Des Kanzlers neue Kleider

Des Kanzlers neue Kleider
Ein leichtes Rütteln war zu spüren, der Zug wurde langsamer und dann stand er still und unbeweglich auf den Gleisen. Herr Gratschek schaute aus dem Fenster, konnte den Grund für den Stop jedoch nicht erkennen. Na ja, dachte er, es wird schon irgendwann weitergehen, faltete die Zeitung auseinander und betrachtete nachdenklich das Bild auf der Titelseite: Im Vordergrund der Bundeskanzler, bekleidet mit einem schwarzen Jackett, einem weißen Hemd und einer gemusterten Krawatte. Da es sich um ein Schwarzweißfoto handelte, konnte er über die Farben nur Vermutungen anstellen. Dezent blauweiß gemustert, entschied er. Aber wer sagte denn, dass das Jackett schwarz sein musste? Es konnte ebenso gut jede andere dunkle Farbe haben. Dunkelblau, das würde passen. Das Hemd war eindeutig weiß. Oder auch nicht, es konnte genauso gut grau oder hellbeige sein. Schwierig, äußerst schwierig. Und die Krawatte? Passte eine blauweiß gemusterte Krawatte zu einem dunkelblauen Jackett und einem hellen Hemd? Mit der Farbzuteilung kam er im Moment nicht weiter. Eva würde ihn nun wegen seiner fehlenden Phantasie tadeln und das als typisch männlich bezeichnen. Aber das war ein anderes Thema, damit wollte er sich in diesem Moment nicht beschäftigen. Das Foto zeigte den Kanzler bis zur Brust, seine rechte Hand verschwand außerhalb des Bildes im Nichts, den linken Arm hatte er triumphierend und einladend hochgehoben und dazu ein siegessicheres Lächeln aufgesetzt: Kommt her zu mir, meine Wähler! Was konnte die tiefe Falte über der Nasenwurzel bedeuten? Eva würde sie psychologisch begründen: Der Bundeskanzler ist verkrampft, krankhaft ehrgeizig, machtgierig und steht permanent unter hohen Druck. Er war nicht ordentlich gekämmt, der Bundeskanzler, aber wahrscheinlich hatte der Wind ihm die Frisur durcheinander gebracht. Im Hintergrund war, etwas im Dunst, die Halle der Höchsten Harmonie in der Verbotenen Stadt in Peking zu sehen; verboten mit großem V, aber es war ja ein Eigenname. Über dem Foto stand als Titel: Auf dem Weg zur Höchsten Harmonie. Mit einem großen H, obwohl das auch nach der Rechtschreibreform eindeutig falsch war, und um einen Eigennamen handelte es sich in diesem Fall auch nicht. Möglicherweise war es ironisch gemeint, denn von der h(H)öchsten Harmonie war der Bundeskanzler so weit entfernt wie er, Herr Gratschek, von der Verbotenen Stadt. Er stand schließlich mitten in einer großen Koalitionskrise und im Grunde genommen konnte ihn außer seiner Frau Doris mittlerweile niemand mehr leiden. Und das war auch noch die Frage, immerhin war der Kanzler schon zum vierten Mal verheiratet und vielleicht stand schon die nächste Scheidung bevor. Er konnte sich eine Scheidung von Eva beim besten Willen nicht vorstellen. Natürlich stritten sie sich manchmal, aber das war ein anderes Thema. Er selbst war im Übrigen derzeit ebenso weit von der h(H)öchsten Harmonie entfernt wie der Bundeskanzler, den er nun mitsamt der Zeitung auf Knie sinken ließ. Seufzend schaute er aus dem Fenster des Zuges und betrachtete die Wälder, Wiesen und Bäume. Am Himmel trieb der böige Wind die weißen Wolken vor sich her, und in weiter Ferne kreiste ein Flugzeug und zog einen Kondensstreifen hinter sicher her. In einigen Minuten würde er verschwunden sein und nichts mehr an das Flugzeug erinnern. Ein Vogelschwarm schob sich