Des Todes Platz im Leben

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Ohrenschützer

Mitglied
Weiterführende Gedanken zu "Der Selbstmörder"

Ist der Anblick eines soeben vom Zug Überfahrenen dem Menschen zumutbar? Soll man sich mit dieser Seite des Lebens auseinandersetzen? Ist man feig und bieder, wenn man behauptet, dafür zu schwach zu sein? Macht man sich lächerlich, wenn man betroffen davon ist? Sollte man nicht damit umzugehen lernen; dem Tod in seinem Leben einen Platz lassen, und nicht ganz hinten?

Ein guter Bekannter von mir ist Polizist und fährt zusätzlich noch als Volontär Einsätze für das Rote Kreuz. Man kann sagen, dass er schon einiges gesehen hat. Er wirkt bärig, humorvoll, fest im Leben stehend, ein Optimist und Pragmatiker. „Es passiert eben viel, und man muss das Beste daraus machen und helfen“, sagt er. Ob ihm das nicht manchmal schon zu nahe gehe, frage ich. Das Schlimmste seien Unfälle mit Kindern, meint er.

In dem Moment sehe ich, wie er mit den Worten kämpft. Vielleicht auch mit den Emotionen. „Wenn Dir ein Kind hinten stirbt…“ beginnt er, und ich sehe ihn vor mir, wie er hilflos „hinten“ im Krankenwagen bei einem sterbenden Kind sitzt. Als ob er das Bild physisch vor sich hätte, dreht er sich weg, hebt den Kopf ein wenig und macht ein explosives „Bah“. Seine Hand fährt über Nase und Mund. Ich frage nicht nach; ich habe schon mehr erfahren, als er mir mit Worten hätte sagen können.

Es erinnert mich an eine Szene in „Ben Hur“, wo Jesus Christus dem frisch versklavten Titelhelden zu trinken gibt, und der römische Sklaventreiber das verhindern will. Letzterer ist grobschlächtig, bullig und laut, als er jedoch Jesus gegenübertritt, blinzelt er zunächst verblüfft und hält inne; schließlich senkt er fast betreten den Blick und dreht sich um, ohne dass ein Wort gefallen wäre, und insistiert nicht mehr. Die Kamera zeigt dabei nicht das heilige Antlitz Christi oder einen bombastischen Heiligenschein, sondern nur das Gesicht des Römers, in dem sich das besondere Charisma Jesu widerspiegelt.

So ähnlich erging es mir, als ich die Szene mit dem sterbenden Kind im Gesicht meines Bekannten sah. Und zwar nicht, was im Detail passiert war, sondern wie er dabei empfunden hatte. Und das wollte ich eigentlich wissen.
 
Dieser Abschnitt,

lieber Ohrenschützer motivierte mich zum weiterlesen. den dein angeschnittenes thema bewegt mich zu zeit stark und berührt mich in ähnlicher weise. zumindest das sterben, den tod anzuerkennen in verbindung mit dem leben. wir sollten aufhören das unweigerliche negieren zu wollen und aufhören an künstlichen Lebensverlängerungen herumzubasteln. Aschied von etwas geliebten schmerzt immer. In den meisten heißen ländern der Welt ist es ganz alltäglich das ereignisse emotional ausgedrückt werden.
da gibt es etwas zu beklagen. warum weigern wir uns in der westlichen welt so sehr unseren gefühlen raum zu geben?

menschen die beim Unfall ums leben kommen berühren einen nochmal mehr. nett ist soein anblick mit sicherheit nicht..aber aiuch nicht wegzudenken. liebengruß heike

Ist der Anblick eines soeben vom Zug Überfahrenen dem Menschen zumutbar? Soll man sich mit dieser Seite des Lebens auseinandersetzen? Ist man feig und bieder, wenn man behauptet, dafür zu schwach zu sein? Macht man sich lächerlich, wenn man betroffen davon ist? Sollte man nicht damit umzugehen lernen; dem Tod in seinem Leben einen Platz lassen, und nicht ganz hinten?
 

