Die Annonce

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Maribu

Mitglied
Die Annonce

Obwohl erst vor zwei Stunden aufgestanden, war er schon wieder müde und konnte nur mühsam das Gähnen unterdrücken.
Wahrscheinlich lag das am Zwielicht. Vor seinem Wohnzimmerfenster waberten Nebelschwaden und ließen nur wenig Helligkeit herein, so dass er nur mit Unterstützung der Leselampe die Buchstaben erkennen konnte. Ein typischer, garstiger Novembertag, um im Bett zu bleiben oder das Fenster zu öffnen, um...
Es stand heute auch nichts Aufregendes in der Zeitung, das seinen Kreislauf in Schwung bringen könnte. Kein Mord, keine Vergewaltigung, nicht mal eine Entführung! Das in Bagdad wieder ein Selbstmord-Attentäter zweiundvierzig Menschen mit in den Tod gerissen hatte, wurde gestern Abend bereits in der Tagesschau berichtet. Der Beitrag kam zum Schluss vor dem Wetterbericht. Wären es hundert Tote gewesen, hätte der Bericht vielleicht die Chance gehabt, als Aufmacher gesendet zu werden!
Auch in der Zeitung erschien der Artikel erst auf Seite vier. Die Schlagzeile war: BECKER UND POCHER NOCH IMMER IM CLINCH
Eigentlich interessierte ihn diese Boulevard-Scheiße nicht, aber da das Blatt heute wenig zu bieten hatte, war der Artikel von ihm überflogen worden. Angeblich soll der eine dem andern die hochschwangere Freundin ausgespannt haben. Einen Vaterschaftstest sollen beide abgelehnt haben. Man munkelt, dass da noch ein dritter Mann im Spiel sein soll.
Heute gab es sogar fünf Seiten mit Todesanzeigen. Er hatte das Gefühl, dass im Herbst mehr gestorben wurde als zu anderen Jahreszeiten.
Bevor er sie durchsah, schenkte er sich wieder ein, es war schon sein drittes Glas Weinbrand.
Seit seine Frau vor zwei Jahren gestorben war, brauchte er ihn, wie andere Zigaretten.
Er hatte schon so manchen Namen ehemaliger Nachbarn, Arbeitskollegen oder Schulfreunden gefunden. So leid es ihm tat, freute er sich, dass er sie überlebt hatte, obwohl er sich sehr einsam fühlte.
Die Texte wiederholten sich; es kam ihm so vor, als würden nur die Namen ausgetauscht. 'WIR BETRAUERN DEN TOD UNSERER LIEBEN OMA, DIE MIT 92 JAHREN SANFT ENTSCHLIEF'
'MITTEN AUS DEM LEBEN GERISSEN WURDE UNSER LIEBER BRUDER IM 39 LEBENSJAHR' Einige waren mit Sprüchen versehen: 'TOT IST NUR DER, DER VERGESSEN WIRD! 'DER TOD IST ABWESENHEIT VOM LEBEN' Oder: 'WARUM? WIR HATTEN NOCH SO VIEL VOR!'
Plötzlich hatte er seinen Namen vor Augen. Er erschrak. Hatte der Alkohol seinen Geist vernebelt? Nein, da stand er schwarz auf weiß! Der Vorname mit 'th' und der Nachname, was selten vorkam wie bei ihm, mit 'r' und nachfolgendem 'z' in der Mitte. Er lachte hysterisch. Welch seltsame Namensgleichheit! Aber als er das Geburtsdatum wahrnahm, fing sein Herz an zu rasen. Bevor er weiter las, leerte er sein Glas und füllte es wieder auf. 'NACH EINEM ERFÜLLTEN LEBEN IST ER PLÖTZLICH UND UNERWARTET VON UNS GEGANGEN.DIE URNENBEISETZUNG ERFOLGTE BEREITS IM ENGSTEN FAMILIENKREIS.
HAMBURG, IM OKTOBER 2013 IM AUFTRAG DER HINTERBLIEBENEN:
KLAUS BLACKMONEY
Den kannte er nicht. Wer hat so einen seltsamen Namen? Ein englisch-klingender Nachname mit einem biederen, unmodernen Vornamen?
Er wischte sich über die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Er kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. Seine Ehe war kinderlos und nahe Verwandte hatte er nicht mehr!
