Der tramp

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habibi

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Die Zugfahrt von Hanoi nach Hue war einigermaßen komfortabel.. Für Ausländer war die erste Klasse obligatorisch und ich kann nicht sagen, ob es auch in der zweiten Klasse auszuhalten war. In der ersten Klasse jedenfalls musste man entweder liegen oder auf dem Bett sitzen. Die Betten waren zu beiden Seiten der Kabine in zwei Stockwerken angeordnet. Mit wechselnder Belegschaft in den seltenen Stationen.
Getrampel auf dem Dach! Blinde Passagiere? In einer Kurve sehe ich auf den hinteren Teil des Zuges und tatsächlich sitzen auf dem Dach des drittletzten Waggons eine Gruppe von Leuten mit ihrem Gepäck. Plötzlicher Stopp auf offener Strecke. Die Leute werden vom Dach geholt. Palaver mit einigen, die anderen laufen davon. Nach fünf Minuten fährt der Zug weiter, kurz danach wieder Getrampel auf dem Dach und dann sitzen die Leute wieder auf dem drittletzten Waggon. Ein paar weniger scheint mir. Es geht weiter ohne außerplanmäßigem Stopp bis Hue. Wir bleiben zwei Tage dort, um die alte Kaiserstadt zu besichtigen.
Am zweiten Tag glaube ich einen der blinden Passagiere auf der Straße zu erkennen. Ich spreche ihn auf Englisch an, aber er schaut mich nur mit Unverständnis an und sagt nach einer Weile in stark akzentgefärbtem Französisch „Ich spreche kein Englisch“ . Die Einladung zu einem Bier nimmt er an und lässt sich überreden, seine Geschichte zu erzählen:
„Die letzten Wochen sind hektisch gewesen! Meine Mutter wurde in ihr endgültiges ewiges Grab bestattet. Das war natürlich viel aufwändiger und auch teurer als die vor fünf Jahren stattgefundene vorläufige Grablegung!“
„Aber bei welcher Religion findet so eine Umbettung statt?“ wollte ich wissen und nahm mir vor, ihn nicht mehr zu unterbrechen.
„Egal ob Moslem oder Christ, dieses speziell vietnamesische Ritual beachten alle. Aber wegen der zunehmenden Zahl der Toten wurde das Land knapper und damit auch teurer. Eigentlich hätten wir schon nach drei Jahren die Umbettung in ihr ewiges Grab machen sollen, aber wir haben um Aufschub gebeten um das notwendige Geld aufzubringen. Darum bin ich auch von Hanoi nach Hue gegangen, weil es hier leichter war, Arbeit zu finden.
Wissen Sie, die Zeit mit meiner Mutter war auch nicht leicht für uns. Besonders für meine Frau. Ich weiß nicht, was mehr Kraft gekostet hat. Das vor ihrem Tod oder nachher, jetzt.
Sie war nicht der gute Geist nach dem Tod meines Vaters. Sie war ein Alptraum Ihr gehörte das Haus, der Garten und das wenige Geld, das wir hatten. Sie gab nichts her, sie verlangte alles für sich. Auch als sie krank wurde änderte sich daran nichts. Sie lag auf ihrem Geld und kommandierte ihre Pflege.
Nach einigen Jahren bin ich nicht mehr in ihr Zimmer gegangen. Ich hätte mich vor Wut übergeben müssen. Ihr Geraunze und Gequengele war nicht mehr auszuhalten. Nachdem ich ihr alles gegeben hatte, was wir kaufen konnten jammerte sie „Ich wollte so gerne eine bronzene Madonna, eine, die unter der Erde dann für mich beten kann. Eine bronzene geht nicht kaputt. So gerne hätte ich die gehabt, aber mein Sohn kauft mir keine! Was habe ich getan, dass er mir die bronzene Madonna nicht kauft? Wo ich doch so gerne eine gehabt hätte. Wer soll für mich dort unten beten, wenn ich gestorben bin?“
So jammerte sie immer und ich konnte es nicht mehr hören. Es gab keine bronzene Madonna zu kaufen. Nicht in Hanoi.
