Rhondaly DaCosta
Mitglied
Langsam öffneten sich die beiden Steinplatten über ihm und gaben eine kreisrunde Öffnung frei. Vom rechten Rand der Sperrvorrichtung rieselte etwas Erde auf sein Fell hinab. Dada schüttelte sich und sprang mit einem kräftigen Satz aus dem Erdloch.
Vor ihm öffnete sich eine Winterlandschaft, die sich in eine weite, muldenförmige Ebene erstreckte. Am rechten Rand nahm er einen leicht geschlängelten Flusslauf wahr, auf dem einzelne Eisschollen schwammen. Auf der linken Seite wurde die Ebene von einer langgezogenen Hügellinie eingefasst. Keine Erhebungen unterbrachen die abwärts geschwungene Formation. Es sah eher so aus, als ob der Berg in der Form eines umgefallenen Kegels aus einem metallenen Werkstück gefertigt war.
Mit kräftigen Sprüngen machte Dada sich auf dem Weg hinunter in das Tal. Der schwarze Pantherkörper fühlte sich angenehm an. Die Muskeln, Bänder und Sehnen gaben Dada ein ausgezeichnetes Gefühl von kontrollierter Kraft. Die Pfoten federten die Unebenheiten der Erdoberfläche sehr gut ab. Genießerisch sog Dada die frische Luft durch seine Nasenöffnungen. Nach der langen Zeit dort unten taten ihm die kräftigen Sätze in der Landschaft sehr gut.
Als er sich dem Fluss näherte, erblickte er ein hölzernes Pferdefuhrwerk. Der Anblick erinnerte ihn an eine mittelalterliche Szene, die er schon einmal in einem seiner früheren Leben erfahren hatte. Der Wagen war nicht beladen. Dada stellte verwundert fest, dass das Gefährt auf zwei langen Baumstämmen durch den Schnee glitt anstatt auf Rädern oder auf Kufen. Zu seiner Überraschung waren die Baumstämme nicht zur Fahrtrichtung quer angebracht, sondern sie trugen den Wagen längsseitig. Dadurch wurden am vorderen Ende der Stämme immer wieder kleine Schneehügel aufgeworfen. Das Pferd musste schwer arbeiten, um ständig die durch den Wagen geschaffenen Hindernisse aus aufgeworfenem Schnee zu überwinden. Dada sendete einen gezielten Gedankenimpuls in Richtung des Wagens, der diesen leicht anhob. Das Pferd schaute zu dem nun längsseits mitlaufenden schwarzen Panther herüber. Dada nahm einen dankbaren Blick des Zugtieres auf. Der Kutscher blickte nun auch kurz auf. Dann wendete der Fuhrmann ohne eine weitere Reaktion den Blick wieder nach vorn und fuhr grußlos weiter.
Leicht abfedernd landete er mit den Vorderläufen auf dem Dach des fliegenden Wagens. Das Oberteil des Gefährts wurde von einer gläsernen Platte gebildet. Dada schaute durch das Glas hindurch nach unten. Im Wagen saß ein zweiunddreißigjähriger Mann mit rotblonden Haaren. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, hatte dieser eine Golftasche verstaut. Dada wusste spontan, dass Frank eine gutbezahlte Stellung als Angestellter hatte, und dass dieser sich am Wochenende sehr gern auf dem Golfplatz aufhielt. Der fliegende Golfwagen hatte durch den Aufsprung des Tieres zu schaukeln begonnen. Der Fahrer glich die schaukelnde Bewegung mit einem gekonnten Gegensteuern aus. Morgen würde Frank mit seinem vierjährigen Sohn in ein Museum gehen und diesem den Blauen Reiter erklären. Beide, Frank und sein Sohn, würden ihren Weg in diesem Leben erfolgreich gehen. Dada registrierte dankbar seine zunehmenden transzendenten Einsichten. Zufrieden streckte er sich auf dem Glasdach aus und schloss für kurze Zeit die Augen.
Der Wagen wurde nun tiefer gesteuert. Dada erwachte durch die veränderten Bewegungen. Sie waren nun in ein grünes Tal hineingeflogen. Der Mischwald erinnerte ihn an ein mitteleuropäisches Szenario, das er schon mehrmals erlebt hatte. Die Erinnerungen aus seinen früheren Existenzen kehrten verstärkt, wenn auch bruchstückartig, in Dadas Bewusstsein zurück.