zwischen ihn und den weißen Streifen, im Grunde genommen ein schöner Anblick, aber in diesem Moment konnte er ihn beim besten Willen nicht genießen und wäre lieber in dem Tempo der Wolken, der Vögel oder des Flugzeugs durch die Landschaft gefahren. Nun stand der Interreggio schon seit zehn Minuten mitten auf der Strecke in dieser Landschaft und nichts tat sich, keinen Zentimeter ging es vorwärts. Sein Herz klopfte, und er fühlte sich machtlos, er wollte etwas tun. Aber was? Den Zug anschieben? Die Kühe von der Wiese vor die Lok spannen? Den Fahrer mit dem Obstmesser aus seiner Tasche zum Weiterfahren zwingen? Zu Fuß weitergehen? Nein, nichts von alle dem ging, für den Moment musste er sich in sein unabänderbares Schicksal fügen. Eva wartete bestimmt bereits sehnsüchtig auf ihn, er wollte zu ihr, sofort! Aber nein, in diesem Moment vermisste sie ihn noch nicht, da er ja auch mit einem normal fahrenden Zug noch nicht zuhause wäre. Und sie selbst würde ohnehin erst in diesen Minuten von der Arbeit zurückkommen. In dem voll besetzten Großraumabteil herrschte eine beträchtliche Unruhe. Einige Fahrgäste rutschten nervös auf ihren Sitzen hin und her, andere liefen im Gang auf und ab, wieder andere lehnten sich weit aus dem Fenster, um so die Ursache des Stops feststellen zu können. Eine ältere, etwas pummelige, auffallend kleine Frau mit schneeweißen Haaren war in den letzten Minuten dreimal zur Toilette gegangen: Einmal allein und dann hintereinander mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen im Alter von ungefähr sechs Jahren, die nun losgelöst durch das Abteil tobten und sich von ihrer Großmutter, wie Herr Gratschek vermutete, nicht in ihrem Tun beeinflussen ließen. Das war ein Problem vieler Großmütter, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Jemand anders, er konnte ihn nur hören, beschwerte sich lauthals über das nicht anwesende Personal und die schlechte Informationspolitik der Deutschen Bundesbahn. Er überlegte angestrengt, was geschehen würde, falls der Zug nicht in nächster Zeit weiterfuhr. Nun, das hing wesentlich von der Dauer des unfreiwilligen Aufenthalts ab. Zunächst würde Eva sich keine Sorgen machen, warum auch, der Zug verspätete sich heute schließlich nicht zum ersten Mal. Irgendwann würde sie sich dann ärgern, da die Zeit für ihr gemeinsames Abendessen knapper und knapper wurde und einige Zeit später gar nicht mehr stattfinden konnte. Wie übrigens auch schon am vorletzten Wochenende, da hatte sie allerdings ihm die Schuld gegeben, da er von einem Besuch im Zoo mit Melanie, ihrer Tochter, zu spät zurückgekommen war, sie hatten die Zeit vergessen. Aber das war ein anderes Thema. Irgendwann würde sie sich dann ärgern, weil der geplante gemeinsame Kinobesuch ebenfalls ausfiel. Und später im Laufe des Abends würde sie sich zunächst mehr und mehr wundern und sich dann letztendlich doch Sorgen machen. Dafür müsste der Zug aber noch sehr lange hier stehen. Das beruhigte ihn zwar zunächst einmal, aber nichtsdestotrotz wuchsen seine schlechte Laune und das Herzklopfen stetig weiter. Nicht nur, dass das Abendbrot und der Kinobesuch auszufallen drohten, nein, es war auch noch Montag, und an diesem Tag hatte er ohnehin immer besonders schlechte Laune. Dazu hatte er sich auch noch sehr über Herrn Michels, seinen Abteilungsleiter geärgert. Herr Michels, Mitte fünfzig, von mittlerer Größe, ein wenig