Meine Frau kam einmal mit der Schüssel aus dem Zimmer und sagte „ich halte es nicht mehr aus“ und meine Frau ist eine gute Frau, die alles tut, was meine Mutter gesagt hat und sich nie beschwert.
Und wie meine Mutter starb!
Ich saß im Gang und plötzlich kam das Bett aus dem Zimmer. Nur ein Stück, nur die Füße konnte ich sehen. So bis zur Mitte der Waden. Und dann drehte sich meine Mutter im Bett um. Sie war zu schwach das zu tun. Aber ich sah, wie sie es tat. Die Füße verschwanden und da war der Kopf . Nicht der abgemagerte Vogelkopf meiner Mutter sonder der eines jungen Mädchens mit glatter Haut. Und meine Mutter starb ohne Reaktion mit einem ruhigen und friedlichem Gesicht. So, wie sie nie war!
Nach ihrem Tod mussten wir die Schulden bezahlen und das Haus renovieren. Vom Geld blieb nichts.
Wir haben jetzt die Umbettung gemacht und unsere Schulden fast bezahlt. Ich muss nur noch ein paar Monate in Hue arbeiten und dann kann ich ganz nach Hanoi zurück!“
Nun interessierte mich doch, was er in Hue arbeitete, und eigentlich auch seine Reise, die ich im Zug beobachtet hatte. Aber irgendwie wollte er seine Geschichte nach seinen Vorstellungen erzählen. Und dazu gehörte offensichtlich erst die Vorgeschichte.
„Ich arbeite auf dem Fluss der Wohlgerüche. Warum der so heißt, das weiß ich nicht. Ich habe mir auch darüber nie Gedanken gemacht, er heißt schon immer so. Für mich riecht er nach Wasser und nach dem, was gerade vorbei treibt. Früh am Morgen fahren wir, so wie die anderen Boote, in die Mitte des Flusses und lassen uns an eine Stelle treiben, wo wir Sand vermuten. Im Laufe der Jahre haben die Schiffseigner ein gutes Gespür, wo es sich lohnt, Sand zu schöpfen. Wir wechselten uns immer ab. Die einen hatten die Körbe mit dem Sand vom Grund voll zu schöpfen und die anderen diese dann auf das Schiff zu hieven. Der Sand wurde an einen Händler verkauft, der wiederum das Material an Baufirmen weiter verhökerte. Ich – und auch all die anderen – waren Tagelöhner und wurden nach Kubikmeter Sand bezahlt, je nach dem, wie erfolgreich wir waren. Da schaute einer auf den anderen. Die Anstrengung war unterschiedlich, abhängig, wie tief das Wasser war. Zum Ufer hin war es verboten, den Sand abzubauen. Dort waren Maschinen von Firmen eingesetzt, die aber selten für längere Zeit arbeiten konnten. Entweder streikten die Maschinen oder es war zu wenig Sand angeschwemmt um lohnend zu agieren. Der Streit um die besten Schöpfplätze war oft genauso anstrengend wie die Arbeit selbst.
Aber sie wollten etwas über meine Zugfahrt hören! Irgendjemand hat mir gesagt, ich wäre ein Wanderarbeiter. Warum ich das sein soll – keine Ahnung. Aber wenn mich ein Ausländer fragt, was ich bin, dann sage ich das! Wissen Sie, ich müsste für eine Fahrkarte von Hanoi nach Hue so viel bezahlen, wie ich in fünf Tagen verdiene. Das finde ich nicht in Ordnung. Ich würde natürlich für die Fahrt bezahlen, wenn die nicht so unverschämt teuer wäre.“
Wir hatten selbst die erste Klasse äußerst billig gefunden, aber das hing wohl mit unseren sehr unterschiedlichen Verdiensten zusammen. Ich wollte ihn nicht nach seinem Lohn fragen, vielleicht hätte er meine Neugierde zu aufdringlich empfunden. Dieses asiatische "Gesichtwahren" begrenzte die Auskunftsbereitschaft sowieso. Ich hatte Angst, er würde seine Erzählung abbrechen, bevor sie zu Ende war.