Haremsdame

Mitglied
Sollte man nicht damit umzugehen lernen; dem Tod in seinem Leben einen Platz lassen, und nicht ganz hinten?
Hallo Ohrenschützer,

ich glaube, im Endeffekt kommt keiner drum rum, sich mit dem Tod auseinander zu setzen. Einige sind jeden Tag damit beschäftigt, andere werden davon überrascht. Leicht ist es wohl nie, einen Menschen gehen zu lassen...

Aber es ist noch mal ein Unterschied, ob jemand sich aus "Feigheit" vor dem Leben (sicher ist es meist Verzweiflung, weil die dunklen Seiten des Lebens viel zu oft verdrängt werden) vor einen Zug wirft oder ob ihm eine Krankheit das Leben nimmt. Wir alle hoffen wahrscheinlich, eines Tages aus Altersgründen einfach nur einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Leider haben nur wenige das Glück, so von dieser Welt zu gehen...

In meinen Augen ist das ein Thema, das durchaus in die Literatur gehört. Ich wünschte mir, dass viel mehr den Mut hätten, ihre Gedanken dazu festzuhalten.

Mit freundlichem Gruß
Haremsdame
 
@ haremsdame,

Aber es ist noch mal ein Unterschied, ob jemand sich aus "Feigheit" vor dem Leben (sicher ist es meist Verzweiflung, weil die dunklen Seiten des Lebens viel zu oft verdrängt werden)
ich persönlich meine, das man jemanden der aus tiefster verzweiflung nicht keine andere lösung findet als den freitod zu wählen, ebenso ein weiches herz braucht wie jemand der an einerkörperlichen erkrankung leidet.
in beiden fällen hat der tod auch etwas barmherziges.
un barmherzig werden nur die umstehenden die sich mit dem tod nicht befassen wollen.


In meinen Augen ist das ein Thema, das durchaus in die Literatur gehört. Ich wünschte mir, dass viel mehr den Mut hätten, ihre Gedanken dazu festzuhalten.
hie rkann ich deine meinung nur unterstreichen, denn die lyrik bittet eine breite fläche für das thema.
sonntagsgrüsse von heike
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Ohrenschützer,

ich finde das ganz wichtig, was Du da fragst, und Deine Parallele zum Abglanz einer Wahrheit auf dem Gesicht eines 'Beeindruckten' war sehr anrührend.

Natürlich gehört der Tod dazu und man darf ihm auch nicht ausweichen. Vor allem nicht, wenn diese starken Menschen voll Mitgefühl die 'Drecksarbeit' für uns mitmachen müssen.

Die Grenze, wann ein Tod mich etwas angeht, ist fließend.
Eines jeden Mitmenschlichkeit ist da gefragt, inwieweit er meint, dass das Leid anderer Menschen ihn etwas angeht.
Die Selbsttötung ist da keine Ausnahme.
Vor langer Zeit hatte ich einmal einen Kollegen, der die Frühpensionierung wählte, um einem jungen Kollegen Platz zu machen. Er war 'alte Schule', pünktlich, fleißig, zuverlässlich. Ich habe ihn nicht gut gekannt, war dreißig vierzig Jahre jünger. Er hatte seinen Lebensabend auf Mallorca verbingen wollen, hieß es. War alles schon geplant. Seine Frau wollte dann doch nicht hieß es, nicht so weit weg von Tochter und Enkelkind. Er hat sich in seinem Gartenhäuschen erschossen, Gewehrlauf in den Mund gesteckt. Seine Frau hat ihn gefunden.
Damals dachte ich nur, wie er das seiner Frau hatte antun können. Heute denke ich, er hat ihr geantwortet.
Das hat nichts mit Schuld zu tun. Nur mit dem alltäglichen Mangel an Kommunikation, mit der Illusion von Nähe manchmal, mit der Macht von Konventionen gegen das innerste Interesse.

Mich hat diese Geschichte trotz allem gelehrt, immer daran interessiert zu sein, was mein Partner wirklich will und nicht nur darauf bedacht zu sein, dass ich meinen Willen durchsetze.

