Dialog mit meinem Spiegelbild

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Dialog mit meinem Spiegelbild


Meine Hand tastet im Dunkeln nach dem Lichtschalter im Bad, der befindet sich gleich links neben der Badtür, in Augenhöhe. Mit der anderen Hand verdecke ich meine Augen so gut es geht, um nicht geblendet zu werden vom grellen Licht der Halogenlampen, wenn ich das Licht einschalte.
Langsam spreize ich meine Finger und blinzle durch die entstehenden Zwischenräume hindurch. Nach einem kurzen Augenblick, gewöhnen sich meine Augen an dieses künstliche, grelle Licht, so dass ich schließlich meine Hand, welche ich immer noch mit den gespreizten Fingern vor meinen Augen halte, wegnehmen kann.
Ich stehe vor dem Handwaschbecken, meine Hände liegen auf dem Beckenrand auf und stützen meinen Oberkörper ab. Mein Kopf ist leicht nach vorn gebeugt, und meine Augen blicken in einen Spiegel, der oberhalb des Waschbeckens montiert ist. Der Spiegel selbst ist ohne Schnickschnack, keine Verschnörkelungen, keine Verzierungen, blank und ungerahmt.
Ich erkenne mich in diesem Spiegel. Prüfend schaue ich mich an, und während ich dort stehe und schaue, überlege ich, ob ich mir nicht selbst einen „Guten Morgen“ wünschen soll, wenn schon niemand sonst sich in der Wohnung aufhält, um mir einen „Guten Morgen“ wünschen zu können. Ich entschließe mich, es zu tun!
„Guten Morgen“, höre ich mich freundlich sagen.
„Guten Morgen. Du siehst aber noch ziemlich müde aus, und gut geschlafen hast du wohl auch nicht!?“
„Wie kommst du darauf?“
„Na so wie du aussiehst und überhaupt…Meinst du vielleicht ich höre es deiner Stimme nicht an, wenn du…wenn du, sagen wir, wenn du nicht ehrlich und aus Überzeugung –Guten Morgen- zu mir sagst!? Und meinst du vielleicht ich sehe es dir nicht an, wenn du versuchst, mir etwas vorzumachen!? Schließlich sehe und höre ich dich jeden Tag. Ich bin dein Spiegelbild! Du kannst mir nichts vormachen, nichts verheimlichen. Ich sehe und spüre alles, was in dir vorgeht, glaube mir!“
Das hat mir zum „Guten Morgen“ auch noch gefehlt. Ein Spiegelbild, das mich provoziert und aus der Reserve locken will, und meint mir sagen zu können, was „Sache“ ist. Dabei wollte ich doch wirklich nur „Guten Morgen“ sagen und meine Tabletten aus dem Spiegelschrank holen. Und jetzt, jetzt bekomme ich von meinem Gegenüber, so ein dämliches Gespräch aufs Auge gedrückt. Meine Laune steigert sich dadurch nicht gerade, im Gegenteil. Ich spüre eine gewisse Angriffslust in mir aufsteigen. Deshalb entschließe ich mich, dieses „Spiegelbildspielchen“ mitzuspielen. Mal sehen, was dabei herauskommt, wer da die Oberhand gewinnt oder sie behält.
Da dringt auch schon ein eindringliches: „Wie geht es dir?“, von meinem Spiegelbild an mein Ohr.
„Ich kann nicht klagen“, und während ich diese Worte ausspreche, hoffe ich, diesen Satz mit gebührender Überzeugung in meiner Stimme gesagt zu haben.
„Nein, du kannst nicht klagen“, postwendend erhalte ich meinen Satz wie ein Echo zurück, hallend und sich dreimal wiederholend. Er wird mir regelrecht um die Ohren geschleudert. Aus der Haut fahren könnte ich. In diesem Moment, möchte ich nur noch Eines, meine Hände um den schlanken Hals meines Spiegelbildes legen und…Ich beherrsche mich, aber ich bemerke das Beben in meiner Stimme, diesen unterdrückten Zorn, als ich aus meinem Mund die Sätze zwischen meinen Zähnen herauspresse: „Nein, ich kann auch nicht klagen. Klagen liegt mir einfach nicht“.
„Dachte ich es mir doch!“. Locker, leicht, frech und unheimlich schlagfertig gibst du mir die Antwort, die ich in diesem Augenblick überhaupt nicht gebrauchen und hören kann. Na danke auch! Ich wende meinen Kopf, meine Augen ab, von diesem meinem Spiegelbild. Die Emotionen kochen in mir hoch. Ich brauche eine Verschnaufpause, sonst platze ich hier, jetzt und sofort.
Aber: Es stimmt, ich sehe müde aus, und ich habe schlecht geschlafen. Ich habe schlecht geschlafen, weil…Weil…“Verflixt, was geht dich das an?“, zische ich meinem Spiegelbild wütend entgegen. Mittlerweile habe ich meinen Kopf und meine Augen, ihm wieder zugewandt. „Ich habe jetzt weder Lust noch Zeit auf tief schürfende Diskussionen mit dir. Was geht dich mein Seelenleben an? Was bildest du dir eigentlich ein?“
