Der verschwundene Lottoschein

Intonia

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Der verschwundene Lottoschein

Er starrte sekundenlang wie magisch auf die Zahlenreihe. Es gab keinen Zweifel. Es waren genau die Zahlen, die er seit seinem sechzehnten Lebensjahr Woche für Woche, Jahr für Jahr, gespielt hatte. Mehr als 30 Jahre lang bei jeder Ziehung. Nun hatte seine Ausdauer endlich ihren verdienten Lohn gefunden. Ihm schwindelte, als er die Tragweite des Geschehens begriff. Die Gewinnsumme war mehrere Wochen lang nicht ausgeschüttet worden und es befanden sich 12 Millionen DM im Jackpot. Würde er die Summe allein kassieren oder gab es noch andere Gewinner? Sein Kopf verwandelte sich in ein Bienenhaus und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein Herz klopfte wie rasend, angetrieben vom Adrenalin, das der freudige Schreck freigesetzt hatte. Er sprang vom Stuhl auf, rannte ein paarmal kopflos im Zimmer hin und her, stiess dabei eine Vase von ihrem Platz, die knallend auf dem Fussboden zersprang. Er bemerkte es nicht einmal, denn er sah nicht, was um ihn herum passierte.

Der Schein........, wo ist der Schein, durchzuckte es ihn. Ihm wurde heiss, denn ein neuer Adrenalinstoss brachte sein Blut in Wallung. Er riss die Schublade der Kommode auf, wo er den jeweils gültigen Lottoschein verwahrte. Da war er. Er riss ihn an sich, eilte zurück an den Tisch mit der aufgeschlagenen Zeitung. Kein Zweifel, die Zahlen stimmten überein. Aber was war das? Warum stand auf dem Schein 42. Ausspielung und in der Zeitung 43.? Sein Gesicht wurde zur Abwechslung kalkweiss und seine Hände zitterten. Er bemühte sich krampfhaft, seine Gedanken zu ordnen. Gleich darauf schoss er mit solcher Schnelligkeit vom Stuhl hoch, dass dieser krachend nach hinten überfiel. Er eilte zur Garderobe und zog seine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts. Er durchforschte mit zitternden Fingern alle Fächer - vom Lottoschein keine Spur. Warum war der Schein der vorigen Woche in der Schublade und nicht der neue? Wo war der neue, verdammt nochmal? Seine Beine wurden weich und er musste sich wieder setzen. Er war völlig mit den Nerven fertig. In den ganzen Jahren hatte er nicht ein einziges mal vergessen, den Lottoschein abzugeben. Sollte das Schicksal so grausam sein, dass er es ausgerechnet diesmal vergessen hatte?

Sein Kopf war wie leergefegt von allen Gedanken und es gelang ihm nicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Stattdessen kam ihm ins Bewusstsein, wie er sich in den letzten Wochen regelrecht auf die Verwirklichung seines Reichwerdens vorbereitet hatte. Er hatte ein Werk eines Philosophen über Positives Denken gelesen und sich strikt an die Anweisungen gehalten. Denke nicht, ich möchte reich werden, sondern denke, ich werde reich. Denke es 100 mal und spreche es 50 mal aus am Tag. Gedanken sind Energieströme, die sich verstärken, wenn sie ausgesprochen werden. Je öfter, desto mehr Energie wird freigesetzt, um die Gedanken in die Wirklichkeit umzusetzen. Das war die Kernaussage des Werkes. Er hatte sich sogar ein Liedchen zurechtgefeilt, dass er sogleich auf den Lippen hatte, wenn er sich allein fühlte.

'Ich werde reich, ich werde reich, ich werde reich,
und das zwar gleich,
und das zwar gleich,
dann hab' ich Geld
und die schönste Frau der Welt,
das ist das was mir gefällt'.

Die schönste Frau der Welt........, ha! Er meinte damit kein Model oder Pin-Up Girl, sondern eine Frau, die nach seinen Massstäben die schönste war. Er war Witwer und sehnte sich nach einer neuen Liebe mit seiner Traumprinzessin. Er glaubte, wenn er reich sei, ginge dieser Wunsch eher in Erfüllung und er gab ihm Gestalt in seiner positiven Denkstrategie.
Den Reim hatte er wohl an die tausend mal gesungen in den letzten Wochen. Er hatte sogar sein Passwort vom Computer in 'ichwerdereich' geändert und alle Dateien, die er täglich bearbeitete mit ähnlichen Aussagen überschrieben. Der Gedanke an den Computer irritierte ihn etwas, aber er wurde durch das Klingeln an der Wohnungstür unterbrochen.