Was geht mich ein Selbstmörder an, der sich vor einen Zug warf? Hat er sich am Leben versündigt? War er einfach ein dauerdeprimiert? Hartz IV Empfänger? Von der Frau/dem Mann verlassen? Hat jetzt mein Zug Verspätung, ist Stau, verpasse ich eine Verabredung ...?
Was bringt einen Menschen dazu, sich selbst zu zerstören? Ein Klumpen Blut und Fleisch und Knochen zu werden wie durch den Fleischwolf gedreht ... wie sehr muss man sich selbst geringschätzen, um das tun zu können.

Vor lauter Umweltbesoffenheit, dass selbst Pro7 ein 'rettet das Klima' Happening sendet, wird ganz vergessen, dass Menschen auch zur Umwelt gehören. Rettet die Wale und die Pelikane, aber Sozialschmarotzer gehören abgeschafft.
Komische Welt das. Aber das ist ein weites Feld, und darüber werden wir sicher nicht das letzte Mal gesprochen haben.

Liebe Grüße
Petra
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo!

Vielen Dank Euch allen für die gehaltvollen Wortspenden. Es fällt mir einiges dazu ein, das ich vorhabe, häppchenweise hier zu posten.

Zuallererst zu Dir, Heike: Du hast Recht, die lebensverlängernden Maßnahmen mit ihrer Kompromisslosigkeit kratzen auch an meinen moralischen Vorstellungen. Das Thema ist stark verwandt - vielleicht sogar ursächlich - zum allgemeinen Tod-(=tot-)Ignorieren.

da gibt es etwas zu beklagen. warum weigern wir uns in der westlichen welt so sehr unseren gefühlen raum zu geben?
Ich würde eher von der "nördlichen Welt" sprechen und wage eine Verallgemeinerung: Je weiter man nach Süden kommt, desto offener sind die Menschen im allgemeinen. Zäune, verschlossene Türen, ein anonymes Aneinander-Vorbeigehen - das findet man immer seltener, je weiter man nach Süden kommt. Stimmt vielleicht nicht ganz, aber so ungefähr.

Danke auch an no-name für das Lob. :)

Liebe Grüße,
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo Haremsdame,

ich glaube, im Endeffekt kommt keiner drum rum, sich mit dem Tod auseinander zu setzen. Einige sind jeden Tag damit beschäftigt, andere werden davon überrascht. Leicht ist es wohl nie, einen Menschen gehen zu lassen...
An dieser Stelle war ich kurz versucht, Einspruch zu erheben; aber nach kurzem Nachdenken glaube ich doch, dass Du Recht hast: Völlig ignorieren kann man den Tod - oder zumindest seine Auswirkungen nicht. Man kann zwar versuchen, ihn zu verdrängen (zum Beispiel runterzuspülen), ihn zu ignorieren - aber von selber geht er nicht weg.

Aber es ist noch mal ein Unterschied, ob jemand sich aus "Feigheit" vor dem Leben (sicher ist es meist Verzweiflung, weil die dunklen Seiten des Lebens viel zu oft verdrängt werden) vor einen Zug wirft oder ob ihm eine Krankheit das Leben nimmt.
Hm. So groß finde ich den Unterschied gar nicht. Ein Selbstmörder kommt mit seinem Leben so nicht mehr klar, er ist sozusagen "psychisch zu schwach" oder der Druck zu stark. Eine Krankheit könnte man als dasselbe sehen, nur eben körperlich.

(Du meinst vielleicht, mit 97 an Grippe zu sterben, ist anders als mit 25 unter einem Zug zu ändern. Aber vom Alter schreibst Du ja nicht; was wäre mit einem 97jährigen Selbstmörder und einem 25jährigen Krankheitsopfer?)

Es grüßt freundlich zurück
 

Haremsdame

Mitglied
Ein Selbstmörder kommt mit seinem Leben so nicht mehr klar, er ist sozusagen "psychisch zu schwach" oder der Druck zu stark. Eine Krankheit könnte man als dasselbe sehen, nur eben körperlich.
Tja, Ohrenschützer, wie soll ich das nun erklären? Krankheiten kommen ungebeten und es gibt trotz eifriger Forschung immer noch welche, bei denen niemand helfen kann. Wenn man einen Menschen jahrelang durch eine Krankheit begleitet und er jeden Tag ein wenig stirbt (siehe Alzheimer, da ist die Person zwar noch da, aber der Geist geht und das bedeutet ununterbrochen Abschied nehmen von dem Menschen, der nie mehr so wird, wie er einmal war), dann ist das für diejenigen, die begleiten, grausam. Aber niemand kann etwas tun, da heißt es "einfach nur" abwarten... Oder Krebs, wo bis zum letzten Moment gehofft wird, dass alles wieder "gut" wird...