übergewichtig, mit einer Halbglatze und immer korrekt gekleidet, war ebenfalls ein ausgesprochener Montagsmuffel, wie er unumwunden selbst zugab. Allerdings immer erst am Dienstag. Kurz vor Dienstschluss an diesem Montag hatte er Herrn Gratschek knapp und in einem Ton, als ob er selbst daran schuld wäre, darüber informiert, dass bis morgen früh um zehn Uhr eine wichtige Abrechnung auf seinem Schreibtisch zu liegen habe. Morgen würde Herr Michels sich dann etwas verlegen und durch die Blume für sein rüdes Verhalten entschuldigen und Besserung geloben, wie jeden Dienstag, und Herr Gratschek würde seine Entschuldigung annehmen, wie jeden Dienstag. Im Prinzip war Herr Michels nämlich ein umgänglicher Vorgesetzter, an fast jedem Tag der Woche, eben nur nicht am Montag. Er hatte die entsprechenden Dateien dann auf eine Computerdiskette kopiert und wollte die Abrechnung zuhause fertig stellen. In der Zeit zwischen Abendessen und Kino, aber das würde ihm nun kaum noch gelingen und wahrscheinlich würde er nun doch zähneknirschend morgen eine Stunde eher aufstehen müssen. Während Herr Michels noch im Bett lag und sich von seinem Montagstress erholte. Verärgert starrte er aus dem Fenster, aber die Felder, Wiesen und Bäume bewegten sich immer noch nicht. Er nahm die Zeitung und betrachtete erneut das Bild des Bundeskanzlers. Es war eingerahmt von einem großen Artikel mit der Überschrift: Zehn Milliarden Mark mehr Steuereinnahmen. Wer hatte diese Seite wohl zusammengestellt? Das Bild hatte doch gar nichts mit dem Artikel zu tun. Herr Gratschek liebte Klarheit, auch und gerade im Layout einer Tageszeitung. Sofort morgen würde er einen Leserbrief schreiben und sich beschweren. Zehn Milliarden Mark mehr Steuereinnahmen? Eine hübsche Summe, die am besten sofort in den Service der Bundesbahn investiert werden würde, wo sie dringend benötigt wurde. Oder Herr Michels konnte jemanden einstellen, der ihn montags vertrat. Damit er nicht seine schlechte Laune an unschuldigen Zeitgenossen auslassen musste. Er faltete die Zeitung zusammen und wandte sich wieder dem Geschehen im Zug zu. Dort versuchte die vermeintliche Großmutter noch immer, ihre vermeintlichen Enkelkinder zur Raison zu bringen und die Leute beschwerten sich noch immer laut oder lehnten sich weit aus dem Fenster. Herr Gratschek hatte, wie immer, einen Fensterplatz in Fahrtrichtung in einem abgetrennten Abteil mit vier Plätzen und einem hochklappbaren Tisch in der Mitte. Neben ihm saß eine junge Frau in einem bunten Anorak, die beim Anhalten des Zuges einmal kurz aufgeschaut hatte und seitdem weiter ungerührt in ihrem Buch, Unter dem Tagmond von Keri Hulme, las. Der Titel sagte ihm nichts, aber vielleicht war es eine Idee für ein Weihnachtsgeschenk für Eva. Die junge Frau hatte den rechten Schnürstiefel ausgezogen und den Fuß unter ihren linken Oberschenkel gelegt. Langsam und bedächtig, eine tiefe Falte auf der Stirn, blätterte sie mit dem Zeigefinger Seite für Seite um. Einmal fiel ihr das Lesezeichen mit dem roten Faden herunter, aber bevor Herr Gratschek es hätte aufheben und ihr zurückgeben können, hatte sie es schon, ohne dabei aufzuschauen und ihre Lektüre zu unterbrechen, selber vom Boden aufgenommen und in das Buch zurückgelegt. Ab und an fuhr sie sich mit der linken Hand durch die langen, braunen Haare und zog den Scheitel nach. Er wunderte sich, dass ihr dieser unfreiwillige