Der weiße Elefant

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Homosapiens

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Als Lutz an diesem frühen Morgen, noch bei Dämmerung, aus der Bar wankte, wußte er erstmals nicht, ob er das Taxi erreichen würde, das Mimi ihm gerufen hatte.
Die Welt drehte sich um ihn wie auf Richtungssuche, der Weg zum Kantstein schien immer länger statt kürzer zu werden.

Eigentlich fiel es ihm morgens schon länger schwer, die Gliedmaßen zu bewegen. Hilfreich war dann nur ein langer, scharfer Schluck aus der Flasche, die zu Hause in seinem Küchenbord stand, in zahlreicher Gesellschaft leerer und halbvoller, entkorkter und auch verklebter anderer Flaschen.
In der Bar gab es jetzt nichts mehr, bis er am Abend, mit dumpfem Kopf, mit Rasierwasser förmlich getränkt, zurückkäme zu Mimi, die ihn stets mit dem freudigen Ausruf "Mein liebster Gast!" begrüßte, sodass alle es hören konnten.
Mimi mit den glänzenden Mandelaugen und dem festen, hellblonden Turm aus Haaren, zuverlässig und unausweichlich.

Nirgendwo wurde er so erwartet und willkommen geheißen wie bei Mimi, seit seine Frau die Scheidung eingereicht und seinen Sohn mitgenommen hatte. Er durfte ihn nie mehr sehen und auch sein Haus nicht mehr betreten. Seine Frau hatte ihn ausgezahlt, und danach gehörte ihm nichts mehr als die billige Wohnung mit den Flaschenbeständen.

Wie anders war es bei Mimi, da wurde alles wieder gut. Es war wie eine geheime Verbindung zwischen ihnen, die sie würdigte, indem sie alles mit ihm teilte. Jedes seiner Getränke nahm sie auch für sich selbst, es war, als würde er sich mit ihr verdoppeln. Dafür bezahlte er gern jedes Getränk zweimal. Ihm gegenüber am Tresen legte sie oft ihre Oberweite vor ihm ab, zum Greifen nah und doch unerreichbar. Was wäre er noch ohne Mimi und ihre lebensspendenden Flaschen gewesen?

Der Taxifahrer trug Lutz an diesem Morgen fast bis in die dämmrige Küche mit dem Flaschenregal und ließ ihn da, nach entsprechender Bezahlung, allein zurück. Als die Wohnungstür sich schloss, hätte ein Sargdeckel nicht dumpfer klicken können.
Lutz lag auf dem kalten Boden, die Wange in irgendeiner Pfütze, und kam nicht mehr bis zum Küchenregal.
Sein Blick traf plötzlich den kleinen, weißen Elefanten im Bord, ein vergessenes Spielzeug seines Sohnes, vielleicht aus einem Überraschungsei oder einem Kaugummiautomaten.

Der Elefant hielt den Rüssel erhoben und hatte einen Fuß vorgestellt wie beim Laufen. Wie beim........ Lutz spürte plötzlich eine Starre im Körper.
Als einmal nach einem Sturz der Krankenwagen gekommen war, hatte der erfahrene Sanitäter kopfschüttelnd geraten: "Gib das Saufen auf! Wenn du erst weiße Mäuse oder Elefanten marschieren siehst, heißt das: aus die Maus! Das macht dein Gehirn, dann bist du schon verloren." "Nur heute nicht trinken", hatte er noch gutwillig hinterhergeschoben, "vierundzwanzig Stunden ohne Alkohol sind zu schaffen." Naja, irgendwann, hatte Lutz gedacht, das kann ich doch jederzeit.

Während er jetzt voller Angst in das spöttisch lächelnde Gesicht des weißen Elefanten starrte, hörte er fern die Kirchturmuhr schlagen. Hatte der Elefant den rechten oder den linken Fuß vorgesetzt? Verharrte er nur auf Zeit in dieser Haltung? Bitte nicht, flehte Lutz stumm, nicht jetzt, wenigstens noch nicht. Das Küchenregal war für ihn nicht erreichbar, die Flaschen ein Stück zu weit entfernt. Noch nicht mal auf Knien und Ellenbogen hätte er dorthin kriechen können. Was aber, wenn der kleine Elefant auf ihn zulaufen würde? Aus Plastik nur........aber das machte ja sein Gehirn.
Als Lutz die Augen wieder öffnen mußte, weil die Augäpfel sich unter den Lidern zu drehen begannen, schien der Elefant näher an der Kante zu stehen. Nicht das, betete Lutz, aber zu wem? Zu einem Spielzeug? Oder zu seinem Gehirn?
Mimi. Unerreichbar weit weg. Stille im Haus wie in einer Leichenhalle. Von fern wieder die Kirchturmuhr, die seine Stunden zählte. Es roch, als ob sich der Alkohol oben und unten Bahn gebrochen hätte, die Wange klebte am Boden. Und vom Bord herunter lächelte abwartend der weiße Elefant, bei dessen erstem Schritt es hieß: aus die Maus! Lutz hatte immer wieder geglaubt, heute noch, das gehe, morgen könne er ja mit dem Trinken aufhören. Der Elefant schien den Kopf zu bewegen, verneinend: heute nicht mehr. Er würde auf Lutz zulaufen, ihn hoffentlich nicht streifen, kitzeln, niemand da, ihm zu helfen. Wo denn auch? Das machte ja sein Gehirn.