„Ach ja, tu ich das, mir was einbilden!? Ich sorge mich um dich. Und damit du es weißt, dein Seelenleben geht mich verdammt viel an, mein liebes Kind“, kommt es deutlich gereizt von meinem Spiegelbild zu mir herüber. „Verdammt viel! Ich bin es schließlich, das dich jeden Tag ansehen muss, das dich jeden Tag als erstes sieht. Oder meinst du vielleicht, dass das alles spurlos an mir vorübergeht? Wenn du lachst, dann lache ich auch. Bist du unglücklich, dann bin ich es auch. Geht es dir gut, dann geht es mir auch gut. Aber es geht dir eben nicht gut, das sehe ich doch!“
„Herrgott noch mal , halt endlich deine Klappe. Ich will nichts mehr von dir hören. Mir reicht es mit dir. Mische dich gefälligst nicht in meine Angelegenheiten!“ Meine Stimme überschlägt sich fast. Ich schleudere meinem Spiegelbild zornige und vernichtende Blicke entgegen. Ich bin so wütend, so aufgebracht, dass ich das Gefühl habe, von meinen frei werdenden Energien auseinander gerissen zu werden. Für ein paar Sekunden herrscht Ruhe. Na endlich, denke ich und glaube schon, mein Spiegelbild dermaßen eingeschüchtert zu haben mit meinem Emotionsausbruch, dass es sich lieber mit weiteren, von mir unerwünschten Kommentaren zurück hält. Aber da habe ich mich wohl zu früh gefreut.
„Wer mischt sich denn da in wessen Angelegenheiten ein!?“ Schrill und herausfordernd, braust mein anderes Ich mit seiner Stimme auf. „Du bist es doch, die jeden Tag mehrmals bei mir im Bad vorbeischaut, mich ansieht und mich mit ihren Blicken taxiert und mich mit Dingen konfrontiert, die ich alle gar nicht wissen will und schon gar nicht im Detail. Trotzdem muss ich ausharren, du zwingst mich dazu, indem du mich anschaust im Spiegel. Ich muss alles über mich ergehen lassen, nicht du! Kann mich schließlich nicht selber weghängen!“
Mein Spiegelbild legt eine kurze Pause ein. Ihn scheint es auch anzustrengen, dieser verbale Konflikt zwischen uns beiden. Sehe es ihm an und bekomme eine wenig Mitleid mit ihm, aber nur ein wenig.
„Ich wollte dir auch nur einen „Guten Morgen“ wünschen und sonst nichts, aber als ich dich gesehen habe, deine unausgeschlafenen Augen, deinen traurigen Blick, deine Körperhaltung wahrgenommen habe, wie du so kraftlos vor mir gestanden bist, da wollte ich einfach wissen, wie es dir geht! Mehr nicht!“
Wir sehen uns beide an, beide haben wir Tränen in den Augen, beide zittern wir am ganzen Körper. Dieser Schlagabtausch hat es in sich. Und obwohl es eigentlich nicht sein kann, fühle ich mich etwas leichter, ruhiger. Mein Spiegelbild auch. Ich entschließe mich, meinem Spiegelbild zu erzählen, warum ich in der letzten Nacht keinen Schlaf gefunden habe. Ich atme tief ein und aus, mehrmals hintereinander, sammle mich und hole noch mal tief Luft aus dem Bauch heraus: „Weißt du, gestern da…“.
Weiter komme ich nicht. Plötzlich ist alles Dunkel um mich, um uns herum. Mein Spiegelbild ist fort. Vorsichtig, mit Händen und Füßen mich vorwärts tastend, suche ich nach dem Lichtschalter im Flur. Auf die Idee nach dem Sicherungskasten zu sehen, komme ich in dieser Situation nicht. Ich drücke drauf und warte sehnsüchtig, dass es hell wird im Flur…Es bleibt dunkel. Warum? Ich taste mich weiter voran, zur Wohnungseingangstür, öffne sie und gehe die Stufen zur Wohnung meiner Nachbarin hinunter. Meinen Rücken drücke ich dabei an die Wand, um wenigstens etwas Halt im Dunkeln zu finden und um mich sicherer zu fühlen. Ich klopfe, ich höre Schritte näher kommen, die Tür öffnet sich und ein gleißender Lichtkegel von einer Taschenlampe strahlt mir direkt ins Gesicht.
„Guten Morgen“, höre ich meine Nachbarin, mit der ich mich duze, freundlich zu mir sagen.
„Guten Morgen“, erwidere ich ebenso freundlich zurück und stelle gleich die Frage hinterher: „Weißt du was los ist?“
„Entschuldige bitte, da war gestern so ein Typ von den Elektrowerken da und hat gesagt, dass sie heute Morgen für 3 Stunden den Strom abschalten müssen, wegen wichtiger Wartungsarbeiten an den Starkstromleitungen. Hab total vergessen, dir bescheid zu sagen und dir den Zettel hochzubringen.“ Ziemlich zerknirscht schaut sie jetzt drein, meine gute Nachbarin. Sie heißt übrigens Karin, und das schlechte Gewissen steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Ich denke an gestern, ich denke an heute, an mich, an mein Spiegelbild, an meine Nachbarin und wünsche uns allen einen wunderschönen „Guten Morgen“ und das mit Überzeugung. Heute Abend, wenn ich vom Geschäft nach hause komme, werde ich reden mit meinem Spiegelbild. In aller Ruhe, über das was gestern war, und was ich ihm schon heute früh erzählen wollte.
 



 
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