Der vierte Morgen

Clapauzius

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Sie schloss ihre Augen. Sie wurde ganz still. Ihre kleine Brust senkte sich sanft, von kurzen Atemstößen getragen, auf und ab. Innerhalb weniger Sekunden war sie eingeschlafen; als ob die Ereignisse der vergangenen drei Tage ihr jegliche Kraft geraubt hätten und sie sich nun schwach, ausgelaugt und wehrlos der tiefen Schwere des Schlafes hingäbe. Er betrachtete sie. Ihre Augenlider mit ihren ungewöhnlich hellen Wimpern zuckten von Zeit zu Zeit, so als erwache sie jeden Moment. Doch sie schlief weiterhin tief und fest. Er wünschte ihr einen traumlosen Schlaf, hoffte, dass sie in dunkler Schwärze tauche und nicht in einem Mahlstrom aus den Erlebnissen der letzten Tage geriete. Er stellte sich vor, wie sie im dunklen und leerem Raum dahin glitt, dem Strudel roter Bilder ausweichend, welcher sie nach unten zu ziehen drohte. Er dachte an seine eigene, in nicht allzu ferner Vergangenheit liegende Kindheit zurück und an die vielen Albträume, die er damals gehabt hatte. Seit er sich erinnern konnte war er ein ängstlicher Junge gewesen, trotz seiner behüteten Kindheit. Niemals musste er so etwas erleben wie dieses kleine Mädchen in den vergangenen Tagen. In diesem Moment kniff sie die Augen zusammen und legte die Stirn in Falten, als sei sie verängstigt, und zog den verschmutzten Dhoti, mit dem er sie zugedeckt hatte, krampfhaft bis unter ihr Kinn. Doch schon nach wenigen Sekunden entspannte sich wieder der Ausdruck auf ihrem Gesicht und sie wirkte so gelöst wie zuvor. Er zog vorsichtig den Dhoti zurück und bedeckte so wieder ihre nackten Füße, die sie durch ihre nervösen Bewegungen freigelegt hatte. Er war froh, dass er den Dhoti mitgenommen hatte und ihr so etwas Wärmendes zum Zudecken geben konnte.

Während er, das Mädchen in den Armen tragend, durch die engen Gassen gelaufen war, um an das Ende der Stadt zu gelangen, hatte er den Dhoti in einer Seitenstraße, mitten auf dem Weg liegend, gefunden. Vielleicht war er einem Flüchtenden entrissen worden oder jemand hatte ihn sogar bewusst von seinen Hüften gelöst und fallengelassen, um ungehindert und schneller laufen zu können. Abrupt hatte er innegehalten und nervös nach links und rechts geschaut. Doch niemand war weit und breit zu sehen gewesen. Er hatte das Mädchen mit seinem rechten Arm fest an sich gedrückt, seine Hand ihren kleinen Kopf haltend, hatte sich dann rasch gebückt und den Dhoti schnell mit der anderen Hand aufgehoben. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, brauchte er ein paar Sekunden, um wieder sein Gleichgewicht und einen festen Stand zu erlangen. Mit der linken Hand hatte er den Dhoti fest an sie gedrückt und war dann weiter gerannt. Er war so lange gerannt, bis sie die Ausläufer der Stadt erreicht hatten. Er hatte sich gewundert, dass sie während des gesamten Weges keiner einzigen Person begegnet waren. Entweder hatte man schlicht vergessen, diesen Bezirk abzuriegeln, oder man hatte die Blockaden bereits aufgelöst. Er hatte sich gefragt, ob die Bewohner des Viertels rechtzeitig geflüchtet waren oder gewaltsam vertrieben wurden. Die Gassen waren menschenleer gewesen und auch durch die Fenster der niedrigen Häuser hatte er niemanden ausmachen können. Als sie eine kleine Gasse gekreuzt hatten, kurz bevor er die grüne Anhöhe mit der kleinen Hütte erblickte, hatte er jedoch einige hundert Meter enttfernt eine Gruppe von vier Männern in kurzen, khakifarbenen Hosen ausgemacht, Säbel und Speere bei sich tragend. Sie hatten in die entgegengesetzte Richtung geschaut und sie so nicht bemerkt. Schnell war er weitergelaufen, bis sie die Hütte erreicht hatten.