Kurz vor einer Flussbiegung sprang er von dem Dach herunter und landete sicher auf dem Plateau. Frank flog mit dem Wagen weiter in Richtung des Golfplatzes, der sich in einiger Entfernung andeutete.
Vom Relief aus führte ihn ein kurzer Weg in eine unterirdische Halle. Jäh stiegen die Wände zu einem domartigen Gewölbe an. Dada schätzte, dass der sich öffnende Raum sicherlich fünfzig Meter hoch war. Die Bodenplatten waren ebenso wie die Wände aus rotem Sandstein hergestellt. Sie waren komplett glatt geschliffen. Es war nicht die kleinste Unebenheit zu entdecken. Die Fugen zwischen den riesenhaften Platten waren sehr sorgfältig mit einem weißlich schimmernden Material abgedichtet worden. Hier mussten Götter oder götterähnliche Wesen am Werke gewesen sein. Dada war auf dem richtigen Weg.
Mutig schritt er voran. Die Wände selbst gaben mit dem Fugenmaterial über ein seltsam irisierendes Licht ein unwirklichen Farbenspiel ab. Es reichte ihm, um den Weg zu verfolgen. Nach einigen Metern blieb Dada vor einer Statue stehen. Vor sich sah er ein Standbild von Abraham Lincoln. Dada erinnerte sich sehr genau an dieses Denkmal. Sein Gedächtnis hatte in der kurzen Zeit seiner Neu-Existenz einen Quantensprung an Erinnerung und an Wissenszuwachs erfahren.
Neugierig betrachtet er den Kopf der Steinfigur mit dem bemerkenswerten, rechteckigen Bart. Das Standbild strahlte für ihn, wie früher schon, eine beeindruckende Atmosphäre von Ruhe und Bestimmtheit aus, die Dada sosehr schätzte. Er ging auf seinen kräftigen Pfoten nun etwas zur linken Seite der Statue. Seltsamerweise zeigte es sich nun, dass diese aus zwei grundverschiedenen Materialien gefertigt war. Die rechte Seite bestand offensichtlich aus weißem Marmor, den ein begnadeter Bildhauer nahezu lebensecht bearbeitet hatte. Die linke, leicht nach hinten versetzte Seite war allerdings aus sechseckigen Basaltquadern gefertigt. Dada hätte sich gern noch weiter mit diesem Geheimnis beschäftigt. Aber er musste weiter, denn seine innere Uhr gab ihm einen disziplinierten Takt vor. Es war besser, wenn er sich an seine Order hielt.
Nach unendlichen Zeiten machte die dunkle Röhre eine leichte Biegung in die Waagerechte. Mit dem kommenden Bogen erschien nun ein leichtes Licht. Dada atmete erleichtert auf. Nun ging die Reise in seiner Vorstellung sehr viel schneller voran. Das Licht am Ende des Tunnels wurde zusehends heller. Dada nahm zahlreiche Rillen in den Tunnelwänden wahr. Der Tunnel selbst schien sich in einer Spiralform zu seinem Ende hin zu öffnen. In früheren Leben hatte Dada in solchen Situationen auch Bilder an den Wänden wahrgenommen, Bilder aus seinem damaligen Leben. Doch diesmal erschienen keine solchen Szenen. Was mag ihn noch Neues erwarten? Warum hatte die Schöpfung ihm diesmal ein verändertes Szenario vorgegeben?
In einer grotesken Haltung rutschte der schwarze Panther aus der Tunnelöffnung in das anschließende Universum, so wie ein Kind von der Wasserrutsche in ein Schwimmbecken hineinplumpst. Dada schaute sich um. Das Weltall erschien ihm nicht vollständig aus Schwärze zu bestehen. Jedenfalls war es in seine Augen nicht so schwarz wie sein Fell. Im mittleren Bereich nahm Dada mehrere hell leuchtende Sterne wahr. Etwas rechts davon erstreckte sich ein buntes Sternenfeld in statu nascendi. Gern hätte Dada den wunderschönen Anblick noch länger in sich hineingesogen. Aber er musste nun zu der Doppelsonne am rechten Rand streben. Dada bewegte seien Pantherbeine wie ein Landtier, das im Wasser schwimmt und ruderte auf die beiden Sonnen zu. Dann nahm er noch den kräftigen Schwanz seines Pantherkörpers hinzu und peitschte das Tempo zusätzlich hoch. Dada freute sich wie ein Kind über diese Schwimmbewegungen in „seinem“ All.