Er riss sich zusammen, begab sich zur Tür und öffnete diese. Vor ihm stand eine elegant gekleidete, etwa 170 cm grosse Frau mit einem von langen schwarzen Haaren eingerahmten, schlanken Gesicht. Sie lächelte wie eine Fee, wobei sich zwei reizende Grübchen in ihre Wangen prägten.

"Sind sie Herr Peter Maulbart?" fragte die Schöne. "Ja", antwortete er verwundert, denn das, was er sah, erschien ihm wie ein Traum. Diese Frau entsprach haargenau seinem Schönheitsideal und seine Verwirrung wurde noch um einiges grösser. Wollte das Schicksal ihm schon wieder einen Streich spielen? Erst der verschwundene Lottoschein und jetzt seine Traumprinzessin, die sich wahrscheinlich sogleich in Luft auflösen würde.

"Darf ich reinkommen? Das was ich mit Ihnen zu besprechen habe, ist sehr vertraulich." Damit überreichte sie ihm eine Visitenkarte. Er trat automatisch zur Seite, denn die Buchstaben des Kartentextes verschwammen vor seinen Augen.

Im Wohnzimmer griff die Schöne in ihren mitgebrachten Aktenkoffer und förderte eine Flasche Champagner zutage. Erst jetzt sah er, dass die geheimnisvolle Besucherin einen Blumenstrauss auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Er überlegte, ob er heute Geburtstag oder sonst ein Jubiläum zu feiern hatte, aber es fiel ihm nichts ein.

"Herr Maulbart", hörte er die liebliche Stimme der Fee sagen, "ich darf ihnen im Namen der Lottodirektion meine allerherzlichsten Glückwünsche aussprechen. Sie sind der einzige Hauptgewinner der 43. Ausspielung im Deutschen Lottoblock. Der Gewinnanteil beträgt genau 12 438 680 DM."

Ihm wurde abwechselnd heiss und kalt und schliesslich stotterte er: "Soll....., soll das ein Scherz sein? Der Lottoschein........., der Lottoschein ist verschwunden. Wahrscheinlich habe ich vergessen, ihn abzugeben."

"Der Tip wurde online per Computer gespielt. Sie haben vorige Woche ein Online-Konto eingerichtet und gleich der erste Tip war ein Volltreffer. Sie sind ein leibhaftiger Glückspilz, Herr Maulbart." Dabei lächelte die Schöne mit entwaffnender Herzlichkeit und man sah, dass sie sich an seinem grossen Glück mitfreute. Er sah nur dieses liebe Gesicht und begriff noch immer nicht ganz, dass er nun mehrfacher Lottomillionär war. Er begriff nur, dass seine Glücksfee persönlich vor ihm stand und er fiel ihr gerührt um den Hals.

"Haben sie noch eine andere Vase, als die kaputte dort auf dem Fussboden?" fragte die Lottofee lächelnd, als sie sich mühsam aus Herrn Maulbarts Armen befreit hatte. Damit wickelte sie den Blumenstrauss aus und überreichte ihn zusammen mit einem Kuvert dem verwirrten Lottomillionär. "Am besten, sie bringen den Scheck gleich zur Bank, damit er ihnen nicht abhanden kommt. Solche Ereignisse lösen manchmal einen Schock aus und man weiss nicht recht, was man tut," sagte sie nicht ohne Anspielung auf die stürmische Umarmung.

Während Herr Maulbart eine Vase suchte, fuhr sie fort: "Den Champagner stellen sie am besten kalt und feiern zusammen mit ihren Lieben das freudige Ereignis." Er kam mit der Vase und sagte schon etwas gefasster: "Ich lebe allein, seit meine Frau vor drei Jahren starb."
"Oh, das tut mir leid," versicherte die Fee und fuhr fort: "Ja, ich muss mich nun verabschieden und lasse sie mit ihrem Glück allein. Ach......., äh..... falls ihre Wohnung ihnen demnächst zu klein vorkommen sollte, ich wüsste da ein Haus, das zum Verkauf steht. Mein Mann starb im vergangenen Jahr, meine Kinder sind ausgeflogen und ich brauche nicht mehr soviel Platz. Kommen sie doch mal vorbei, ganz unverbindlich, die Adresse steht auf der Visitenkarte."