Im Tod bleibt die Zeit stehen. Als Lutz die Augen zu einem Spalt öffnete, war er offenbar noch in der Zeit. Es dämmerte, immer noch oder schon wieder? Der Elefant stand noch im Küchenbord, die Turmuhr schlug dieselbe Stunde. Wieso dieselbe? Wie gestern, dämmerte es Lutz.
Und während er noch überlegte, an die Flasche zu kommen, die der kleine, weiße Elefant bewachte, streifte plötzlich ein federleichter Gedanke an Lutz vorbei und berührte ihn wie mit einem Flügel dabei:
" Es ist der nächste Tag. Ich habe vierundzwanzig Stunden keinen Alkohol getrunken. Die ersten vierundzwanzig Stunden wurden mir geschenkt." Von wem? Er wußte nur, daß das Geschenk bei ihm zurückgelassen worden war. Einmal nur, vielleicht nie wieder.
"Das sollte ich doch nicht wegwerfen" ging es ihm durch den ratlosen Kopf.

Einmal hat er Mimi noch wiedergesehen, ein paar Monate später. Sie wurde auf einer Krankenbahre zum Rettungswagen gebracht. Das unbarmherzige Tageslicht fiel wie auf einem Operationstisch über ihr Gesicht, in dem ein dunkler Lidstrich herabbröckelte. Ihr Blick ging in Lutz' Richtung, aber sie sah oder erkannte ihn nicht. Sie hatte gar keine Mandelaugen! Er staunte einen Moment lang mit offenem Mund. Und der Turm ihrer weißblonden Haare war zusammengestürzt.
 

Blumenberg

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Lieber Homosapiens,

du hast hier eine wie ich finde lesenswerte und interessante Geschichte geschrieben.Der Erzählstil und die Sprache, immer sehr subjektive Kritien, gefallen mir ebenfalls.

Das Thema einer verkrachten Existenz die durch eine Art Erweckungserlebnis auf den rechten Pfad geführt wird, ist schon ein beinahe klassisches, das deine Geschichte aber ohne übermäßiges Pathos entwickelt. Die abweichende Farbwahl des Dickhäuters hat wie ich vermute eine tiefere Bedeutung (das Trockensein) oder ist sie Zufall und ich bin einmal mehr interpretatorisch über das Ziel hinausgeschossen?

Lediglich zum letzten Abschnitt habe ich eine Anmerkung, hier habe ich mich gefragt, ob die Dame auf dem Rettungswagen der Ausgangspunkt deiner Geschichte ist. Du schreibst ja, dass deine Geschichten meist aus Alltagsbeobachtungen entstehen. Wenn dem nicht so ist, würde ich vielleicht überlegen, ob ich den Rettungswagen und die Bahre in eine etwas weniger dramatische Begegnung umschreibe, wobei ich die Zufälligkeit des Wiedersehens aber beibehalten würde. Ist aber nur eine Idee, die mir beim Lesen kam, vielleicht kannst du damit ja etwas anfangen.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Homosapiens

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Hallo Blumenberg, danke für Deinen ausführlichen Kommentar und Deine Nachfragen.
Tatsächlich handelt es sich um ein gängiges Schicksal, an dessen Ende der Betroffene nur noch sich selbst in seiner Sucht gegenübersteht. Ein Trinker ist krank und lebt lange in Illusionen. Wie Lutz, der sich den Glauben an die Beherrschbarkeit der Sucht einredet und an die Wahrhaftigkeit einer menschlichen Zuwendung, für die er in Wirklichkeit bezahlen muss. Mimi ist eine Art Schicksalschwester. Sie fühlt sich ihm zwar überlegen und nutzt ihn milieutypisch aus, aber sie ist dem Alkohol nicht minder verfallen. Der weiße Elefant, in Anlehnung an die weißen Mäuse, typische Halluzinationen im fortgeschrittenen Stadium,
ist ein Spielzeug seines verlorenen Sohnes, ein mahnender Gruß, der seine Wirkung nicht verfehlt. Die meisten Trinker kennen die Gefahren ihres Handelns. Lutz besinnt sich auf seine Widerstandskräfte und wird am Ende mit der Desillusionierung seines bisherigen Lebens belohnt, durch nüchterne Erkenntnis. Eine Drogenkarriere mit heilsamem Ausgang.
Längst nicht jeder schafft es, wie Psychologie und Sozialarbeit zeigen. Die Ursachen für die unterschiedlichen psychischen Ressourcen werden noch beforscht. Mein Anliegen war es, Verständnis zu schaffen durch möglichst konsequente Schilderung aus der Sicht eines Betroffenen. Die Gesellschaft glossiert das ernste Thema gern mit wohligem Schauder.
Grüße von Homosapiens
 



 
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