Die "kleine" Winterhütte

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TheoDoridis

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Der Boden hier war schon tiefgefroren und große Schneeflocken fielen beinahe ruhelos auf die Erde nieder. Der Tag war zur Neige gegangen und das Land verdunkelte sich allmählich durch die untergehende Sonne.
Am Himmel drückte ein Dreiviertelsmond seine Strahlen mühsam durch die dicke Wolkendecke und erreichten den Boden gerade so viel, dass das tief verschneite Land leicht erkennbar wurde.
Ein verdorrter Baum hier, der einst vom Blitz getroffen und an seinen Ästen verbrannte, war von den dicken herabfallenden Schneeflocken immer mehr bedeckt worden. Dabei ließ der Dreiviertelsmond die verschneiten Äste leicht hell aufleuchten und den Baum beinahe wie eine erfrorene Gestalt mit weißen Armen aussehen, die jemanden mit ihren starren Armen empfangen wolle.
Eiskalter Wind streifte die Rinde dieses Baumes und blies ein wenig Schnee von den verkohlten Ästen davon. Aber durch den weiteren starken Schneefall lag nach kurzer Zeit wieder neuer Schnee auf den schwarzen Ästen.
Zeit verging und der starke Schneefall ließ langsam nach. Zu hören war nur noch der leichte, eiskalte Wind, der über das verschneite Land zog und durch die Schneeverwe-hungen die Oberfläche aufglitzern ließ. Im ganzen Land hatte sich die Schneedecke aus-gebreitet und verstummte die Geräusche. Der dunkle Himmel wurde langsam sternenklarer und die Ränder des nun weißhell erleuchteten Dreiviertelsmonds wurden deutlich sichtbarer. Sein weißes, über das Land ausbreitende, Mondlicht erleuchtete fortan die Schneedecke.
In der Ferne von hier war nun etwas zu erkennen. Langsam und mit geduldigem Tempo bewegte sich dieses etwas hierher. Es war eine Gestalt, das von zwei weiteren dunklen Gestalten begleitet wurde. Das Knirschen ihrer eintauchenden, immer mehr hörbaren Schritte, wurde immer deutlicher. Nun kamen die drei Gestalten immer näher und wurden deutlich erkennbarer. Es war ein Mann, ein Junge und eine Frau. Sie waren eine Familie. Was hatte aber die Familie hierher verschlagen? Der Mann war am rechten Bein verletzt und die Frau blutete im Gesicht. Der Junge war Müde und fiel hier zu Boden. Der Mann eilte hinkend zu ihm hin, half ihm hoch und nahm ihn in seine Arme. Was war mit ihnen geschehen?
Der Mann und die Frau hatten in einer entfernten Dorfgemeinschaft geholfen, eine Winterhütte aufzubauen. Sie war durch einen Sturm zerstört worden. Diese Hütte diente den Menschen in jenem Dorf als Winterschutz bis die Kältezeit vorüber zog. Der Vorteil dadurch war, dass Sie in der Winterzeit in ihren einzelnen Hütten nicht so viel Holz verbrauchten. Holz war zu jener Zeit knapp und kostbar. Gleichzeitig wärmten die in der Winterhütte versammelten Dorfbewohner mit ihren Körpern die Raumluft des Winterschutzes und brauchten in den Wintermonaten somit noch weniger Holz.
Wochenlang dauerte es, diese große Winterhütte gemeinsam aufzubauen. Alle Dorfbewohner halfen mit. Der Mann und die Frau auch. Sie wurden dabei aber insgeheim nur geduldet. Der Grund: Der Mann und die Frau zogen viele Menschen an, weil die beiden Geduld hatten, anderen Menschen zuzuhören. Darüber hinaus verhalfen die zwei den Menschen aus dem Dorf, deren Seelen entdecken zu lassen. Durch diese besondere Gabe der beiden, wurden sie immer wieder auch von anderen Menschen um Hilfe gebeten, die nicht aus diesem entfernten Dorf kamen.
Der Dorfrat sah darin eine Gefahr, da einige Dorfmitglieder schon allmählich begannen, nicht mehr an den Scharlatan und die Angst zu glauben, die durch den Dorfrat verbreitet
wurde. Der Dorfrat brauchte die Menschen aber, damit sie selber nicht arbeiten mussten. Würde allen Dorfbewohnern die Angst und die Dummheit genommen, würden einige wegziehen und die Mitglieder des Dorfrats müssten dann selber arbeiten.
Als die Winterschutzhütte fertig war und es langsam kalt wurde, begannen sich die Dorfbewohner in ihrer großen Winterhütte zu sammeln. Der Dorfrat und dessen Familien hatten ihre Sonderplätze neben dem großen, dem Winterschutz wärmenden, Feuer gefunden. Dann kamen die restlichen Dorfbewohner. Auch der Mann, seine Frau und ihr Sohn wollten gerade in die Hütte ziehen. Doch die beiden stärksten Männer des Dorfes ließen sie nicht hinein.