Schließlich besann er sich wieder auf seine Aufgabe. Der große Taktgeber hatte ihm unwiederbringlich so viele Zeiteinheiten genehmigt, wie zur Bewältigung der Aufgabe notwendig waren. Dies sagte ihm seine Intuition, und ihr diszipliniert zu folgen war ein wesentlicher Teil der Aufgabe. Dada nahm alle seine mentale Energie zusammen und konzentriert seine Bewegungen in Richtung auf den anvisierten Quadranten.
Mit einem leisen Fauchen glitt er auf die blitzblank geputzten Platten vor dem Hauptportal. Das Tor öffnet sich ihm bereitwillig. In der Lobbyhalle ging Dada an einem Bild mit einem Königspaar vorbei. Er konnte die dargestellten Personen keiner Erinnerung zuordnen. Die Figuren erschienen seltsam in die Höhe gezogen, sie wirkten auf ihn wie merkwürdige Felszeichnungen eines prähistorischen Volkes. Mit leicht schwingendem Gang glitt Dada in seinem Pantherkörper durch den langen Flur, der ins Innere des Palastes führte.
Plötzlich, für ihn gänzlich unvermutet, stand eine Frau vor ihm. Sie dreht ihm den Rücken zu. Ihre Füße steckten in hochhackigen silbernen Schuhen, die mit glänzenden Perlmuttplatten besetzt waren. Eine goldene Brosche hielt ein leichtes Baumwollkleid über der rechten Schulter fest. Dada hätte der Frau zu gern in die Augen gesehen. Er levitiert seinen Pantherkörper in Höhe des Kopfes der Frauengestalt, als diese sich unvermutet bewegte und einige Schritte nach vorn ging. Dada hielt sich nun in einem genau bemessenen Winkel von 45 Grad in Kopfhöhe hinter ihr. Die Frau streifte jetzt die Schuhe ab und öffnete die Brosche auf ihrer Schulter. Das Kleid glitt von ihrem Körper herab. So wie Gott sie schuf ging die Gestalt nun auf eine schwere Holztür zu. Zedernholz, dies ist Zedernholz aus dem sagenhaften Land Libanon, ging es Dada durch den Kopf. Auch hier öffnete sich die Tür selbsttätig vor der Frau, so wie es ihm selbst am Eingang zum Palast geschah. Die Frau betrat einen großen, ovalen Saal. Dada folgte ihr schwebend, nun in einiger Entfernung.
Dada sprang mit einem anmutigen Satz direkt zu dem Konzertflügel und ließ sich mit seinem wunderbar weichen Pantherfell darauf nieder. Er achtete beflissen darauf, die Lackoberfläche nicht zu beschädigen. Und doch geschah ihm ein Malheur. Mit einer seiner Krallen zog er einen leichten Kratzer in die Oberfläche. Die Frau auf dem Stuhl schaute ihm kurz und eindringlich in die Augen. Jetzt hatte er den Blickkontakt bekommen, den er zuvor gesucht hatte. Die Augen der Frau zierten eine doppel-farbige Iris aus grünen und braunen Kreisen. Zufrieden schnurrte der schwarze Panther vor sich hin und schloss die Augen.
Die Frau begann nun die Melodie von „pour Elise“ zu spielen. Dada hatte im Moment noch nicht viele Erinnerungen an die damalige klassische Musik, aber diese Melodie war ihm schon wohlbekannt. Der Panther ließ sich von den Klängen tragen. Er transzendierte sein Bewusstsein in eine Welt jenseits des Konzertsaales und vergaß die Zeit. Dann wurde er jäh wach. Das Klavierspiel war beendet. Die Frau sang nun die Melodie mit einer seltsam vibrierenden Stimme in eigenartigen Zwischentönen. Dada meinte darin eine Art von märchenhaftem Klang, möglicherweise wie Obertonmusik, zu erkennen.