Er las den Text ein zweites Mal. Jetzt fiel ihm auf, dass der Todestag identisch war mit dem Sterbetag seiner Frau: Es war der 8. Oktober.
Er griff zum Telefon und verlangte die Anzeigenabteilung der Zeitung. "Eigentlich dürfen wir Ihnen telefonisch keine Auskunft geben!" sagte eine weibliche Stimme. "In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Verblichenen? Wie ist Ihr Name?"
Er nannte ihn.
"Ach so, Sie sind verwandt mit dem Toten."
"Nein, ich bin es selbst!"
"Wie bitte? Das ist makaber! Sie sollten sich schämen! Damit macht man keine Scherze!" Und nach einem Luftholen: "Der Auftrag kam aus der Schweiz. Mehr darf und will ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiederhören!"
Aus der Schweiz? Er schenkte sich noch nach, nippte aber nur, weil ihm plötzlich schwindlig wurde und die Buchstaben von der Anzeige, von der er nicht lassen konnte, vor seinen Augen verschwammen. Aus der Schweiz? wiederholte er. Da kannte er nur die Bank, die sein Nummernkonto verwaltete. Ihm wurde heiß, sein Herz klopfte wie ein Zweitakter. Wollte die an sein Geld? Ja, jetzt verstand er den Hinweis. Der Name war das Schlüsselwort! 'Black-money = Schwarzgeld. Und der Vorname war auch ein Zeichen: KLAUS = Klaus Zumwinkel, ein ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post. Der hatte mehrere Millionen Schwarzgeld nicht versteuert. Dagegen war er ja nur ein kleiner Fisch! Aber jetzt kannten sie offenbar kein Pardon, wollten sogar die "Kleinen" schnappen. Als er vor fünf Jahren seine Lebensversicherung ausbezahlt bekommen hatte, buchte er für sich und seine Frau ein paar Urlaubstage in Zürich und hatten es dort gleich angelegt. Sie wollten sich, wenn es soweit war, eine altengerechte Wohnung kaufen. Nun war ja leider alles anders geworden.
Vielleicht war das jetzt die neueste Methode, weitere Banken zu retten und sogar unter strikter Geheimhaltung von den Europäischen Regierungen angeordnet?!
Herztod durch Schock - Getarnt als sozialverträgliches Ableben!
Klar, das wäre vollkommen risikolos für alle Beteiligten. Die wussten genau, niemand würde es wagen, wegen erfolgter Steuerhinterziehung auf Schwarzgeld oder Zinserträge irgendwo eine Strafanzeige zu stellen!
Obwohl er noch einen Rest im Glas hatte, schenkte er es bis zum Rand voll und stürzte den Fusel hinunter. "Die Politiker sind Gangster und die Bankmanager sind Bangster!" schimpfte er und schlug mit der Faust auf die Tischplatte. "Aber nicht mit mir! Da müsst ihr früher aufstehen!
Woher hatten die überhaupt seine Personalien? Nummernkonten sollten doch anonym sein! Musste er seine persönlichen Daten damals bei der Eröffnung angeben? Er konnte sich nicht erinnern. Aber er wollte der Sache sofort auf den Grund gehen, musste sofort den Vertrag einsehen. Er stand abrupt auf und taumelte zum Schreibtisch. Er fühlte sich auf einmal kotzübel.
Er versuchte die Schublade zu öffnen. Sie klemmte. Er zog mit beiden Händen. Sie gab nach und er fiel rückwärts, vorher mit dem Hinterkopf den Couchtisch treffend, zu Boden. Die Schublade lag auf seinem Bauch und herausgeschleuderte Akten und Papiere bedeckten seinen Körper. Bevor er das Bewusstsein verlor, murmelte er noch: "Totgesagte leben länger!"
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Maribu,