Aufenthalt offenkundig gar nichts auszumachen schien. Aber wahrscheinlich unterdrückte sie ihre Unruhe nur und lenkte sich mit dem Buch ab. Der Mann auf dem Fensterplatz gegenüber, ungefähr Anfang dreißig, mit leicht gerötetem Gesicht und bekleidet mit einer dunklen Anzughose und einem beigen Hemd, das Jackett hing am Haken neben dem Fenster, schaute zwischenzeitlich immer mal wieder von seinem Laptop hoch, stöhnte ab und an kurz auf und schrieb dann weiter. Er schien nervös zu sein: Seine Füße schabten ständig über den Boden, die Beine zuckten hin und her, und er knirschte fortwährend mit den Zähnen. Außerdem schwitzte er, daher auch das gerötete Gesicht. Mit so einem Laptop hätte Herrn Gratschek seine Abrechnung hier und jetzt im Zug fertig stellen können. Vielleicht sollte er einen Antrag auf einen Dienst-Laptop stellen. Und was würde geschehen? Herr Michels würde zunächst ein persönliches Verständnis bekunden, dann resigniert und schuldbewusst auf die angespannte Haushaltslage des Landes verweisen und kurz darauf unter irgendeinem Vorwand den Raum verlassen. An einem Montag würde er ihn möglicherweise sogar aus seinem Büro weisen. Vielleicht würde ihn ja an einem Montag einmal der Schlag treffen. Für diesen Gedanken schämte er sich jedoch sofort wieder, das war schließlich auch nicht in Ordnung. Und wo blieben die 10 Milliarden DM Mehreinnahmen? War da wirklich kein Laptop für einen gestressten höheren Verwaltungsangestellten des Landes drin? Und überhaupt, was bildete Herr Michels sich eigentlich ein? Hätte er ihm von der Abrechnung nicht eher etwas sagen können, dann hätte er sich darauf eingestellt. Anstatt dass seine Verärgerung in Anbetracht des begonnen Feierabends nachließ, steigerte sie sich von Minute zu Minute weiter. Auf dem Platz schräg gegenüber zum Gang hin saß ein älterer, vollständig ergrauter, sehr großer, schlanker Mann. Seine Hände lagen gefaltet auf dem langen weißen Mantel auf seinen Knien; ab und an bewegten sich die Finger ein wenig auf und ab, aber das war auch die einzige Regung, die er zeigte. Offensichtlich unterdrückte auch er seine Nervosität. Genau das gelang dem Mann mit dem Laptop überhaupt nicht. Er legte seinen Computer auf den Tisch, ließ das Fenster herunter und lehnte sich weit hinaus. Die junge Frau in dem bunten Anorak schaute kurz von ihrem Buch auf, und die Finger des alten Mannes bewegten sich ein wenig schneller. Nun stand der Zug bereits seit einer Viertelstunde an dieser Stelle und immer noch tat sich nichts, die Bäume standen immer noch an derselben Stelle, der Wind trieb die Wolken immer noch vor sich her und ein Schaffner hatte sich immer noch nicht blicken lassen. Und in diesem Moment fiel ihm siedendheiß ein, dass er für das gemeinsame Abendessen hätte einkaufen müssen. Das bedeutete, dass Eva nicht einmal ohne ihn essen konnte, denn der Kühlschrank war leer, wie immer am Montag. Wie er diesen ersten Tag in der Woche verabscheute. Aber wenn es den Montag nicht gäbe, dann wäre der Dienstag der erste Tag der Woche und alles wäre genauso. Und wenn der es nicht wäre, dann wäre es der Mittwoch. Und so ginge das weiter bis zum Freitag und dann wäre wieder Wochenende und alles begänne von vorn. Der nervöse Mann mit dem Laptop schloss das Fenster und setzte sich auf seinen Platz zurück. Seine Gesicht war noch röter als zuvor. Die allgemeine Unruhe im Zug steigerte sich