Während der Klang die Luft erfüllte bemerkte Dada, wie sein Tierkörper sich ausdehnte. Die Moleküle seines Körpers schienen mit dem Klavier und mit dem Boden, ja selbst mit den Luftelementen im Raum, zu interagieren. Die äußere Erscheinungsform des schwarzen Panthers löste sich zunehmend auf. Seine Lebensenergie formte nun ein Lichtplasma, das in allen Regenbogenfarben die Umgebung erfüllte. Nur die Klauen und einige schwarze Fellhaare blieben vom tierischen Leib auf der Oberfläche des Konzertflügels zurück. Dadas Bewusstsein verschmolz mit der Welt. So erfüllte sich seine Bestimmung.
Vor ihm öffnete sich eine Winterlandschaft, die sich in eine weite, muldenförmige Ebene erstreckte. Am rechten Rand nahm er einen leicht geschlängelten Flusslauf wahr, auf dem einzelne Eisschollen schwammen. Auf der linken Seite wurde die Ebene von einer langgezogenen Hügellinie eingefasst. Keine Erhebungen unterbrachen die abwärts geschwungene Formation. Es sah eher so aus, als ob der Berg in der Form eines umgefallenen Kegels aus einem metallenen Werkstück gefertigt war.
Mit kräftigen Sprüngen machte Dada sich auf dem Weg hinunter in das Tal. Der schwarze Pantherkörper fühlte sich angenehm an. Die Muskeln, Bänder und Sehnen gaben Dada ein ausgezeichnetes Gefühl von kontrollierter Kraft. Die Pfoten federten die Unebenheiten der Erdoberfläche sehr gut ab. Genießerisch sog Dada die frische Luft durch seine Nasenöffnungen. Nach der langen Zeit dort unten taten ihm die kräftigen Sätze in der Landschaft sehr gut.
Als er sich dem Fluss näherte, erblickte er ein hölzernes Pferdefuhrwerk. Der Anblick erinnerte ihn an eine mittelalterliche Szene, die er schon einmal in einem seiner früheren Leben erfahren hatte. Der Wagen war nicht beladen. Dada stellte verwundert fest, dass das Gefährt auf zwei langen Baumstämmen durch den Schnee glitt anstatt auf Rädern oder auf Kufen. Zu seiner Überraschung waren die Baumstämme nicht zur Fahrtrichtung quer angebracht, sondern sie trugen den Wagen längsseitig. Dadurch wurden am vorderen Ende der Stämme immer wieder kleine Schneehügel aufgeworfen. Das Pferd musste schwer arbeiten, um ständig die durch den Wagen geschaffenen Hindernisse aus aufgeworfenem Schnee zu überwinden. Dada sendete einen gezielten Gedankenimpuls in Richtung des Wagens, der diesen leicht anhob. Das Pferd schaute zu dem nun längsseits mitlaufenden schwarzen Panther herüber. Dada nahm einen dankbaren Blick des Zugtieres auf. Der Kutscher blickte nun auch kurz auf. Dann wendete der Fuhrmann ohne eine weitere Reaktion den Blick wieder nach vorn und fuhr grußlos weiter.
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Einige Minuten später erblickte der Panther die Abrisskante in der Ebene. Sie zog sich anscheinend kilometerweit am Ende des Tals entlang. Dada wusste, dass er in diese Richtung weiterlaufen musste. Allerdings war ihm intuitiv klar, dass er auch mit dem kräftigsten Sprung die genüberliegende Seite der Schlucht nicht erreichen würde. Dennoch sprang er furchtlos in die Schlucht hinein. Leicht abfedernd landete er mit den Vorderläufen auf dem Dach des fliegenden Wagens. Das Oberteil des Gefährts wurde von einer gläsernen Platte gebildet. Dada schaute durch das Glas hindurch nach unten. Im Wagen saß ein zweiunddreißigjähriger Mann mit rotblonden Haaren. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, hatte dieser eine Golftasche verstaut. Dada wusste spontan, dass Frank eine gutbezahlte Stellung als Angestellter hatte, und dass dieser sich am Wochenende sehr gern auf dem Golfplatz aufhielt. Der fliegende Golfwagen hatte durch den Aufsprung des Tieres zu schaukeln begonnen. Der Fahrer glich die schaukelnde Bewegung mit einem gekonnten Gegensteuern aus. Morgen würde Frank mit seinem vierjährigen Sohn in ein Museum gehen und diesem den Blauen Reiter erklären. Beide, Frank und sein Sohn, würden ihren Weg in diesem Leben erfolgreich gehen. Dada registrierte dankbar seine zunehmenden transzendenten Einsichten. Zufrieden streckte er sich auf dem Glasdach aus und schloss für kurze Zeit die Augen.