Der Mann fragte nach dem Grund. Ein Dorfrat sprang dann plötzlich aus der Winterhütte heraus und beschuldigte die Familie, sie seien von einer schweren Krankheit befallen und würden versuchen, alle anderen Dorfbewohner anzustecken. Der Mann verteidigte sich und wollte in die Hütte. Doch die beiden stärksten Männer schlugen auf ihn ein und prellten dabei sein rechtes Bein. Seine Frau wollte ihm zu Hilfe eilen. Doch ihr wurde ein Stock ins Gesicht geschlagen. Der Mann, seine Frau und ihr Sohn wurden danach mit Schlägen aus dem Dorf vertrieben und ihre Hütte verbrannt.
Auf der Suche nach Schutz vor dem Erfrieren zogen sie nun durch das eiskalte Land. Der Junge wurde, als sie hier angekommen waren, so müde, dass er in den Schnee fiel.
Nachdem der Mann seinem Sohn hoch in den Arm nahm, gab er ihm einen Kuss. Dann lehnte er seinen Sohn an den Stamm des Baumes, der vom Blitz getroffen war. Der Junge zitterte vor Kälte. Da zog der Mann seine dicke braune Jacke aus und deckte seinen Sohn damit zu. Der Junge spürte sofort die ausstrahlende Wärme der Jacke und deckte sich dann mühsam mit seinen fast steifen Händen noch mehr zu. Dann kümmerte sich der Mann um seine Frau. Er umarmte und wärmte sie. Gleichzeitig nahm er eine Handvoll Schnee, zerrieb es in seinen warmen Händen und reinigte mit seinen nassen Fingern das Blut aus ihrem Gesicht. Als er inne hielt, um ihr zu zeigen, dass ihr Gesicht gereinigt war, gab sie ihm einen Kuss auf seine kalte Wange und entlockte ihm ein Lächeln. Er blickte in ihre müden blauen Augen und sprach: „Danke Dir. Wir werden es schaffen.“ Dann zog er seine ebenfalls müde und erschöpfte Frau zu ihrem Sohn an den Baumstamm. Die Frau und ihr Sohn versteckten sich zitternd unter der Jacke des Mannes und wärmten sich einander.
Der Mann stand, den Schmerz in seinem rechten Bein spürend, auf und schaute sich um. Er blickte dabei in alle Himmelsrichtungen. Als der eiskalte Wind um seinen noch warmen Oberkörper peitschte, sah er auf einmal in der Ferne etwas Dunkles. Es schien eine verlassene Hütte zu sein. Er stellte sich auf einmal vor, wie er mit seiner Familie vor dem Feuer saß und sie sich miteinander an der Wärme erfreuten.
Der Mann kam mit seinen Gedanken wieder zurück ins Leben, gab seiner Frau und seinem Sohn je einen Kuss auf ihre Stirn und lief los: „Haltet durch. Ich bin bald wieder zurück.“ Sein Körper fing langsam an zu zittern, während er versuchte, zu dieser vermeintlichen Hütte zu gelangen. Starker Schneefall verwehrte ihm zeitweise die Sicht und ein peitschender Wind wollte ihn aufhalten. Er ließ sich aber nicht aufhalten. Immer wieder versank er tief im Schnee und sein Gang wurde dadurch immer langsamer. Mühsam trotzte er der Müdigkeit, der Kälte und dem Hunger entgegen.
Endlich, nach einer schier endlosen Zeit, war er an der Hütte angekommen. Sie war noch Heil. Nur ein Teil vom Dach war eingestürzt. Das würde er aber wieder reparieren können. Er ging in die Hütte, um festzustellen, ob sie bewohnbar war. Er suchte nicht lange und fand in der Hütte ein paar Feuersteine und sogar trockenes Holz. Wunderbar. Was für ein Glück. Er deckte das Loch im Dach mit ein paar dicken Tannenästen zu und der Wind blies nun nicht mehr so stark durch die Hütte. Dann machte der Mann Feuer. Und als er die Wärme spürte, die sich in der Hütte allmählich verteilte, eilte er sofort zu seinen beiden liebsten und holte sie, einer nach dem anderen, hierher zur Hütte. Zuerst seinen Sohn. Dieser konnte vor Erschöpfung nicht mehr laufen. Also trug er ihn mit seinem schmerzenden rechten Bein. Durch die Anstrengungen bildete sich Schweiß auf seiner Stirn und sein Körper blieb dadurch warm. Als er mit seinem Sohn an der Hütte ankam und schon der Erschöpfung nahe in die Hütte eintrat, spürte der Mann schon die wohlige Wärme, die sich durch das Feuer in der Hütte breit machte. Das trieb den Mann an, eiligst auch seine Frau zu holen. Als er nach einer langen Weile bei ihr endlich angekommen war und er sie hochheben wollte, hatte die Frau schon ganz blaue Lippen und war dem Tode nahe. Doch er rüttelte seine Frau solange, bis sie ihre Augen öffnete. Dann nahm er auch sie auf den Rücken und sang Lieder, die die beiden immer sangen, als sie sich ineinander verliebten. Der müden Frau kamen langsam die schönen Erinnerungen an diese Zeit und hielt sich dabei immer stärker an ihrem Mann fest. Müde, mit festem Willen, einem immer mehr zitternden und schmerzenden rechten Bein, und nach wiederum einer endlosen Zeit, hatte der Mann die Hütte mit seiner Frau erreicht.