wieder, nachdem es für einen kurzen Moment ruhiger geworden war: Die Fahrgäste beschwerten sich lauthals über den Stop, die ständigen Verspätungen, die Unfälle der letzten Zeit, die Preiserhöhungen und den schlechten Service der Bahn. Besonders hervor taten sich dabei eine ältere Frau mit einem großen Hut auf dem Kopf und ein stark übergewichtiger Mann mittleren Alters, die sich gegenseitig die Argumente in die Hände spielten. Andere Fahrgäste schalteten sich ein und ergriffen für den einen oder anderen Partei. Zwischendrin ergriff ein junger Mann todesmutig Partei für die Deutsche Bundesbahn: Man müsse doch zunächst einmal den Grund für den Stop kennen, und außerdem, gegenüber anderen Ländern in Europa seien die Verspätungen der Bahn in Deutschland doch eher gering, und es gäbe Länder auf dieser Welt, da führen die Züge erst dann los, wenn sie voll waren. Er drang jedoch mit seinen Argumenten nicht durch, zunächst wurde er ungläubig angestarrt, dann ignoriert und letztendlich ging die Diskussion dort weiter, wo sie vor seinem Einwand aufgehört hatte. Der junge Mann lächelte, sagte jedoch nichts mehr. Wozu auch, es wollte ihn ja offensichtlich niemand hören. Herr Gratschek bewunderte seinen Mut, sich so einfach gegen alle anderen Leute zu stellen. Nur war es doch vollkommen vergeblich gewesen, warum also dieser Aufwand? War es da nicht besser, einfach gar nichts zu sagen und sich seinen Teil zu denken? Eva vertrat die Ansicht, dass es sehr wohl richtig wäre, jederzeit und an jedem Ort dieser Welt seine Meinung offen zu vertreten. Er fand, dass es besser wäre, ab und an einmal seine Meinung für sich zu behalten, um Nachteile zu vermeiden. Außerdem müsse ja nicht immer jeder wissen, was gerade in seinem Kopf vorging. Typische Beamtenmentalität, entgegnete sie dann schnippisch, das ist mal wieder typisch für dich. Und dann fühlte er sich missverstanden, er widersprach Herrn Michels schließlich sehr oft, nur eben am Montag nicht. Weil es da vollkommen zwecklos war, da er ohnehin nicht zuhörte und die Situation sich nur noch weiter verschärfen würde. Außerdem war er ja trotz allem ein korrekter und verträglicher Vorgesetzter. Daraufhin entgegnete Eva, dass es gerade in diesem Fall wichtig und angebracht wäre, ihm zu widersprechen und sich eben nicht alles gefallen zu lassen. Denn so würde er immer ein willkommenes Opfer seines launischen Vorgesetzten bleiben. Und außerdem, wenn er wirklich so ein korrekter und verträglicher Vorgesetzter wäre, vertrüge er auch Kritik. Herr Gratschek befürchtete jedoch, dass er dann an Montagen wie heute noch mehr Abrechnungen hervorholen würde, die unbedingt bis zum nächsten Tag fertig sein mussten, und dann wäre er wieder der Dumme. Solchen Argumenten war Eva allerdings nicht zugänglich, sie wollte sie nicht hören. Also ist er doch nicht so korrekt und verträglich, fragte sie ironisch. Mit ihrer Ironie brachte sie ihn öfter aus der Fassung und nun ärgerte er sich über sie, sollte sie doch kein Abendessen bekommen, was störte es ihn? Die Frau in dem bunten Anorak legte das Lesezeichen in das Buch, klappte es zu und atmete tief ein. Nun wird sie endlich nervös, das wurde ja auch Zeit. Die Finger des alten Mannes auf dem Platz zum Gang bewegten sich in immer kürzeren Abständen auf und nieder, und der Mann mit dem Laptop wurde von Minute zu Minute unruhiger. Nun holte er ein Handy aus seinem Jackett, schaltete es ein und wählte eine Nummer; bei jeder Zahl, die er drückte, ertönte ein schrilles Piepen. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, und er kniff die Augenbrauen zusammen. Er tat ihm leid, aber wie konnte er ihm helfen? Was für einen wichtigen Termin hatte er heute noch wahrzunehmen? Nach ungefähr einer Minute schaltete der nervöse Mann das Handy wieder aus und warf es neben den Laptop auf den kleinen Tisch. So ein Handy hätte Herr Gratschek in diesem Moment ebenfalls gut gebrauchen können: Damit hätte er Eva anrufen und sie bitten können, ausnahmsweise einmal für ihn einkaufen zu gehen. Er überlegte kurz, ob er den nervösen Mann fragen sollte, ließ es dann aber bleiben, er wollte ihn nicht stören. Und außerdem, vielleicht fuhr der Zug ja gleich los, und es würde gar nicht nötig sein. In diesem Moment hob der Mann den Laptop wieder auf seine Knie und schrieb weiter. Schade, dachte Herr Gratschek. Wenn Herr Michels schon so kurzfristig mit irgendwelchen Terminen an ihn herantrat, warum stellte er ihm dann nicht auch das passende Arbeitsmaterial zur Verfügung? Von den 10 Milliarden DM Mehreinnahmen! Oder? Wen hatte er das jetzt gefragt? Sich selbst? Eva? Herrn Michels? Oder den nervösen Mann gegenüber? Je länger der Zug stand, desto philosophischer wurde er. Ein Lichtstrahl fiel genau auf die Nase der jungen Frau in dem geblümten Anorak. Sie blickte gedankenverloren an ihm vorbei aus dem Fenster. Er folgte ihren Augen und dem Lichtstrahl. Alle Bäume standen noch immer an derselben Stelle, wurden jedoch nun von der untergehenden milden Herbstsonne angestrahlt, ein wunderschöner Anblick: Die ohnehin schon bunten Blätter waren in ein goldenes Licht getaucht, kein Maler oder Fotograf hätte es schöner darstellen können. Ein leichter Wind wehte die Blätter hin und her und ab und an fiel eins auf den Boden. Herr Gratschek atmete tief ein, er fühlte sich wohl, er wollte diesen Augenblick festhalten und hoffte nun plötzlich, dass der Zug noch sehr lange an dieser Stelle stehen würde. Er legte seinen Ellenbogen auf das Fensterbrett und stützte seinen Kopf auf die Handfläche. Ein Vogel schwebte über die Bäume, setzte sich kurz auf einen Ast und flog dann weiter. In weiter Ferne sah er spielende Kinder, die hinter irgendetwas herliefen. Das Flugzeug war nicht mehr zu sehen. Das Handy des Mannes mit dem Laptop klingelte. Er riss es mit einer hastigen Handbewegung vom Tisch, schaltete es ein und meldete sich in einem barschen und unhöflichen Ton und sagte immer nur ja, nein, ja, nein und erklärte dann irgendjemandem am anderen Ende der Leitung atemlos und mit abgehakten Worten, dass er irgendwohin später kommen würde. War er überhaupt in der Lage, die Schönheit dieses Anblicks zu erkennen und zu würdigen? Herr Gratschek wandte seinen Blick wieder nach draußen und genoss den herbstlichen Sonnenuntergang, er wollte sich nicht die Stimmung verderben lassen, weder von Herrn Michels, noch von Eva und auch nicht von irgendwelchen nervösen Zeitgenossen, er verdrängte sie aus seiner Gedankenwelt. Er stellte sich vor, auf den Flügeln eines der Vögel dort draußen zu sitzen und über die Landschaft zu fliegen. Er erinnerte sich an Nils Holgersson, eine Geschichte, die er als Kind mit Begeisterung gelesen hatte. Wohin würde er, Reinhold Gratschek, fliegen? Plötzlich verschwand die Sonne hinter einer Wolke und der Zauber der