem rothaarigen Gitarristen. Mit zittrigen Beinen stand ich auf und erklärte dem Mann, dass ich über das Ganze nachdenken müsse, bevor ich eine Kaufentscheidung treffen könnte.
"Ich brauche ein Bier. Ich komme gleich wieder, ja?"
Der Asiate verbeugte sich und begleitete mich zur Tür.
"Hasta luego, amigo", sagte er. Ich nickte nur und entfernte mich von seinem Laden.

In der Kneipe bestellte ich ein Heineken und warf eine Münze in den Geldspielautomaten. Und weitere Münzen. Als ich keine Münze mehr fand, zückte ich das Portemonnaie und gab der Maschine einen 20-Euro-Schein. Danach noch einen 10-Euro-Schein, und dann ging ich nach Hause.

Ich hätte ja die Idee des ersten Asia-Blattes nun zu einer guten Geschichte verarbeiten können, aber ich ließ es. Die AGB des 'Plot Point' sagten klar, dass das Copyright der Idee mit dem Verkauf an den Kunden übergeht. Wenn ich nun die Geschichte materialisieren würde, ohne die Idee gekauft zu haben, würde ich mich strafbar machen.

Ich beschloss, nichts zu schreiben. Anna zu sagen, dass ich es einfach nicht hingekriegt hätte. Nichts zu schreiben ist besser, als falsch zu schreiben, kam mir in den Sinn, wie ich es vor kurzem irgendwo in ähnlicher Form gehört hatte. Außerdem, vielleicht hatte Anna ja auch nichts.

Am 15. Dezember saßen wir auf der Terrasse und tranken Wein. Anna erzählte ihre Kurzgeschichte. "Es war einmal ein talentloser rothaariger Gitarrist..."
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ximo, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Witziger Plot! Du hast jedenfalls nicht unter einer Schreibblockade gelitten.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Ximo,

Respekt, flott geschrieben, kein schlechter Text für den Einstieg.
Ich sehe weder auffällige Rechtschreibfehler noch Kürzungsbedarf.
Dein Protagonist hätte die 20.000 Euro-Idee schon verwerten können, wenn er die Geschichte nicht veröffentlichen, sondern nur für den privaten Gebrauch verwenden will - und was bitte ist ein Beweise-Fachhandel? Kaufen dort die Beamten von der Kripo ein? (-:
Ich glaube nicht, dass das die erste Geschichte ist, die du geschrieben hast, dafür wirkt das alles viel zu routiniert und bin schon gespannt, was du noch einstellen wirst.

Viele Grüße nach Spanien,

Thomas
 

Ximo

Mitglied
Hallo ThomasQu,

vielen Dank für die ermutigenden Worte!

Den "Beweise-Fachhandel" habe ich geklaut, aus dem Film "Das perfekte Verbrechen" mit Anthony Hopkins.

Liebe Grüße, auch an DocSchneider
Ximo
 



 
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