Der Wagen wurde nun tiefer gesteuert. Dada erwachte durch die veränderten Bewegungen. Sie waren nun in ein grünes Tal hineingeflogen. Der Mischwald erinnerte ihn an ein mitteleuropäisches Szenario, das er schon mehrmals erlebt hatte. Die Erinnerungen aus seinen früheren Existenzen kehrten verstärkt, wenn auch bruchstückartig, in Dadas Bewusstsein zurück.
Kurz vor einer Flussbiegung sprang er von dem Dach herunter und landete sicher auf dem Plateau. Frank flog mit dem Wagen weiter in Richtung des Golfplatzes, der sich in einiger Entfernung andeutete.
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Das reliefartige Steinplateau zeigte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Stein des Sonnengottes Tonatiuh, der in alten Zeiten im Nationalmuseum in Mexico-Stadt aufgestellt war. Dada war seinerzeit begeistert von den astronomischen Kenntnissen der Menschen dieser Epoche. Er erkannte auf Anhieb die Gottheit mit der ausgestreckten Zunge wieder. Schnell suchten Dadas Augen die vier Jaguare am unteren Rand der Scheibe. Sie waren ebenfalls in der Bodenplatte eingezeichnet. Dada überlegte kurz, warum er in diesem Leben als schwarzer Panther und nicht als Jaguar wiedergeboren war, da ihn die Jaguar-Darstellungen doch sosehr fasziniert hatten. Schnell verwarf er die grüblerischen Gedanken. Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Seine ganze Energie musste er in den vorgezeichneten Ablauf in dieser Existenz investieren, denn sonst waren alle Bemühungen verloren. Er wollte auf keinen Fall noch einmal auf diesem Level anfangen. Vom Relief aus führte ihn ein kurzer Weg in eine unterirdische Halle. Jäh stiegen die Wände zu einem domartigen Gewölbe an. Dada schätzte, dass der sich öffnende Raum sicherlich fünfzig Meter hoch war. Die Bodenplatten waren ebenso wie die Wände aus rotem Sandstein hergestellt. Sie waren komplett glatt geschliffen. Es war nicht die kleinste Unebenheit zu entdecken. Die Fugen zwischen den riesenhaften Platten waren sehr sorgfältig mit einem weißlich schimmernden Material abgedichtet worden. Hier mussten Götter oder götterähnliche Wesen am Werke gewesen sein. Dada war auf dem richtigen Weg.
Mutig schritt er voran. Die Wände selbst gaben mit dem Fugenmaterial über ein seltsam irisierendes Licht ein unwirklichen Farbenspiel ab. Es reichte ihm, um den Weg zu verfolgen. Nach einigen Metern blieb Dada vor einer Statue stehen. Vor sich sah er ein Standbild von Abraham Lincoln. Dada erinnerte sich sehr genau an dieses Denkmal. Sein Gedächtnis hatte in der kurzen Zeit seiner Neu-Existenz einen Quantensprung an Erinnerung und an Wissenszuwachs erfahren.
Neugierig betrachtet er den Kopf der Steinfigur mit dem bemerkenswerten, rechteckigen Bart. Das Standbild strahlte für ihn, wie früher schon, eine beeindruckende Atmosphäre von Ruhe und Bestimmtheit aus, die Dada sosehr schätzte. Er ging auf seinen kräftigen Pfoten nun etwas zur linken Seite der Statue. Seltsamerweise zeigte es sich nun, dass diese aus zwei grundverschiedenen Materialien gefertigt war. Die rechte Seite bestand offensichtlich aus weißem Marmor, den ein begnadeter Bildhauer nahezu lebensecht bearbeitet hatte. Die linke, leicht nach hinten versetzte Seite war allerdings aus sechseckigen Basaltquadern gefertigt. Dada hätte sich gern noch weiter mit diesem Geheimnis beschäftigt. Aber er musste weiter, denn seine innere Uhr gab ihm einen disziplinierten Takt vor. Es war besser, wenn er sich an seine Order hielt.