Er fuhr fort:
„Am Montag früh bin ich in Hanoi ungefähr zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt zu der Stelle gegangen, an der die Schranken vom Bahnpersonal auf separaten Schienen über die Straße gezogen werden, wenn ein Zug kommt. Sie kennen die Stelle sicher, jeder Ausländer schaut sich dieses Spektakel an. Dort fährt der Zug nur im Schritttempo und an den angrenzenden Häusern geht es ganz knapp zu. Die Anwohner müssen ihre Tische und Stühle ins Haus hineinräumen und die Reisenden dürfen ihre Arme nicht aus dem Zugfenster strecken. Vom Dach eines Hauses kann man mühelos aufs Dach des Zuges springen und dort mitreisen. Ich habe das schon einige Male gemacht. Nicht so oft, aber ich weiß, wie es geht. Der Besitzer des Hauses bekommt ein paar Münzen und freut sich, wenn es klappt. Weil man sonst am nächsten Tag wieder kommen kann, um es nochmals zu versuchen. Ich weiß nicht, wie oft man es probieren darf, bis ein weitere Obolus fällig ist, bei mir klappte es immer beim ersten Mal. Es war ja auch nicht wirklich schwierig. Nur für die Älteren, da war es komplizierter. Oft mussten dann die Hausbesitzer für ihr Geld was tun. Dabei sprang vom vorderen Haus jemand auf das Zugdach und half mit Ziehen, während auf dem Hausdach jemand dem Reisenden den notwendigen Schubs gab und das Gepäck hinüber warf.
So war es am Montag nicht, wir waren allesamt erfahrene Dachfahrer und wir legten uns erst getrennt auf die Dächer der verschieden Waggons bis wir aus den Vororten von Hanoi draußen waren. Da muss man nicht auffallen!
Weil am Ende des Zuges die zweite Klasse ist und wir nicht den Ausländern auf die Nerven gehen wollen – weil dann auch die Schaffner etwas tun müssen – darum setzen wir und dann möglichst bald auf einen Waggon da hinten. Und gegen den Fahrtwind hocken wir uns zusammen und tauschen die Plätze, sodass jeder einmal geschützt ist. Nicht immer halten sie an um uns herunter zu holen. Meist nur, wenn Ausländer im Zug sind.
Da fällt mir ein! In China sollen die Europäer „Langnasen“ heißen, was ich nicht glauben kann. Denn viele Chinesen haben auch lange Nasen. Bei uns heißen sie „anderes Gesicht“. Aber so nennen wir jeden, der anders aussieht, auch Afrikaner oder Australier. Ich sah jedenfalls kein anderes Gesicht. Aber Sie waren auch im Zug und ich habe Sie nicht gesehen.
Als der Zug auf offener Strecke hielt, da wussten wir, was los war. Meine Landleute sind alle sehr neugierig und darum war es natürlich, dass es einen ziemlichen Auflauf gab, als wir mit den Schaffnerinnen zu diskutieren anfingen. Ich sah kein „anderes Gesicht“ und war deshalb erstaunt, dass der Zug anhielt um uns vom Dach zu scheuchen. In der Diskussion ging es darum, ob wir berechtigt waren, ohne Fahrgeld auf dem Zugdach mitzufahren. Es sind immer die gleichen Argumente auf beiden Seiten. Ein Ritual ohne Bedeutung, ein Gesichtwahren. Wir beteten unsere Liste herunter und die Zugbegleiter die ihre. Wir kannten sie beide und wahrscheinlich viele der Zuhörer auch. Darum setzte mancher dann einen zusätzlichen Punkt um sozusagen Sympathien zu sammeln. Wir wollten doch gleich wieder auf das Dach. Die Zugbegleiter andererseits wollten eine gute Figur machen, denn den Reisenden war es doch egal, ob wir auf dem Dach saßen. Und durch das Anhalten gab es eine Zugverspätung. Und darum mussten die Schaffner die Reisenden bei Laune halten. Eigentlich war es dem Zugpersonal auch egal, ob wir da oben saßen, aber sie hatten ihre Vorschriften und wenn ein Höherer uns beim Vorbeifahren dort oben auf dem Dach sitzen sah und sich eventuell beschwerte, dann hatten sie bewiesen, dass sie ihr Möglichstes getan hatten, uns zu vertreiben.