Als er mit ihr in die Hütte eintrat, wartete sein Sohn schon auf die beiden mit einer heiß dampfenden Tasse Wasser. Der Mann fiel erschöpft, aber zufrieden zu Boden. Müde eilte der Sohn zu seinem Vater. Der Vater sprach: „Gib die Tasse Deiner Mutter... Deiner Mutter.“ Dann schlief er neben dem wärmenden Feuer ein. Der Sohn hatte, während der Vater seine Mutter holte, einen Topf gefunden, konnte damit vier Handvoll Schnee auftauen und wärmendes Wasser kochen. Der Sohn legte eine, durch das Feuer aufgewärmte Decke, über seine Mutter. Auch sie war gerettet, spürte die Wärme und schlief zufrieden ein.
Als der Sohn und die Frau allmählich wieder zu Kräften kamen kümmerte sich der Mann um das Dach. Er hatte in der Hütte sogar Werkzeug und Nägel gefunden und konnte somit einige Holzstücke zum Dachabdichten nehmen.
Das Feuer brannte unaufhaltsam und ihr Sohn sorgte weiter dafür, dass es nicht erlosch. Die Frau ging jagen und brachte ein Reh sowie ein paar Hasen zur Hütte zurück. Im Essen zubereiten hatte die Frau geschickte Hände und so war immer in kurzer Zeit eine Mahlzeit gerichtet.
Plötzlich klopfte es an der Hüttentür. Alle blickten sich an. Der Mann nahm zum Schutz sein Beil in die Hand und öffnete die Tür. Es stand eine fast verhungerte Familie vor der Tür und bat einzutreten. Der Familienvater sprach: „Wir rochen Feuer und Gewürze in der Ferne. Denen folgten wir hierher und dachten, hier Schutz zu finden. Wir haben ein Kind in der Kälte verloren und meine Frau ist ganz schwach.“ Der Mann sprach zu ihnen: „Herein. Wir haben leider nicht so viel Platz.“ Da entgegnete der Vater der fast verhungerten Familie: „Dann helfe ich Dir mit meiner letzten Kraft, die Hütte zu vergrößern.“ „Kommt näher und wärmt Euch an unserem Feuer. Es soll auch Eures sein.“
Und als der Familienvater seiner fast verhungerten Sippe wieder zu Kräften kam, begann er sofort, dem Mann zu helfen, die Hütte zu vergrößern, damit alle wieder Platz hatten.
Immer wieder rochen Menschen in der Ferne das Feuer und die Gerüche aus dieser Hütte und kamen hierher, um zu bitten, hierbleiben zu dürfen bis der Winter vorbei sei. Dabei halfen auch sie die Hütte weiter zu vergrößern.
So wurde die Hütte immer größer und größer... und wurde zu einer Winterschutzhütte. Immer mehr Menschen hatten doch noch einen rettenden Platz hier gefunden.
Und als es wärmer wurde und der Schnee schmolz, verteilten sich die Menschen um ihre gemeinsam gebaute Schutzhütte herum und bauten ihre eigenen Hütten, um dabei die Gemeinschaft zusammen zu halten. Auch der Mann und seine Familie zogen aus dieser Hütte hinaus in ein eigenes zu Hause. Sein rechtes Bein war gut verheilt und seine Frau war stolz auf ihn, weil er diesen Überlebenskampf mit ihr Gewann. Und… weil er nicht aufgegeben hatte.
Die Menschen, die sich hier über den ganzen Winter in ihrer eigenen gebauten Schutzhüte geholfen und dadurch gerettet hatten, hatten diesen eisigen Winter gemeinsam überstanden. Und um dieses Erlebnis miteinander nicht zu vergessen, feierten die Menschen an jedem Dreiviertelsmond in der von ihnen gebauten großen Winterhütte ein großes Fest. Natürlich gab es dazu ein großes Feuer und genug zum Essen für alle. Aber immer so, dass sie nichts verschwendeten. Und sie feierten dieses Fest bis heute.
 



 
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