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In diesem Moment entdeckte er in der linken Wand eine achteckige Pforte. Dada ging mit einem leicht unwilligen Gefühl auf den Felsen zu. Er „wusste“, was jetzt auf ihn zukam. Mit einem wahren Panthersprung tauchte er in die Öffnung im Felsen – und er fiel und fiel und fiel. Dada mochte diesen langen Fall in die Schwärze nicht. Sooft war er diesen Weg schon gegangen, und dennoch musste er immer wieder diese Wegstrecke beschreiten - in jeder einzelnen Existenz, die er bisher durchwandert hatte. Seine Fähigkeiten zur Retrokognition wurden jedenfalls zunehmend aktiviert.Nach unendlichen Zeiten machte die dunkle Röhre eine leichte Biegung in die Waagerechte. Mit dem kommenden Bogen erschien nun ein leichtes Licht. Dada atmete erleichtert auf. Nun ging die Reise in seiner Vorstellung sehr viel schneller voran. Das Licht am Ende des Tunnels wurde zusehends heller. Dada nahm zahlreiche Rillen in den Tunnelwänden wahr. Der Tunnel selbst schien sich in einer Spiralform zu seinem Ende hin zu öffnen. In früheren Leben hatte Dada in solchen Situationen auch Bilder an den Wänden wahrgenommen, Bilder aus seinem damaligen Leben. Doch diesmal erschienen keine solchen Szenen. Was mag ihn noch Neues erwarten? Warum hatte die Schöpfung ihm diesmal ein verändertes Szenario vorgegeben?
In einer grotesken Haltung rutschte der schwarze Panther aus der Tunnelöffnung in das anschließende Universum, so wie ein Kind von der Wasserrutsche in ein Schwimmbecken hineinplumpst. Dada schaute sich um. Das Weltall erschien ihm nicht vollständig aus Schwärze zu bestehen. Jedenfalls war es in seine Augen nicht so schwarz wie sein Fell. Im mittleren Bereich nahm Dada mehrere hell leuchtende Sterne wahr. Etwas rechts davon erstreckte sich ein buntes Sternenfeld in statu nascendi. Gern hätte Dada den wunderschönen Anblick noch länger in sich hineingesogen. Aber er musste nun zu der Doppelsonne am rechten Rand streben. Dada bewegte seien Pantherbeine wie ein Landtier, das im Wasser schwimmt und ruderte auf die beiden Sonnen zu. Dann nahm er noch den kräftigen Schwanz seines Pantherkörpers hinzu und peitschte das Tempo zusätzlich hoch. Dada freute sich wie ein Kind über diese Schwimmbewegungen in „seinem“ All.
Schließlich besann er sich wieder auf seine Aufgabe. Der große Taktgeber hatte ihm unwiederbringlich so viele Zeiteinheiten genehmigt, wie zur Bewältigung der Aufgabe notwendig waren. Dies sagte ihm seine Intuition, und ihr diszipliniert zu folgen war ein wesentlicher Teil der Aufgabe. Dada nahm alle seine mentale Energie zusammen und konzentriert seine Bewegungen in Richtung auf den anvisierten Quadranten.
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Plötzlich befand er sich direkt vor einem Gebäude, das wie der Buckingham Palast aussah. Die sich explosionsartig ausbreitenden Neuronen in seinem Pantherhirn erinnerten ihn nun daran, dass er in seiner letzten Existenz kurz vor seinem damaligen Ableben einen Artikel über dieses Gebäude gelesen hatte. Sechsundfünfzig Gästezimmer sollten sich in dem Palast befunden haben. Wie gern hätte er damals während einer Städtereise für einen oder zwei Tage dort gewohnt.Mit einem leisen Fauchen glitt er auf die blitzblank geputzten Platten vor dem Hauptportal. Das Tor öffnet sich ihm bereitwillig. In der Lobbyhalle ging Dada an einem Bild mit einem Königspaar vorbei. Er konnte die dargestellten Personen keiner Erinnerung zuordnen. Die Figuren erschienen seltsam in die Höhe gezogen, sie wirkten auf ihn wie merkwürdige Felszeichnungen eines prähistorischen Volkes. Mit leicht schwingendem Gang glitt Dada in seinem Pantherkörper durch den langen Flur, der ins Innere des Palastes führte.