Farben wurde blasser, die Dämmerung setzte ein. Herr Michels kehrte in Herrn Gratscheks Gedankenwelt zurück, aber er schob ihn an die Seite, er war in diesem Moment unwesentlich und hatte seinen Schrecken verloren. Seine Gedanken wanderten zu Melanie, die in der nächsten Woche acht Jahre alt werden würde. Sie hatte das Wochenende bei Oma Anneliese, Evas Mutter, verbracht. Von dort aus war sie auch heute morgen in die Schule gegangen. Das hoffte er zumindest, denn Oma Anneliese war ebenfalls eine jener Großmütter, denen die Durchsetzungskraft im Laufe ihres Lebens abhanden gekommen war. Eva behauptete, dass sie die in früheren Jahren durchaus gehabt habe und erzählte auch schon einmal einige wenige angenehme Geschichten aus ihrer Kindheit. Aber welcher Mensch tat das nicht? Zunächst sollte Melanie nur bis Sonntagabend bei ihrer Großmutter bleiben, der Besuch wurde dann jedoch auf den gemeinsamen Wunsch von ihr und Oma Anneliese bis Dienstagmittag verlängert. Nur dadurch wäre es für ihn und Eva überhaupt möglich gewesen, an diesem Abend ins Kino zu gehen. Die junge Frau in dem geblümten Anorak schlug ihr Buch wieder auf und las weiter. Wie alt mochte sie sein? Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Wahrscheinlich war sie eine Studentin, die in ihrer Freizeit jobbte, um ihr Studium zu finanzieren. Ob sie einen Freund hatte? Bestimmt, wahrscheinlich auch ein Student. Und was studierte sie? Er betrachtete sie verstohlen von der Seite. Wirtschaft und Jura wohl kaum, dazu war sie nicht ordentlich genug angezogen. Die Art ihrer Kleidung, der bunte Anorak, die ausgetretenen Schuhe, die Ringelsöckchen und die leicht unordentlichen Haare deuteten in eine andere Richtung. Eventuell Geisteswissenschaften oder ein Pädagogikstudium. Warum fragte er sie nicht einfach? Nein, das würde zu weit gehen, hinterher dachte sie noch etwas vollkommen Falsches von ihm. Unvorstellbar, wenn Eva mit ihrer krankhaften Eifersucht das erfahren würde. Er tippte auf Lehramt, das war es, eine angehende Lehrerin, Deutsch und Geographie. Deutsch, weil sie offensichtlich gerne las und Geographie, weil sie anscheinend ein Auge für die Schönheit der Landschaft hatte. Ob sie schon Kinder hatte? Nein, dazu war sie noch zu jung. Obwohl, man konnte nie wissen. Wo sie jetzt wohl herkam? Um diese Tageszeit wahrscheinlich von der Universität, und nun wartete die Arbeit auf sie, möglicherweise jobbte sie als Bedienung in einem Restaurant oder in einer Kneipe. Der alte Mann auf dem Platz zum Gang hob seinen Mantel hoch, faltete ihn auseinander, dann wieder zusammen und legte ihn auf seine Knie zurück. Herr Gratschek schätzte ihn auf Anfang siebzig, eher ein wenig älter. Er machte einen sehr würdevollen und gebildeten Eindruck. In welcher Branche hatte er früher wohl gearbeitet? Bestimmt etwas geistig hochstehendes. Als Lehrer? Oder vielleicht in einer Bank? Als Professor an einer Universität? Als Arzt? Hatte er möglicherweise eine eigene Firma gehabt? Und welche Branche? Wo kam er jetzt her? Hatte er seine Enkelkinder besucht? Warum reiste er allein? Wo war seine Frau? War sie krank, und er hatte sie gerade im Krankenhaus besucht? Oder lebte sie möglicherweise schon nicht mehr? Fragen über Fragen, und die Antworten gingen ihn im Grunde genommen gar nichts an. Wie er und Eva wohl in dem Alter sein würden? Vor kurzem hatten sie einmal Pläne geschmiedet, was sie