Selbstmörder stoßen die Menschen, die ihnen zugetan sind (was sie ja in dem Moment gar nicht wahrnehmen können oder es ist ihnen egal), mehr oder weniger bewusst ins Unglück. Ich unterstelle ihnen mal, dass sie anderen Schuldgefühle aufbürden wollen. Schuldgefühle dafür, dass sie den Verzweifelten nicht gerettet haben... Selbstmord ist (in meinen Augen) meistens Egoismus pur. Vielleicht gibt es Ausnahmen, nämlich dann, wenn jemand krank ist und seinen Anverwandten die Pflege ersparen will...

Du meinst vielleicht, mit 97 an Grippe zu sterben, ist anders als mit 25 unter einem Zug zu ändern.
Oh ja, da sehe ich einen großen Unterschied: Mit 97 hat ein Mensch seinen Beitrag geleistet, da darf er gehen. Da kann der Tod sogar eine Gnade sein. Mit 25 unter einem Zug zu enden, ist einfach nur grausam - für die Hinterbliebenen. Denn alle Hoffnungen auf ein erfülltes Leben sind dahin... Wie sollen die Eltern oder die Freunde eines 25jährigen Selbstmörders damit fertig werden? Sicher ist es auch schwer, wenn ein 25jähriger durch einen Unfall oder eine Krankheit stirbt. Aber in dem Fall können die Hinterbliebenen sich vielleicht noch an "Gottes Willen" festhalten. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass es Gottes Wille sein könnte, dass sich ein 25jähriger das Leben nimmt (sich feig davon stiehlt).

Bei einem 97jährigen Selbstmörder (der das hoffentlich nicht in aller Öffentlichkeit tut!), bin ich viel nachsichtiger. Denn hier gilt das oben gesagte ebenfalls: er hat seinen Beitrag zum Leben und zur Welt geleistet. Vielleicht ist er allein übriggeblieben? Vielleicht ist er schon schwach, hat ständig Schmerzen und ist des Lebens deshalb überdrüssig? Vielleicht will er zu seinen Freunden und seiner Familie? So ein Fall geht für mich schon fast in die Richtung des "natürlichen Todes".

Für mich gibt es jedenfalls einen riesengroßen Unterschied zwischen einem "natürlichen" oder einem bewusst herbeigeführten Todesfall.

Mit freundlichen Grüßen
die Haremsdame
 

Ohrenschützer

Mitglied
Liebe Haremsdame,

da muss ich doch noch einiges loswerden. (Petra, Deinen Kommentar hab ich nicht vergessen; muss auch dazu später noch was sagen. :))

Wenn Du sagst: "Ich unterstelle ihnen mal, dass sie anderen Schuldgefühle aufbürden wollen." ist das schon eine mutige Unterstellung, die ich nicht teile. Es mag schon sein, dass manche durch ihren Selbstmord anderen "eins auswischen" wollen, aber ich denke, das ist ein kleiner Anteil. Und - trotz allem - ist der Schritt, sich gegen jeden Instinkt in vollem Bewusstsein das Leben zu nehmen, kein leichter.

Das habe ich übrigens an anderer Stelle in der Diskussion mit dem guten Pete auch geschrieben. Dieser meinte sogar: "Dann wird aus dem Selbstmord sogar ein Verbrechen, oft mit zahlreichen Opfern, deren Seelen [nicht im esoterischen Sinn gemeint] dabei manchmal schwer beschädigt werden."