Plötzlich, für ihn gänzlich unvermutet, stand eine Frau vor ihm. Sie dreht ihm den Rücken zu. Ihre Füße steckten in hochhackigen silbernen Schuhen, die mit glänzenden Perlmuttplatten besetzt waren. Eine goldene Brosche hielt ein leichtes Baumwollkleid über der rechten Schulter fest. Dada hätte der Frau zu gern in die Augen gesehen. Er levitiert seinen Pantherkörper in Höhe des Kopfes der Frauengestalt, als diese sich unvermutet bewegte und einige Schritte nach vorn ging. Dada hielt sich nun in einem genau bemessenen Winkel von 45 Grad in Kopfhöhe hinter ihr. Die Frau streifte jetzt die Schuhe ab und öffnete die Brosche auf ihrer Schulter. Das Kleid glitt von ihrem Körper herab. So wie Gott sie schuf ging die Gestalt nun auf eine schwere Holztür zu. Zedernholz, dies ist Zedernholz aus dem sagenhaften Land Libanon, ging es Dada durch den Kopf. Auch hier öffnete sich die Tür selbsttätig vor der Frau, so wie es ihm selbst am Eingang zum Palast geschah. Die Frau betrat einen großen, ovalen Saal. Dada folgte ihr schwebend, nun in einiger Entfernung.
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Es schien sich um einen alten Konzertsaal zu handeln, der jedoch vollkommen leer war. Der Fußboden war aus dunkel gefärbten Parkett gefertigt. Wieder war, wie im ganzen Gebäude, kein Staub und kein Schmutzrest auf dem Boden zu erkennen. Die Frau ging nun bestimmt auf eine Empore in hinteren Teil des Saales zu. Dort bemerkte Dada ein schwarz lackiertes Klavier mit einem unscheinbaren Drehstuhl davor. Es waren genau drei Stufen, die zu dieser Empore führten. Dada hatte insgeheim mitgezählt. Numerologie muss ihn früher einmal sehr interessiert haben, weil er jetzt auf ein solches Detail achteteDada sprang mit einem anmutigen Satz direkt zu dem Konzertflügel und ließ sich mit seinem wunderbar weichen Pantherfell darauf nieder. Er achtete beflissen darauf, die Lackoberfläche nicht zu beschädigen. Und doch geschah ihm ein Malheur. Mit einer seiner Krallen zog er einen leichten Kratzer in die Oberfläche. Die Frau auf dem Stuhl schaute ihm kurz und eindringlich in die Augen. Jetzt hatte er den Blickkontakt bekommen, den er zuvor gesucht hatte. Die Augen der Frau zierten eine doppel-farbige Iris aus grünen und braunen Kreisen. Zufrieden schnurrte der schwarze Panther vor sich hin und schloss die Augen.
Die Frau begann nun die Melodie von „pour Elise“ zu spielen. Dada hatte im Moment noch nicht viele Erinnerungen an die damalige klassische Musik, aber diese Melodie war ihm schon wohlbekannt. Der Panther ließ sich von den Klängen tragen. Er transzendierte sein Bewusstsein in eine Welt jenseits des Konzertsaales und vergaß die Zeit. Dann wurde er jäh wach. Das Klavierspiel war beendet. Die Frau sang nun die Melodie mit einer seltsam vibrierenden Stimme in eigenartigen Zwischentönen. Dada meinte darin eine Art von märchenhaftem Klang, möglicherweise wie Obertonmusik, zu erkennen.
Während der Klang die Luft erfüllte bemerkte Dada, wie sein Tierkörper sich ausdehnte. Die Moleküle seines Körpers schienen mit dem Klavier und mit dem Boden, ja selbst mit den Luftelementen im Raum, zu interagieren. Die äußere Erscheinungsform des schwarzen Panthers löste sich zunehmend auf. Seine Lebensenergie formte nun ein Lichtplasma, das in allen Regenbogenfarben die Umgebung erfüllte. Nur die Klauen und einige schwarze Fellhaare blieben vom tierischen Leib auf der Oberfläche des Konzertflügels zurück. Dadas Bewusstsein verschmolz mit der Welt. So erfüllte sich seine Bestimmung.