Die Tänzerin

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Ro

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D i e T ä n z e r i n

Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. So lief er, wie er sich vorgenommen hatte, direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht fuhr er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischelte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

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Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. So lief er direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht fuhr er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

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D i e T ä n z e r i n

Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
D i e T ä n z e r i n

Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

jon

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Teammitglied
Herzlich willkommen in/auf/unter der Leselupe!

Am Anfang mochte ich den trockenen, fast harten Stil und fand eigentlich nur, er bräuchte mehr Absätze (der Leserhythmus verlangt die sozusagen). Mit der Zeit begann mich der Stil aber zu langweilen. Dazu trugen ganz sicher die fehlenden Absätze bei. Nomalerweise fließt Text innerhalb eines Absatzes (klanglich und inhaltlich). In diesem Fall tut er das nicht, er bricht (an den Stellen, wo Absätze hingehören würden), was den Rhythmus, der eigentlich (zumindest potentiell) da ist, tötet.

Die "Cern-Kritik" (Cern mal als weitgreifendes Symbol) des Textes mag ich. Der erzählerische Sinn der Tänzerin entzieht sich meinem Verständnis.

Inhaltlich: Der kann nicht wirklich unangemeldet und ohne Techniker-Hilfe (die ruhende Anlage braucht mehr als nur Eingaben am Terminal, oder?) einfach so so ein sauteures Ding benutzen, oder? Auch das mit dem Wasser aus der Leitung ist eher Unsinn. Und warum sollte das Phänomen nur unser Sonnensystem erfassen (nach der Erklärung geht wohl eher das ganze Universum unter, oder?) ? Das alles gibt dem Text den Anschein, da schreibt (trotz Wissenschaftsblabla) einer, der keinen blassen Schimmer hat. Das nimmt der Kritik jede Kraft.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach 20 Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung.

Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nichts außer sein eigenes schwaches Spiegelbild. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung.

Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kann Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich dort nachts arbeiten. Also gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich ohne Licht anzuschalten in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang duch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch das Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme an und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach 20 Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nichts außer sein eigenes schwaches Spiegelbild. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung.

Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg.

Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kann Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich dort nachts arbeiten. Also gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch das Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme an und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Hi,

habe inzwischen einiges geändert, bis auf die möglicherweise wichtigste Aufgabe, die Begegnung mit der Tänzerin besser in die Geschichte einzubinden. Mal sehen...

LG
Ro

P.S: Falls es wen interessiert: Ein ''Kippen'' des Higgsfeldzustandes würde mutmaßlich Auswirkungen auf die Materie innerhalb eines Ereignishorizontes haben, also auf ein ''Teiluniversum'' (das, allerdings richtig, wäre weit ausgedehnter als unser Sonnensystem). So genau weiss das keiner und man sollte es auch nicht ausprobieren.

Ro.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Jetzt bin ich beruhigt: Der Beschleuniger ist nur schlampig gesichert und das Wasser kann er jetzt aus der "Aqua dest."-Flasche, die irgendwie zur jedem Labor zu gehören scheint, genommen haben.
Wenn laut Theorie die Umwandlung doch begrenzt ist, ist "nirgendwo halt machen" vielleicht (zwar besser als das sehr plakative "Sonnensystem") auch nicht richtig. Vielleicht ist das "genaue" Ausmaß für die Story auch gar nicht wichtig (für uns hat sich die Sache dann sowieso erledigt). Was hältst du von sowas: Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung und würde letztlich bis in die tiefsten Tiefen des Universums reichen.? Ein bisschen kitschig, ich weiß …

Die Absätze gefallen mir nun deutlich besser. Neun Punkte.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
PS. Falls du's irgendwo einreichen willst, hier sind noch ein paar Tippfehlerchen:

Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken.
ließ (von lassen)

Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage.
Zahlen ausschreiben! (Bei Prosatexten immer, es sei denn sie sind als Wort zu unübersichtlich oder Teil eines zitierten Dokuments.)

Nach 20 Minuten kam
siehe eben

er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an.
Straße


sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt,
Stoß

d
er etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen war.
verborgen gewesen war (jetzt ist es ja freigesetzt)

brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung.
brütete über seiner neuen physikalischen Fragestellung


Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen.
Wenn sie das Verhältnis einnehmen, denn das ist ja keine Zufallsgröße, das kann man doch sicher im Beschleuniger regeln (die Teilchen soweit beschleunigen, dass die Umlaufdauer stimmt). Es sei denn du meinst, "falls er es schafft, dieses Verhältnis exakt herzustellen" – dann würde ich es aber auch so schreiben.


Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg.
das letzte Komma ist zu viel


Es war kalt und kurz vor drei,
Grenzt an Stilblüte. Das mir die Temperatur egal erscheint, würde ich nur die Uhrzeit erwähnen.

nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten.
Grenzt an Stilblüte

»Wohin?« zischte die Gegensprechanlage.
Komma nach der Rede (ja, auch bei Fragezeichen: Neue Rechtschreibung)

doch der Pförtner kann Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich dort nachts arbeiten. Also gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.
Der Point-of-View-Wechsel ist nicht ganz sauber. Reicht es, dass (aus Manfred Sicht) die Tür einfach freigegeben wird?
der Pförtner kannte / und wusste
Stilblüte: Die Hand gab einen Summton frei?


Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme an und deaktivierte die Überlastsicherung,
"ab" zu viel

Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun.
Das "man" irritiert, bisher ist alles sehr manfred-blickig geschrieben, plötzlich so unpersönlich.


Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme.
Komma nach "schnell"
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach zwanzig Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nichts außer sein eigenes schwaches Spiegelbild. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seiner neuen physikalischen Fragestellung.

Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld eventuell aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Es war kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die Steintreppe am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Die Tür wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei Praktika, die er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Früher oder später musste irgendjemand diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach zwanzig Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt und etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nichts außer sein eigenes schwaches Spiegelbild. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seiner neuen physikalischen Fragestellung.

Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld eventuell aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Es war kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die Steintreppe am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Die Tür wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei Praktika, die er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Früher oder später musste irgendjemand diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach zwanzig Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt und etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst, er lief direkt zum Waldweg. Doch hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nichts außer sein eigenes schwaches Spiegelbild. Enttäuscht ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seiner neuen physikalischen Fragestellung.

Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld eventuell aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Es war kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die Steintreppe am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Die Tür wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei Praktika, die er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Früher oder später musste irgendjemand diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte sich die Feldstärke um einen Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach zwanzig Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit hatte es ihn immer wieder bedrückt, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens und einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft hatte er sich in eine unbefriedigende, perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen Interessen und Wünschen leiten lassen sollen. Für einen anderen Berufsweg war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo anders musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Das konnte er nicht, indem er bloß seine bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er Kraft, Bewegung, gestaltende Lebendigkeit in seine Forschung bringen, um sie für sich wiedergewinnen. Und dann, da war sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen verzichtete er im Institut auf die Literaturrecherche. Lange blickte er regungslos auf das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, doch er war äußerst konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt und etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, lief er zum Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich zu erkundigen und den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie ja gelegentlich öffentlich auf. Doch er verwarf diese Idee. Er war Wissenschaftler, es war für ihn unangemessen und unschicklich, einer Tänzerin nachzustellen. So ging er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seiner neuen physikalischen Fragestellung.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Es war kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die Steintreppe am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Die Tür wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei Praktika, die er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Früher oder später musste irgendjemand diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte sich die Feldstärke um einen Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach zwanzig Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit hatte es ihn immer wieder bedrückt, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens und einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft hatte er sich in eine unbefriedigende, perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen Interessen und Wünschen leiten lassen sollen. Für einen anderen Berufsweg war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo anders musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Das konnte er nicht, indem er bloß seine bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er Kraft, Bewegung, gestaltende Lebendigkeit in seine Forschung bringen, um sie für sich wiedergewinnen. Und dann, da war sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen verzichtete er im Institut auf die Literaturrecherche. Lange blickte er auf das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, regungslos und zugleich äußerst konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt und etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich zu erkundigen und den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie ja gelegentlich öffentlich auf. Doch er verwarf diese Idee. Als Wissenschaftler fand er es unschicklich, einer Tänzerin nachzustellen. So lief er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seiner neuen physikalischen Fragestellung.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Es war kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die Steintreppe am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Die Tür wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei Praktika, die er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Früher oder später musste irgendjemand diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte sich die Feldstärke um einen Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank.

Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Nach zwanzig Minuten kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Schnell fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne das Haus zu durchqueren.

Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen.