Ich verstehe den Selbstmörder grundsätzlich als Opfer seiner selbst bzw seinen Lebensumständen. Die Ursachen seiner Handlung sehe ich hauptsächlich in der Verzweiflung, nicht in der Bosheit. Insofern würde ich es nicht pauschal wagen, von "feig davonstehlen" zu sprechen; in der Regel empfinde ich eher Mitgefühl.

Und ich stelle die Frage in den Raum, ob ein Selbstmörder seine Verwandten und Bekannten nur deshalb so nachhaltig trifft, weil sich diese in einem ungesunden Verhältnis zum Tod befinden.

Und wenn Du schreibst: "Denn alle Hoffnungen auf ein erfülltes Leben sind dahin..." und meinst damit nicht das Opfer, sondern die Hinterbliebenen, dann klingt das wie ein verletztes Recht auf Unversehrtheit des anderen. Der Selbstmörder muss doch zumindest noch über sein eigenes Leben verfügen dürfen. Also, ich glaube kaum, dass die Eltern eines Selbstmörders *ihm* Vorwürfe machen, dass er sich umgebracht hat. Sie werden, denke ich, eher die Umstände hinterfragen.

Ich hoffe, das klingt jetzt nicht wie ein Frontalangriff; meine Meinung geht in eine andere Richtung, ich hoffe, das jetzt auch genauer ausgeführt zu haben. Es grüßt sehr freundlich,
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo Petra,

Natürlich gehört der Tod dazu und man darf ihm auch nicht ausweichen. Vor allem nicht, wenn diese starken Menschen voll Mitgefühl die 'Drecksarbeit' für uns mitmachen müssen.
Genauso würde ich das auch sehen wollen. Es ist - auch in dieser Diskussion - interessant, wie nahe das Thema Tod auch mit Verantwortung, Ethik und Moral zu tun hat.

Das von Dir erwähnte Schicksal Deines Kollegen und Dein Meinungswandel dazu zeigt für mich auch, wie sehr wir heutzutage zu "Schuld-Suchern" erzogen werden. Bei jedem kleinen und großen Ding, das uns oder unserer Weltsicht im Weg liegt, brauchen wir einen Schuldigen. Irgendwie funktioniert das nicht immer, und gerade beim Tod nicht.

Was bringt einen Menschen dazu, sich selbst zu zerstören? Ein Klumpen Blut und Fleisch und Knochen zu werden wie durch den Fleischwolf gedreht ... wie sehr muss man sich selbst geringschätzen, um das tun zu können.
Wie wahr. Und wie Du sagst, die Wale und die Pelikane sind arm; wenn aber ein Mensch unter seiner Last (oder wegen seiner Schwäche) zusammenbricht, hält sich das Mitleid oft in Grenzen. "Komische Welt das." Da könnte man vom Ohrenschützer zum Menschenschützer werden.

Vielen Dank für Deinen anregenden Kommentar, mit bestem Gruß
 

petrasmiles

Mitglied
Ich finde, was hier auch in den Kontext gehört: Wie konnte eigentlich Anteilnahme zu Gaffen degenerieren?
Das ist etwas, was mich sehr bewegt.
Es scheint, dass im gleichen Verhältnis wie das eine abgenommen hat, das andere zunahm.
Aber das ist vielleicht eine perspektivische Verzerrung. Die Gaffer bei öffentlichen (grausamen!) Hinrichtungen früherer Zeiten nahmen ja auch in gewisser Weise Anteil.

@ Haremsdame
Ich glaube, die Bestimmung über das eigene 'am Leben bleiben' ist das äußerste individuelle Recht, das man als Mensch hat. Dies auf den Aspekt der Perspektive von Angehörigen eines den Freitod Wählenden zu sehen, spricht dem Individuum dieses Recht ab, und das sollte meines Erachtens niemand tun.
Niemand lebt für jemand anderen.

Verstehe mich nicht falsch, ich will hier nicht eine Romantisierung betreiben oder den Freitod liberal überhöhen.
Ich finde es geradezu herzzerreissend, wenn gerade Jugendliche den Freitod wählen, weil sie noch nicht gelernt haben, ihre Gefühle nicht absolut zu setzen, und sich selbst zu relativieren. Dennoch ist das die Perspektive eines 'Überlebenden'.
Den Freitod gar als egoistisch abzutun, fällt mir schwer, nachzuvollziehen. Denn das hieße, jemand schuldet sein Leben einem anderen Menschen. Dem kann ich nicht zustimmen. Noch nicht einmal Jugendliche schulden ihr Leben ihren Eltern.