mal wieder eine gute Kurzgeschichte von Dir - aber Horror und Psycho? Dazu finde ich sie nicht gruselig genug. :cool:

Was mich ein wenig stört, sind die vielen Großbuchstaben. Ich würde so etwas immer lieber kursiv setzen.

Ein "s" solltest du noch einfügen
Das[blue]s[/blue] in Bagdad wieder ein Selbstmord-Attentäter
Ansonsten keine Einwände!

Gruß Ciconia
 

Maribu

Mitglied
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Obwohl erst vor zwei Stunden aufgestanden, war er schon wieder müde und konnte nur mühsam das Gähnen unterdrücken.
Wahrscheinlich lag das am Zwielicht. Vor seinem Wohnzimmerfenster waberten Nebelschwaden und ließen nur wenig Helligkeit herein, so dass er nur mit Unterstützung der Leselampe die Buchstaben erkennen konnte. Ein typischer, garstiger Novembertag, um im Bett zu bleiben oder das Fenster zu öffnen, um...
Es stand heute auch nichts Aufregendes in der Zeitung, das seinen Kreislauf in Schwung bringen könnte. Kein Mord, keine Vergewaltigung, nicht mal eine Entführung! Dass in Bagdad wieder ein Selbstmord-Attentäter zweiundvierzig Menschen mit in den Tod gerissen hatte, wurde gestern Abend bereits in der Tagesschau berichtet. Der Beitrag kam zum Schluss vor dem Wetterbericht. Wären es hundert Tote gewesen, hätte der Bericht vielleicht die Chance gehabt, als Aufmacher gesendet zu werden!
Auch in der Zeitung erschien der Artikel erst auf Seite vier. Die Schlagzeile war: BECKER UND POCHER NOCH IMMER IM CLINCH
Eigentlich interessierte ihn diese Boulevard-Scheiße nicht, aber da das Blatt heute wenig zu bieten hatte, war der Artikel von ihm überflogen worden. Angeblich soll der eine dem andern die hochschwangere Freundin ausgespannt haben. Einen Vaterschaftstest sollen beide abgelehnt haben. Man munkelt, dass da noch ein dritter Mann im Spiel sein soll.
Heute gab es sogar fünf Seiten mit Todesanzeigen. Er hatte das Gefühl, dass im Herbst mehr gestorben wurde als zu anderen Jahreszeiten.
Bevor er sie durchsah, schenkte er sich wieder ein, es war schon sein drittes Glas Weinbrand.
Seit seine Frau vor zwei Jahren gestorben war, brauchte er ihn, wie andere Zigaretten.
Er hatte schon so manchen Namen ehemaliger Nachbarn, Arbeitskollegen oder Schulfreunden gefunden. So leid es ihm tat, freute er sich, dass er sie überlebt hatte, obwohl er sich sehr einsam fühlte.
Die Texte wiederholten sich; es kam ihm so vor, als würden nur die Namen ausgetauscht. 'WIR BETRAUERN DEN TOD UNSERER LIEBEN OMA, DIE MIT 92 JAHREN SANFT ENTSCHLIEF'
'MITTEN AUS DEM LEBEN GERISSEN WURDE UNSER LIEBER BRUDER IM 39 LEBENSJAHR' Einige waren mit Sprüchen versehen: 'TOT IST NUR DER, DER VERGESSEN WIRD! 'DER TOD IST ABWESENHEIT VOM LEBEN' Oder: 'WARUM? WIR HATTEN NOCH SO VIEL VOR!'
Plötzlich hatte er seinen Namen vor Augen. Er erschrak. Hatte der Alkohol seinen Geist vernebelt? Nein, da stand er schwarz auf weiß! Der Vorname mit 'th' und der Nachname, was selten vorkam wie bei ihm, mit 'r' und nachfolgendem 'z' in der Mitte. Er lachte hysterisch. Welch seltsame Namensgleichheit! Aber als er das Geburtsdatum wahrnahm, fing sein Herz an zu rasen. Bevor er weiter las, leerte er sein Glas und füllte es wieder auf. 'NACH EINEM ERFÜLLTEN LEBEN IST ER PLÖTZLICH UND UNERWARTET VON UNS GEGANGEN.DIE URNENBEISETZUNG ERFOLGTE BEREITS IM ENGSTEN FAMILIENKREIS.
HAMBURG, IM OKTOBER 2013 IM AUFTRAG DER HINTERBLIEBENEN:
KLAUS BLACKMONEY
Den kannte er nicht. Wer hat so einen seltsamen Namen? Ein englisch-klingender Nachname mit einem biederen, unmodernen Vornamen?
Er wischte sich über die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Er kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. Seine Ehe war kinderlos und nahe Verwandte hatte er nicht mehr!