Die Prozedur war fixiert. Erst rief die Schaffnerein zu uns hinauf, wir sollten sofort hinunter kommen. „Zu gefährlich! Geht nicht“ war unsere Antwort. Falls sich niemand beklagte oder sichtbar ein Höherer an Bord war, blieb diese Situation bestehen, bis Hue. Falls aber doch, dann blieb der Zug auf offener Strecke stehen – wegen des Anfahrens aber nie in einer Steigungs- oder Gefällestrecke – und die Zugangestellten holten uns vom Dach. Diskussion, und dann mussten wir schnell laufen, denn , wenn der Zug anfuhr, mussten wir mit unserem Gepäck wieder aufs Dach. Natürlich schafften das nicht alle, einige wurden vom Personal gehindert, aber ein guter Teil kam mit Hilfe der Reisenden wieder hinauf. Das war das Unangenehme an der Aktion. Wenn man es nicht schaffte, musste man auf den nächsten Zug, also bis zum nächsten Tag warten und zudem bis zu nächsten Steigungsstrecke wandern, an der der Zug so langsam fuhr, dass man aufspringen konnte. Das Teuflische war, dass solche Stellen weit weg von einem solchen Haltepunkt waren. Die Zugführer waren keine Idioten und machten eben auch ihr Spiel.
Am Montag war es wie immer. Sie haben gesehen, fast alle sind wieder mitgekommen. Für Alte ist keine Chance, aber die zwei Alten haben sie dann gratis mitgenommen, so schlimm sind die Angestellten auch nicht.“
Meine Reisebekanntschaft wollte gehen, die Einladung auf ein weiteres Bier lehnte er ab, ebenso das Angebot, ihn mit einer Rikscha nach Hause zu bringen. Er wohne nicht weit und darum lohne sich das nicht. Vielleicht wollte er nur nicht, dass ich die Gegend seiner Behausung sah. Das hatte ich auch gar nicht vor, ich wäre sowieso nicht mitgefahren.
Blieb nur, ihm viel Glück zu wünschen. Und ein baldiges Ende seines Hue Aufenthaltes.
 

Markus Veith

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Einen gut geschriebenen Reisebericht hast du das geschaffen. Nicht die spannenste Geschichte, aber so interessant, das jeder Europäer, der es auch erlebt hätte, es sicherlich ebenfalls weitererzählen würde.
Mich haben nur ein paar kleine Dinge gestört:
'in den seltenen Stationen' klingt für mich irgendwie falsch. Heißt es nicht 'an...'?
'Dieses asiatische Gesicht ? Wahren begrenzte die Auskunftsbereitschaft sowieso.' ? Den Satz habe ich erst nicht verstanden, bis ich Gesichtwahren daraus schloss. Die zwei Leerzeichen sollten raus, sonst sieht es wie ein Gedanken- und nicht wie ein Trennungsstrich aus. Ebenso bei 'Hue-Aufenthaltes' am Ende des Textes.
'Aber am Montag war das mit den zusätzlichen Argumenten nicht.' ? Dieser Satz klingt unvollkommen, als wenn am Ende noch Wörter fehlen. Vielleicht wäre eine andere Formulierung besser geeignet.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 



 
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