Der Tod ist eine Kommunikation, die keine Antwort mehr gestattet. So endgültig wie nichts was ich mir sonst vorstellen könnte. Es ist tragisch, wenn sie Angehörige unvorbereitet trifft. Aber letzten Endes müssen wir alle das aushalten, was uns aufgetischt wird, dem Selbstmörder seine Verzweiflung und dem Angehörigen sein schlechtes Gewissen. Natürlich denkt jeder, was habe ich falsch gemacht, unterlassen, zuviel gemacht. Und das muss man aushalten oder lernen, auszuhalten. Es hilft nichts, die eigenen Schuldgefühle auf den Selbstmörder zu projizieren, als sei er es schuld, dass ich mich jetzt schlecht fühlen muss. Soll er doch gefälligst weiter funktionieren, damit ich mir keine Gedanken machen muss.
Das ist jetzt ein bisschen überspitzt formuliert, aber im Grunde läuft es doch genau darauf hinaus.
Selbstmord steht - wenn es aus Verzweiflung geschah - am Ende einer Entwicklung, die Zeugen hatte, oder vielleicht sogar fahrlässig herbeigeführt wurde.

Meine Mutter klärte mich auf den weiblichen Körper bezogen sehr früh auf. Sie sagte, dass ein Tag kommt, an dem sich mein Körper verändert, und dann werde ich Blut im Höschen finden. Ich sollte mir keine Sorgen machen, das wäre normal. Und wenn es soweit wäre, dann sollte ich sofort zu ihr kommen, und sie würde mir dann sagen, was ich machen muss. Sie hatte als Schulmädchen erlebt, dass sich eine Klassenkameradin umgebracht hatte, weil sie ihre Periode bekam und dachte, etwas ganz Schlimmes sei mit ihr geschehen und sie wäre dem Tode geweiht.

Wer will denn hier sagen, wer etwas falsch gemacht hat? Alles, alles, was man sagen könnte, geht zu weit oder greift nicht weit genug.

Jede Art von Schuldzuweisung verbietet sich meines Erachtens beim Freitod; man kann nur mutmaßen, Annäherungen finden - und trauern.

Liebe Grüße
Petra
 

Haremsdame

Mitglied
Puh, Ohrenschützer, das ist ein Thema, bei dem mein Blut in Wallungen gerät. Nicht, weil ich mich angegriffen fühle, sondern weil ich mich mit diesem Thema schon länger intensiv auseinander setze. Ich glaube nicht, dass ich den Tod aus meinem Leben ausschließe. Ich weiß schon viel zu genau, dass er einfach dazu gehört. Und ich weiß, wie schmerzhaft es ist, wenn jemand plötzlich nicht mehr "da" ist.

"Denn alle Hoffnungen auf ein erfülltes Leben sind dahin..." und meinst damit nicht das Opfer, sondern die Hinterbliebenen, dann klingt das wie ein verletztes Recht auf Unversehrtheit des anderen.
Ich meine damit das Leben des Opfers, das sich nicht mehr "erfüllen" kann. In meinen Augen wirft ein Selbstmörder das wertvollste, was er hat (sein Leben), einfach weg... Und er verweigert die Verantwortung dafür. Wenn es schlimm kommt, überlebt er ohne Gliedmaßen - vollständig auf die Hilfe anderer angewiesen. Und in so einem Fall verletzt er wahrlich das Recht auf Unversehrtheit eines anderen - desjenigen, der ihn künftig pflegen wird.

Da könnte man vom Ohrenschützer zum Menschenschützer werden.
Warum nur "könnte"? Wenn es mehr "Menschenschützer" gäbe, dann müssten wir vielleicht nicht über dieses gräßliche Thema Suizid diskutieren. Wenn sich Menschen besser in andere hineindenken könnten, gäbe es weniger Leid auf dieser Welt.