als Rentner alles machen würden: Reisen, Ausflüge, Konzertbesuche und noch ganz viele andere Dinge, zu denen sie heute keine Zeit hatten. Seltsame Gedanken für ein Paar knapp unter vierzig, aber sie machten sie eben so ihre Gedanken. Der nervöse Mann mit dem Laptop blätterte in seinen Unterlagen und verglich sie mit dem, was er auf dem Bildschirm sah. Herr Gratschek überlegte noch einmal, ihn zu fragen, ob er einmal telefonieren dürfe, unterließ es dann aber doch wieder. Er wollte lieber weiter in Ruhe seinen Gedanken nachhängen und die Schönheit des Augenblicks genießen. Der verschwand nun allerdings schnell in der Dunkelheit und war nur noch zu erahnen. Zum Glück ging in diesem Moment die Beleuchtung im Zug an, unvorstellbar, was passiert wäre, wenn sie im Dunkeln hätten sitzen müssen. Er griff nach seiner Tageszeitung und betrachtete den Bundeskanzler. Welche Farbe hatten seine Kleidungsstücke denn nun? Das Hemd weiß, das Jackett dunkelblau und die Krawatte schwarzgrau gemustert! Das war natürlich sehr konventionell, konnte es nicht auch ganz anders sein? Das Hemd gelb, das Jackett dunkelgrün und die Krawatte rotblau gemustert? Er kicherte verstohlen, ob der chinesische Staatschef ihn so empfangen hätte? Das war natürlich sehr extravagant. Gab es noch eine andere Möglichkeit? Nein, damit wollte er sich nun nicht mehr beschäftigen, der Kanzler war eingekleidet. Er faltete die Zeitung zusammen, legte sie in seine Aktentasche und zog den Reißverschluss zu. Den würde er heute nicht mehr öffnen, sein Arbeitstag war beendet. Im Zug war Ruhe eingekehrt, die Kinder waren verschwunden, und es beschwerte sich auch niemand mehr, die Fahrgäste hatten resigniert und sich in ihr Schicksal ergeben. Die Finger des alten Mann schräg gegenüber lagen ruhig auf seinem Mantel und bewegten sich nicht; die junge Frau in dem geblümten Anorak blickte aus dem Fenster, das geöffnete Buch unbeachtet auf ihren Knien; der nervöse Mann mit dem Laptop schrieb nicht mehr, auch sein Telefon schellte nicht, er hatte den Kopf zurückgelehnt und starrte an die Decke. Herr Gratschek konnte die Ruhe greifen, sie war allgegenwärtig, die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Hatte jemand die Uhr angehalten oder den Schalter herumgestellt? In diesem Moment ging das Licht aus, es gab einen Ruck, das Licht ging wieder an, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, fuhr einige Meter, blieb wieder stehen, das Licht ging aus und wieder an und dann fuhr er, erst langsam, dann schneller und schließlich in der normalen Geschwindigkeit. Das Stimmengewirr im Zug setzte wieder ein, die Leute erwachten und von irgendwoher ertönte Beifall. Die Finger des alten Mannes fuhren wieder über den Mantel, die junge Frau in dem geblümten Anorak las weiter, und der nervöse Mann atmete tief ein und schrieb wieder in seinen Laptop. Allen war die Erleichterung anzusehen, dass es endlich weiterging. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, einige Sekunden vielleicht nur. Irgendetwas hatte sich jedoch verändert, auch wenn er nicht sagen konnte, was. Aber er wusste, dass er noch Zeit zum Einkaufen hatte und mit Eva ins Kino gehen konnte, und er wusste, dass es ein schöner Montag gewesen war. Und der Bundeskanzler war geschmackvoll eingekleidet!

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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