Das Seminar vergaß er. Unterwegs nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit hatte es ihn immer wieder bedrückt, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens und einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft hatte er sich in eine unbefriedigende, perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen Interessen und Wünschen leiten lassen sollen. Für einen anderen Berufsweg war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo anders musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Das konnte er nicht, indem er bloß seine bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er Kraft, Bewegung, gestaltende Lebendigkeit in seine Forschung bringen, um sie für sich wiedergewinnen. Und dann, da war sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen verzichtete er im Institut auf die Literaturrecherche. Lange blickte er auf das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, regungslos und zugleich äußerst konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt und etwas ganz Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich zu erkundigen und den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie ja gelegentlich öffentlich auf. Doch Manfred hätte es unschicklich gefunden, einer Tänzerin nachzustellen. So lief er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seiner neuen physikalischen Fragestellung.

Ermüdet ging Manfred zu Bett, doch nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage auf der Matratze, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Es war kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die Steintreppe am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter, und wußte, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Die Tür wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zu dem Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich, ohne Licht anzuschalten, in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage aus führte ein unterirdischer Gang zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Gang durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Verbindungsganges wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

An einigen Kartons vorbei gelangte Manfred zum Beschleuniger. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei Praktika, die er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um, aktivierte die notwendigen Systeme und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Früher oder später musste irgendjemand diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte sich die Feldstärke um einen Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Jetzt sah sie ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Herbsttag, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosem Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach dem sparsamen Frühstück ging er wie sonst auch zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Dort angekommen, ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer öfter das Gefühl, einen Beruf ergriffen zu haben, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens und einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft hatte er sich in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen Interessen und Wünschen leiten lassen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Den fand er nicht, indem er bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er die Kraft und Lebendigkeit unkonventioneller Ideen in seine Forschung bringen. Dann, da war er sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er auf das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender Ballett fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war. Auch hätte er es unschicklich gefunden, einer Tänzerin nachzustellen. Und falls er ihr tatsächlich persönlich begegnen würde, von Angesicht zu Angesicht: Was sollte er ihr sagen?

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Er hatte mit seiner Lebensführung seiner inneren Natur zuwidergehandelt und wusste, dass sie für immer verloren war. Es gab keine Rückkehr zu dieser Natur, so wie es keine Rückkehr in den leichten, beweglichen Körper eines Kindes gab.

Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein
Regisseur oder Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten; man könnte sagen: nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld eventuell aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Die Berechnungen im Einzelnen waren kompliziert und zogen sich in die Nacht hinein. Irgendwann legte Manfred sich erschöpft auf das Sofa und schlief ein.

Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet und etwas verwirrt auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er zu sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Fast in Dunkelheit tastete Manfred sich um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach, die ihm während seiner Planungen klar geworden waren. Falls der Dominoeffekt in Gang käme, musste es gefährlich werden. Doch das Risiko schien ihm der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Die Ahnung aufziehender Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit und sein Glauben, dass der Versuch gelingt, steigerte sich zur Gewissheit. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Irgendwann würde irgendwer diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Geschafft ?

So, jetzt habe ich die Begegnung mit der Tänzerin stärker in die Geschichte verwoben. Bleibt die Frage: Ist das überzeugend?
Bin mir selber nicht ganz sicher.

Ro.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Herbsttag, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosem Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach dem sparsamen Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Dort angekommen, ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer öfter das Gefühl, einen Beruf ergriffen zu haben, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens und einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft hatte er sich in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen Interessen und Wünschen leiten lassen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Den fand er nicht, indem er bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er die Kraft und Lebendigkeit unkonventioneller Ideen in seine Forschung bringen. Dann, da war er sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er auf das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender Ballett fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war. Auch hätte er es unschicklich gefunden, einer Tänzerin nachzustellen. Und falls er ihr tatsächlich persönlich begegnen würde, von Angesicht zu Angesicht: Was sollte er ihr sagen?

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Er hatte mit seiner Lebensführung seiner inneren Natur zuwidergehandelt und wusste, dass sie für immer verloren war. Es gab keine Rückkehr zu dieser Natur, so wie es keine Rückkehr in den leichten, beweglichen Körper eines Kindes gab.

Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein
Regisseur oder Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten; man könnte sagen: nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld eventuell aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Die Berechnungen im Einzelnen waren kompliziert und zogen sich in die Nacht hinein. Irgendwann legte Manfred sich erschöpft auf das Sofa und schlief ein.

Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet und etwas verwirrt auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er zu sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Fast in Dunkelheit tastete Manfred sich um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach, die ihm während seiner Planungen klar geworden waren. Falls der Dominoeffekt in Gang käme, musste es gefährlich werden. Doch das Risiko schien ihm der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Die Ahnung aufziehender Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit und sein Glauben, dass der Versuch gelingt, steigerte sich zur Gewissheit. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Irgendwann würde irgendwer diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 



 
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