Als sie wieder im Flur stand, hörte sie ein fröhliches, übermütiges Singen durch die geschlossene Tür:

'Ich werde reich, ich werde reich, ich werde reich,
und das zwar gleich,
und das zwar gleich,
dann hab' ich Geld
und die schönste Frau der Welt,
das ist das was mir gefällt'.

Sie zeufzte lächelnd und entfernte sich mit einer kleinen Hoffnung in der Brust. Ein Verhältnis mit einem Lottomillionär, warum nicht. Sie wollte ihre Denkstrategie sogleich darauf ausrichten, denn sie hatte gerade ein Werk eines Philosophen über positives Denken gelesen......
 

dommas

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hallo intonia

da hast du dich ja des alptraums eines jeden lottospielers angenommen. und, so glaube ich, auch ziemlich treffend beschrieben, was so alles im kopf umgeht (oder nicht), wenn man den zettel nicht finden kann.
nur das mit der frau...hmm, ist das dann ein altes männer-vorurteil, wenn ich sage: sehr opportunistisch?
alles liebe
yours
dommas
 

Intonia

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hallo dommas,

danke für den Kommentar. Ob Vorurteil oder nicht. Wer würde da nicht die Gunst der Stunde nutzen, vorausgesetzt, es ist die notwendige Sympathie vorhanden. Und die unterstelle ich ganz einfach der Lottofee.

Herzliche Grüsse
Intonia
 
Hallo Intonia,

die Geschichte gefällt mir, obwohl sie vom Thema her etwas ausgereizt ist.
Mir spukt da so einiges im Kopf herum, wie man den Schluss...
Mehr verrate ich nicht, Du hörst aber dieser Tage von mir.
Wird vielleicht interessant.
Es grüßt Dich lieb
Willi
 

gladiator

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Nette Pointe

Am Anfang dachte ich, meine Güte, was für ein abgenudeltes Thema. Aber die Pointe reißt doch einiges wieder raus. Über eine ganze Reihe von sprachlichen Formulierungen bin ich gestolpert. Wenn Du sie wissen willst, sag's mir. Dann schreibe ich mehr.

Gruß
Gladiator
 

Intonia

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Lieber Willi,

bin gespannt, was Dir im Kopf rumspukt!

Hallo Gladiator,

bin für Lob, sachliche Kritik, Anregung jederzeit offen. Bin gespannt, was Dir missfiel!

Liebe Grüsse
Intonia
 

gladiator

Mitglied
Naaaaa gut...

...Du hast es so gewollt :D

Also grundsätzlich würde ich die Geschichte vielleicht eher mit Peter Maulbarts esoterischen Versuchen des "Reichwerdens" beginnen. So hättest Du einen, wie ich finde, interessanteren Einstieg und außerdem den richtigen Rahmen (siehe Pointe am Schluß).

Im einzelnen:

1. angetrieben vom Adrenalin, das der freudige Schreck freigesetzt hatte - Find ich überflüssig, ist doch klar, daß sein Herz rast, oder?

2. Sein Gesicht wurde zur Abwechslung kalkweiss und seine Hände zitterten. - So oft ist es ja noch nicht passiert, daß er rot wurde, oder? Warum also, zur Abwechslung?

3. Gleich darauf schoss er mit solcher Schnelligkeit vom Stuhl hoch, dass dieser krachend nach hinten überfiel. - Substantivierte Formulierungen finde ich generell sprachlich etwas "staksig", wenn Du weißt, was ich meine. Das kann man auch verbal oder adjektivisch ausdrücken.

4. Sie lächelte wie eine Fee, wobei sich zwei reizende Grübchen in ihre Wangen prägten. - Über Wörter wie "wobei", welcher, weshalb stolpere ich immer wieder. Wieso nicht einfach ein "und"?

Das war's erstmal.