Petra, Du schreibst:
Niemand lebt für jemand anderen.
Da hast Du selbstverständlich recht. Aber ist zuviel Individualismus nicht auch schädlich? Wäre es oft - wie im Fall Deines Kollegen - nicht sinnvoller, rechtzeitig und deutlich genug anzusprechen, was einem das Weiterleben vergällt und dann entsprechende Konsequenzen zu ziehen? Wahrscheinlich ist das schwerer, als das Leben zu beenden... Und das hat nichts mit "das Leben einem anderen schulden" zu tun.

Der Tod ist eine Kommunikation, die keine Antwort mehr gestattet.
In meinen Augen hat der Tod nichts mehr mit Kommunikation zu tun.

Aber letzten Endes müssen wir alle das aushalten, was uns aufgetischt wird,
Das ist ein wahres Wort. Nur muss derjenige, der nicht mehr da ist, wahrscheinlich auch nichts mehr aushalten. Deshalb bin ich der Meinung, dass er/sie seine/ihre Verantwortung nicht wahr nimmt.

Das musste ich jetzt einfach schreiben. Ohne jemanden wegen einer anderen Meinung zu verurteilen...

Freundliche Grüße
von der Haremsdame
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo Petra,

ich bin so ziemlich Deiner Meinung, Du schreibst es nur viel schöner als ich. :D
Vor allem der überspitzte Satz "Soll er doch gefälligst weiter funktionieren, damit ich mir keine Gedanken machen muss." bringt es sehr gut auf den Punkt. Ein Freund von mir hat es noch weiter übertrieben und bitterböse ironisch gesagt: "Verdammte Selbstmörder. Die gehören ja umgebracht."

Ich finde, was hier auch in den Kontext gehört: Wie konnte eigentlich Anteilnahme zu Gaffen degenerieren?
Das Gaffen scheint ein uralter, dem Menschen innewohnender Instinkt zu sein. Mit wachsender Distanz zum Mitmenschen, die mittlerweile nicht nur in Großstädten zu bemerken ist, ist auch der Gaff-Instinkt immer öfter zu beobachten. Diese Anti-Zivilcourage hat immer etwas Animalisch-Dumpfes, das mich sehr abstößt.

Jede Art von Schuldzuweisung verbietet sich meines Erachtens beim Freitod; man kann nur mutmaßen, Annäherungen finden - und trauern.
Ich bin da auch sehr vorsichtig mit Vermutungen; vielleicht gehört es auch zu meinem Weltbild, dass ich jemandem keine bösartigen Motive unterstelle, sondern mich eher versuche, in seine Lage hineinzuversetzen und damit zu verstehen.

Liebe Grüße,
 

Ohrenschützer

Mitglied
Liebe Haremsdame,

Puh, Ohrenschützer, das ist ein Thema, bei dem mein Blut in Wallungen gerät. Nicht, weil ich mich angegriffen fühle, sondern weil ich mich mit diesem Thema schon länger intensiv auseinander setze. Ich glaube nicht, dass ich den Tod aus meinem Leben ausschließe. Ich weiß schon viel zu genau, dass er einfach dazu gehört. Und ich weiß, wie schmerzhaft es ist, wenn jemand plötzlich nicht mehr "da" ist.
[...]
Das musste ich jetzt einfach schreiben. Ohne jemanden wegen einer anderen Meinung zu verurteilen...
Danke für Deinen offenen Kommentar, den ich auch nicht "angreifend" verstehe (wie Du auch meinen nicht). Freut mich sehr, dass wir ganz sachlich (und interessant, wie ich finde) diskutieren können.

Ich meine damit das Leben des Opfers, das sich nicht mehr "erfüllen" kann. In meinen Augen wirft ein Selbstmörder das wertvollste, was er hat (sein Leben), einfach weg... Und er verweigert die Verantwortung dafür. Wenn es schlimm kommt, überlebt er ohne Gliedmaßen - vollständig auf die Hilfe anderer angewiesen. Und in so einem Fall verletzt er wahrlich das Recht auf Unversehrtheit eines anderen - desjenigen, der ihn künftig pflegen wird.
Aber das macht er ja nicht, weil es ihm Spaß macht oder aus Bosheit. Wenn er ein Pflegefall würde, hätte er ja nicht nur sein Ziel nicht erreicht, sondern in einer höchst wahrscheinlich unangenehmeren Lage als vorher.


