Des Lebens Unebenheiten

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Tantalos

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Klar und rein ist die Nacht nach dem reinigenden Gewitter. Die Straßen sind menschenleer. Nur noch vereinzelt durschneidet Motorgebrüll die hermetische Stille. Der Herbst hat bereits die Landschaft mit der gewohnten Gründlichkeit kahl gefegt. Es ist sehr kalt und spät, keine Zeit für einen gemütlichen Spaziergang. Doch Michael hält nichts in seinen eigenen vier Wänden. Wenn man alles verloren hat, was das Leben eines Menschen bedeutend, fröhlich, erstrebenswert und erträglich machte, wird die Einsamkeit, die sonst so erholsam und beruhigend sein konnte, zum erbitterten Feind.

Michael streifte über die Wunde an seinem Kopf, sie war inzwischen verkrustet. Er gelangte zu der eisernen Brücke, wo er noch vor weniger als zehn Monaten, am Neujahrstag, voll Zuversicht in die Zukunft geblickt hatte. Welch großartige Perspektiven eröffneten sich ihm damals. Jung, von angenehmeren Äußeren, witzig und redegewandt, ein angegehender Schriftsteller. Damals fiel ihm das Schreiben ganz leicht. Wie nach einem unterschütterlichen Naturgesetz flog die Feder über die leeren Seiten und füllte sie mit bewegenden Geschichten. Mitten in dieser euphorischen Stimmung ereilte ihn ein erster Dämpfer. Leopold Wagner war in der Nacht zum 18. April an akutem Herzversagen gestorben.

Herr Leopold, wie ihn Michael seit jeher genannt hatte, war in den pubertären Jahren des Künstlers eine stützende Säule gewesen. Ein aufmunternder Berater, wenn ihm Michael mit seinen ersten dilletantischen Werken zweifelnd und jammernd in den Ohren lag. Er war ein Vaterersatz, nachdem sich seine Eltern scheiden ließen. Er war ein Gleichgesinnter in philosophischen und politischen Diskussionen. Vor allem aber, war er ein Freund für den sensiblen jungen Michael.

Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr war Michael ein sehr schwer zu ertragender Mensch. Als kritisches, sehr impulsives Kind und Halbwüchsiger, lehnte er sich gerne gegen Autoritäten auf. Von seinen Lehrern wurde er zwar als begabt, doch hoffnungslos faul eingeschätzt. Von einigen sogar als destruktiv und assozial abgekanzelt. Nach kleineren Diebstählen und Zerstörungsaktionen kam er mit der Polizei in Berührung. Seine Mitmenschen beurteilten ihn als kontaktarm, komplexbeladen und jähzornig. Wenn Michael diese stürmische Zeit trotz allem relativ unbeschadet überstanden hatte, war es nur Herrn Leopold zu verdanken.

Als Michael allmählich selbstsicherer, gelassener und erfahrener wurde, lernte er neue Freunde kennen, wechselte in andere Gesellschaftsschichten. Herrn Leopold sah er immer seltener. Er blieb ihm jedoch bis zuletzt ein inniger Freund. Michael wurde nach dessen Tod nachdenklicher. Doch nach einigen Wochen kehrte er an den Schreibtisch zurück und arbeite weiter an seinem Roman. Doch das Schreiben fiel ihm nicht mehr so leicht. Er musste mit jedem Absatz ringen. Die Seiten füllten sich quälend langsam.

Mit seiner Freundin Monika kam es immer öfter zu Auseinandersetzungen. Im Sommer verließ sie ihn. Das kam für ihn wie aus heiterem Himmel. Er verfiel in alte Verhaltensmuster, schottete sich von der Umwelt ab, bekam hin und wieder Wutanfälle. Aber er schrieb weiter. Jetzt mehr denn je. Den ganzen Tag lang. Es wurde zu seinem einzigen Lebensinhalt. Endlich war das Werk fertig und wurde abgeschickt. Vor wenigen Tagen kam die Antwort:

Sehr geehrter Herr Hahnreich,
ihr Werk passt leider nicht unser derzeitiges Verlagsprogramm. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Glück.

Diese Antwort konnte er nicht mehr verkraften. Michael flüchtete in drei exzessive Tage und Nächte, in denen er seinen Kummer in Alkohol ertränkte, bis er in einer Bar eine Schlägerei anzettelte und hinaus geworfen wurde. Betrunken, mit einer blutenden Wunde am Kopf, schleppte er sich durch die menschenleeren Straßen.

Ein letztes Mal wollte er sich umblicken, um der schnöden Welt, die ihn so erbärmlich zugerichtet hatte, einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen. Aber welch ein Bild fing er dabei auf. Am Horizont drängte die ersten Lichterscharen heran und zogen rasch in die verborgensten Winkel der Stadt. Auf den an dieser Stelle schnell strömenden Fluss tanzten kleine, bunte Lichtkobolde einen übermütigen Reigen. Es war ein Freudentanz der Erneuerung. Es kündigte die nahende Ankunft der Königin an. Ein stürmischer Ostwind trieb in grellem Schein erstrahlende Wolken vor sich her. Sie wirkten wie emsige Diener, die auszogen, um zu verkünden: \"Sie kommt! Die Herrscherin kommt!\" Hinter ihnen brodelte das Firmament in feuerrotem Glanz. Dann hielt die Sonne ihren triumphalen Einzug. Anmutig erhob sie sich über ihr Königreich und brachte als Geschenk einen neuen, wundervollen Tag mit. Wie kühl und labend der erste Herbstwind war und wie zärtlich die ersten Morgengeräusche. Zitternd und schaudernd wich Michael vor dem Abgrund zurück. Niemals durfte er seinem Leben ein Ende bereiten. Noch hatte er lange nicht alles geschrieben, nicht alles gefühlt, nicht alles erfahren, was ihm dieses Leben zu bieten hatte. Noch hatte er nicht all seine Liebe und Zärtlichkeit verschenkt. Noch nicht die ganze bittere Süße des Lebens gekostet.

Das Leben ist schön, dachte er sich. Selbst mit all dem Leid, das es mit sich bringt. Manchmal mag es graumsam sein, doch es ist auch erhaben. Ein Mensch muss wohl viele Irrwege beschreiten, bis er einen Pfad findet, den es sich bis zum Ende zu gehen lohnt. Spontan setzte er sich nieder, kramte einen halbzerkauten Bleistift hervor und kritzelte seine Gefühle auf das Papier. Diesmal war es gut, was er schrieb, denn es war wahrhaftig.

Was zählte es, ob dieser Text jemals veröffentlicht werden würde. Michael wusste, das dieses Werk authentisch war. Ein Schritt auf dem langen Weg zur Selbsterkenntnis. Das musste das oberste, das edelste Ziel eines Schriftstellers sein. Glücklich stand Michael auf und eilte zur nächsten Bäckerei. Auf einmal hatte er Heißhunger auf frische, duftende, warme Semmeln.
 



 
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