Er las den Text ein zweites Mal. Jetzt fiel ihm auf, dass der Todestag identisch war mit dem Sterbetag seiner Frau: Es war der 8. Oktober.
Er griff zum Telefon und verlangte die Anzeigenabteilung der Zeitung. "Eigentlich dürfen wir Ihnen telefonisch keine Auskunft geben!" sagte eine weibliche Stimme. "In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Verblichenen? Wie ist Ihr Name?"
Er nannte ihn.
"Ach so, Sie sind verwandt mit dem Toten."
"Nein, ich bin es selbst!"
"Wie bitte? Das ist makaber! Sie sollten sich schämen! Damit macht man keine Scherze!" Und nach einem Luftholen: "Der Auftrag kam aus der Schweiz. Mehr darf und will ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiederhören!"
Aus der Schweiz? Er schenkte sich noch nach, nippte aber nur, weil ihm plötzlich schwindlig wurde und die Buchstaben von der Anzeige, von der er nicht lassen konnte, vor seinen Augen verschwammen. Aus der Schweiz? wiederholte er. Da kannte er nur die Bank, die sein Nummernkonto verwaltete. Ihm wurde heiß, sein Herz klopfte wie ein Zweitakter. Wollte die an sein Geld? Ja, jetzt verstand er den Hinweis. Der Name war das Schlüsselwort! 'Black-money = Schwarzgeld. Und der Vorname war auch ein Zeichen: KLAUS = Klaus Zumwinkel, ein ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post. Der hatte mehrere Millionen Schwarzgeld nicht versteuert. Dagegen war er ja nur ein kleiner Fisch! Aber jetzt kannten sie offenbar kein Pardon, wollten sogar die "Kleinen" schnappen. Als er vor fünf Jahren seine Lebensversicherung ausbezahlt bekommen hatte, buchte er für sich und seine Frau ein paar Urlaubstage in Zürich und hatten es dort gleich angelegt. Sie wollten sich, wenn es soweit war, eine altengerechte Wohnung kaufen. Nun war ja leider alles anders geworden.
Vielleicht war das jetzt die neueste Methode, weitere Banken zu retten und sogar unter strikter Geheimhaltung von den Europäischen Regierungen angeordnet?!
Herztod durch Schock - Getarnt als sozialverträgliches Ableben!
Klar, das wäre vollkommen risikolos für alle Beteiligten. Die wussten genau, niemand würde es wagen, wegen erfolgter Steuerhinterziehung auf Schwarzgeld oder Zinserträge irgendwo eine Strafanzeige zu stellen!
Obwohl er noch einen Rest im Glas hatte, schenkte er es bis zum Rand voll und stürzte den Fusel hinunter. "Die Politiker sind Gangster und die Bankmanager sind Bangster!" schimpfte er und schlug mit der Faust auf die Tischplatte. "Aber nicht mit mir! Da müsst ihr früher aufstehen!
Woher hatten die überhaupt seine Personalien? Nummernkonten sollten doch anonym sein! Musste er seine persönlichen Daten damals bei der Eröffnung angeben? Er konnte sich nicht erinnern. Aber er wollte der Sache sofort auf den Grund gehen, musste sofort den Vertrag einsehen. Er stand abrupt auf und taumelte zum Schreibtisch. Er fühlte sich auf einmal kotzübel.
Er versuchte die Schublade zu öffnen. Sie klemmte. Er zog mit beiden Händen. Sie gab nach und er fiel rückwärts, vorher mit dem Hinterkopf den Couchtisch treffend, zu Boden. Die Schublade lag auf seinem Bauch und herausgeschleuderte Akten und Papiere bedeckten seinen Körper. Bevor er das Bewusstsein verlor, murmelte er noch: "Totgesagte leben länger!"
 

Maribu

Mitglied
Liebe Ciconia,

danke für Deine konstruktive Kritik!
"s" habe ich eingefügt.

In meinem Manuskript habe ich den entsprechenden Text kursiv geschrieben. Kenne mich in dem LL-System nicht aus, so dass
ich auf Großschreibung gegangen bin. - Aber das ist ja nur eine optische Sache,die am Verständnis nichts ändert.

Freundliche Grüße
Maribu
 



 
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