Da könnte man vom Ohrenschützer zum Menschenschützer werden.
Warum nur "könnte"? Wenn es mehr "Menschenschützer" gäbe, dann müssten wir vielleicht nicht über dieses gräßliche Thema Suizid diskutieren. Wenn sich Menschen besser in andere hineindenken könnten, gäbe es weniger Leid auf dieser Welt.
Da hast Du Recht. In dem Sinne bin ich auch "Menschenschützer". (Sozusagen: Wenn ich die Ohren schütze, schütze ich die anhängenden Menschen gleich mit.:))

Aber ist zuviel Individualismus nicht auch schädlich? Wäre es oft - wie im Fall Deines Kollegen - nicht sinnvoller, rechtzeitig und deutlich genug anzusprechen, was einem das Weiterleben vergällt und dann entsprechende Konsequenzen zu ziehen? Wahrscheinlich ist das schwerer, als das Leben zu beenden... Und das hat nichts mit "das Leben einem anderen schulden" zu tun.
Da gebe ich Dir vollkommen Recht; die Ursachen für Selbstmorde liegen höchst wahrscheinlich auch in unserer Unfähigkeit, mit anderen zu sprechen. Reden tun wir ja viel, übers Wetter und das Geld usw, aber sagen wir dabei auch etwas? Jemand, der nie gelernt hat, über seine tiefsten Gefühle und Probleme zu sprechen, kommt leicht in Gefahr, daran zu verzweifeln. (Ich kenne erschreckend viele Menschen mit diesem Problem.)

In meinen Augen hat der Tod nichts mehr mit Kommunikation zu tun.
Finde ich schon. Es ist ein letztes Signal; beim Funken würde man sagen "over and out".

Schöne Grüße,
 
N

no-name

Gast
Lieber Ohrenschützer,

Dein Statement:
Vor allem der überspitzte Satz "Soll er doch gefälligst weiter funktionieren, damit ich mir keine Gedanken machen muss." bringt es sehr gut auf den Punkt. Ein Freund von mir hat es noch weiter übertrieben und bitterböse ironisch gesagt: "Verdammte Selbstmörder. Die gehören ja umgebracht."
finde ich persönlich sehr interessant. Ich denke, wenn man auf diese Art mit dem Tod bzw, dem Freitod so unmittelbar konfrontiert wird, dann habe ich quasi automatisch ein "schlechtes Gewissen", weil ich diesen nicht verhindern konnte. Dies natürlich weniger bei einem Unbekannten, wie in deinem Text. Hier steht man vermutlich "nur" unter dem Schock des "unmittelbar mit dem Tod konfrontiert seins".

Würde ich mit einem Selbsmord/Freitod eines Menschen aus meinem Bekanntenkreis konfrontiert werden, dann würde ich mich vermutlich fragen, ob es keine Abnzeichen gab, dass ich diese Entwicklung hätte absehen und eventuell verhindern können. Ja, ich denke, diese Gedanken würde ich mir vermutlich machen... Ich hätte - wie oben schon erwähnt - irgendwie ein schlechtes Gewissen...

Liebe Grüße von no-name.
 

Ohrenschützer

Mitglied
Liebe no-name,

ich denke, da empfindet jeder gleich. Weiters glaube ich, dass es dieses - oft unangemessen starke - schlechte Gewissen ist, das Haremsdame so echauffiert. Diesen letzten Aufschrei eines Selbstmörders versteht sie als "Jetzt seht ihr, wie weit ihr mich gebracht habt", wenn ich sie richtig verstanden habe.

Aber ich glaube, auch mit diesem schlechten Gewissen muss man umgehen lernen. Im Grunde genommen trifft man ja viel öfter als man glaubt Entscheidungen oder vollzieht Handlungen, die das Leben anderer nachhaltig beeinflussen. Nur ist es beim Selbstmord des Mitmenschen so krass und unumkehrbar.

Meint
 



 
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