Gruß
Gladiator
 

Intonia

Mitglied
Hallo Gladiator,

ich bewundere Deine Erzählkunst, deshalb freue ich mich ganz besonders, dass Du hier Deine Hilfe anbietest.

Heisst "das war's erstmal" am Schluss Deiner Ausführungen, dass da noch was kommt, oder kann ich mir schon auf die Schulter klopfen? Spass beiseite, ich war erstaunt, dass Du nicht mehr zu bemängeln hast.

Dein Vorschlag, die Geschichte mit den esoterischen Versuchen des Reichwerdens zu beginnen, hat was für sich. Ich werde auf jeden Fall versuchen, die Geschichte so umzuschreiben.

1. ok
2. ok
3. Da kommen wir zu einem streibaren Thema: Das Sprachverständnis. Ich kann Dir da nur eingeschränkt zustimmen. Es hängt ja auch vom Stil ab, in dem die Geschichte erzählt ist. Bei einem gradlinigen, schnörkellosen Stil muss ich Dir recht geben. Ich finde es jedenfalls nicht so wichtig ob so oder so.
4. Was ich zu Punkt 3 gesagt habe, gilt in etwa auch für Punkt 4. Ich sehe das mal als Generationsproblem. Wer schreibt und für wen schreibt er? Wenn der Autor älter ist, so wie ich, ist sein Sprachgefühl anders entwickelt, als das eines jungen Schreibers. Und - wenn ich denke, dass meine Geschichte eher ältere als ganz junge Menschen lesen, dann passe ich mich dementsprechend im Stil an.

Was meinst Du dazu?

Liebe Grüsse
Intonia
 
Hallo Intonia,

wie versprochen schildere ich dir einmal meine Idee, wie die Geschichte auch enden könnte. Einfach nur als Gedankenspiel.
Nicht, weil der Text schlecht ist, im Gegenteil. Er ist gut, wenn er ein wenig überarbeitet wird, das findet ja auch Gladiator und die anderen.
Nun denn, hier ist also Variante 1 (als Satire)
Mit dem Versuch des Reichwerdens beginnen. Am Schluss unterschreibt Maulbarts in liebestoller Stimmung den Scheck und bittet die Glücksfee, ihn bei der Bank abzugeben. Das holde Wesen aber entschwindet auf Nimmerwiedersehen. Fazit: Wie gewonnen, so zerronnen.
Variante 2 (als Krimi)
Gleicher Beginn, jedoch mit folgendem Ende: Glücksfee verwickelt Maulbarts in heiße Liebesnacht. Währenddessen stiehlt ihr Freund den schon unterschriebenen Scheck und räumt zusätzlich die halbe Wohnung leer.
Wie gesagt, ist nur Spielerei, hat aber viel Spaß gemacht.
Es grüßt dich herzlich
Willi
 

gladiator

Mitglied
Sicher richtig...

...daß man seinen Stil an die Leser, die man erreichen will, anpassen muß. Wobei (hier gehört das Wort tatsächlich hin, merkst du was? ;)) ich immer noch finde, daß es ein "reiferer" Stil nicht unbedingt umständlich klingen muß. Und bei einigen Passagen geht es mir bei dir so.


Gruß
Gladiator
 

Intonia

Mitglied
Hallo Gladiator

danke für den Hinweis. Ich werde bei der Überarbeitung auch den Text begradigen.

Lieber Willi,
Du weißt natürlich nicht, dass ich Krimis nicht besonders mag. Die reizende Lotto-Fee zu einer Betrügerin zu machen, widerstrebt mir. Sonst gute Vorschläge, danke für Deine Mühe.

Es grüsst Euch ganz herzlich
Intonia
 
L

leonie

Gast
hallo intonia

deine geschichte ist schön und sehr bildhaft geschrieben. schön fand ich die stelle, als herauskommt, das er seinen tipp per computer abgegeben hat ( möchte nicht wissen wie vielen es schon so ergangen ist), und das dein schluss offen ist, denn so mancher leser wird diese geschichte weiterspinnen. vielleicht treffen sie sich, und erleben beide eine zweite große liebe, oder er ist ihr nach einem treffen doch nicht so sympatisch, das selbst 12 millionen da nicht helfen ( Soll es ja auch geben).
hat mir echt gut gefallen.
ganz liebe grüße leonie
 



 
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