Er schaute sie weiter an. Sie hatte die Stirn erneut in Falten gelegt und atmete nun heftiger, als ob sie in ihren Träumen mit etwas zu kämpfen hätte. Doch kurz darauf entspannten sich ihre Züge abermals. Er wünschte, er könne etwas tun, ihr helfen das Erlebte abzuschütteln und ihr so ihre unschuldige Kindheit zurückzugeben. Er bemerkte, dass einige Strähnen ihres dunklen Haares vom Blut ganz verklebt und mittlerweile verkrustet waren und machte sich Vorwürfe, dass er ihr vor dem Schlafengehen nicht noch etwas Wasser besorgt hatte, damit sie sich wenigstens notdürftig hätte säubern können. Vielleicht hätte man alles abwaschen können. Vielleicht wäre das Erlebte in dunklen Strömen vermischt mit dem schwarzen Blut aus ihrem Haar ihren kleinen Körper hinabgeflossen und schließlich im festgetretenen Lehmboden versickert. Wieder legte sie die Stirn in Falten, kniff wie verängstigt die Augen zusammen und öffnete diese dann langsam zu schmalen Schlitzen. „Mama, Papa?“, fragte sie noch halb im Schlaf verweilend, doch die Realität bereits erahnend, ihre Züge mit Zweifel behaftet. „Wir sind hier, meine Kleine“, log er, strich ihr zärtlich über die Wange und legte schließlich seine Hand auf die ihre. Sie schien etwas zu lächeln, ihr Gesicht nahm wieder einen gelösten Ausdruck an, sie schloss die Augen und war kurz darauf wieder eingedämmert. Seine Hand lag immer noch auf der ihren. Tränen stiegen ihm in die Augen.

Nachdem er einige Minuten weinend neben ihr auf dem Boden gekauert hatte, wischte er sich schließlich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatten eine feine Spur auf seine von Ruß und Staub völlig verschmutzten Wangen hinterlassen. Er stand auf und begann vorsichtig, die schief vernagelten Fensterläden zu öffnen, bis er durch einen Spalt auf die Stadt blicken konnte, die unterhalb des kleinen Hügels lag, auf dem die Hütte stand. Das Fenster war ungewöhnlich hoch, sodass er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um durch den Spalt zu lugen. Obwohl sich der Horizont mittlerweile erhellte, einen weiteren heißen Tag ankündigend, strich ein kühler Wind am Fenster vorbei. Er blickte auf die Stadt. Er erwartete irgendetwas auszumachen, was auf die Ereignisse der vergangenen drei Tage hinwies: klaffende Lücken in den Straßenreihen, dort wo Geschäfte zertrümmert, angezündet und dem Erdboden gleichgemacht wurden; aufsteigende Rauchschwaden von brennenden Wohnhäusern und zusammengetragenen Leichenbergen; leblose Männer-, Frauen- und Kinderkörper, die zerfetzt in den Straßen liegen; blutige Föten, aufgespießt auf eiserne Zaunspitzen, die Mütter ausgeweidet daneben liegend. Doch die Stadt lag ruhig und friedlich, wie im Dämmerzustand vor ihm, so als sei Nichts geschehen. Er wartete. Er schaute erwartungsvoll in jene Richtung, dort wo er die Moschee vermutete und horchte. Die Sonne begann bereits aufzugehen und die Stadt in orangefarbenes Licht zu tauchen. Er horchte angespannt und wippte nervös auf und nieder. Doch heute schwieg der Muezzin. Er schloss die Augen und begann zu beten.
 



 
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