Die Augen

Oleolegua

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Kann sein, dass es die leicht schaukelnde Bewegung des Wagens war oder die Wärme oder das etwas langweilige Buch, das ich mitgenommen hatte, auf jeden Fall muss ich wohl kurz hinter Regensburg eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, war es draußen dunkel, was bedeutete, dass ich mindestens vier Stunden geschlafen haben musste. Mir gegenüber saß jetzt ein Mensch, der vorher da noch nicht gesessen hatte. Er las in einem Buch, in meinem Buch, wie ich annahm, weil mein Buch verschwunden war und es genau so aussah. Aber er hielt es verkehrt herum. Oder sie? Das Gesicht war hinter dem Buch versteckt, am Körper oder der Kleidung war nicht zu erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Ich blinzelte ein paar Mal, weil ich mein Gegenüber nicht richtig scharf sah, wahrscheinlich mussten sich meine Augen nach dem langen Schlaf erst wieder an das Sehen gewöhnen. Da merkte ich, dass mich zwei Augen über den Buchrand hinweg anstarrten. Sie lagen im Schatten von buschigen, dunklen Augenbrauen, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Also doch ein Mann. Ich lächelte die Augen an. Keine Reaktion. Ein Irrer? Ein Mann, der mit offenen Augen schlafen kann? Ich hatte mal gelesen, dass es solche Leute gibt. Übermüdete Soldaten können angeblich schlafen, während sie marschieren, mit offenen Augen. Ich bewegte mich leicht in Richtung Gang und versuchte festzustellen, ob die Augen meiner Bewegung folgten. Sie folgten ihr. Aber ich war nicht sicher, ob das nicht eine Täuschung war. So wie das Portrait von Onkel Leopold im Haus meiner Großmutter, das mich auch nie aus den Augen ließ, wenn ich über die grüne Linoleumtreppe noch oben ging. Ich lehnte mich noch weiter nach links, so dass ich in den Gang sehen konnte. Damit ich in Schräglage nicht allzu dämlich aussah, tat ich so, als würde ich nach jemand Ausschau halten, dem Schaffner oder dem Kellner. Soweit ich den Waggon überblicken konnte, war er vollständig leer. Als ich in Augsburg losfuhr, war der Wagen gut besetzt gewesen. Auch sah ich vereinzelte Gepäckstücke in den Ablagen und auf den Sitzen. Außerdem waren Stimmen zu hören, es schienen also ein paar weitere Fahrgäste auf den für mich uneinsehbaren Plätzen zu sitzen. Das beruhigte mich etwas, wenn ich auch eigentlich gar nicht unruhig gewesen war. „Ich frage den Kerl jetzt, ob er mir mein Buch zurückgibt, er hält es sowieso falsch und kann es gar nicht lesen. Er versteckt sich dahinter. Ach so, er versteckt sich. Ich soll ihn nicht sehen, dann wird er mir das Buch auch nicht geben. Ich gehe auf die Toilette, dann hat er Gelegenheit zu verschwinden“, dachte ich. Ich stand auf. Die Augen folgten mir. Ich glaubte, stehend etwas mehr von dem verdeckten Gesicht erkennen zu können, aber das war nicht so. Hatte er das Buch unmerklich nach oben geschoben? Eine Bewegung war nicht zu sehen gewesen. Die Augen folgten mir. Ich schaute mich im Wagon nach dem kürzesten Weg zur Toilette um. Nach vorne war es weiter, also ging ich nach hinten. Die Sitzreihen, aus denen ich zuvor Stimmen gehört hatte, waren leer. Auf einem Klapptisch kreiselte ein kleiner, bunter Kinderkreisel. Den musste kürzlich jemand in Bewegung gesetzt haben. Daneben stand ein Glas sprudelndes Mineralwasser, halbvoll. Der Kreisel kreiselte gegen das Glas, in dem es blau aufzublitzen schien. Der Kreisel fiel um und kam zur Ruhe. Ich würde mir das auf dem Rückweg genauer ansehen. Der Zug fuhr unglaublich sanft, ich schwankte nicht, musste mich nicht festhalten. Und leise, fiel mir auf. „Leise, gute Gleise, gute Gleise“, ging mir zusammen mit einem leichten Schwindelgefühl durch den Kopf. Draußen streiften Lampen vorüber. Vielleicht ein kleiner Bahnhof. Wir waren schnell unterwegs. Die Toilette war besetzt. Ich lauschte. Kein Geräusch. Ich ging weiter in den nächsten Waggon. Er war voller Schulkinder, die französisch sprachen, lachten und herumtollten. Ein Mädchen rempelte mich an. Sie wollte sich entschuldigen, schaute mich aber nur groß an. Die anderen Kinder nahmen mich jetzt auch wahr und verstummten. „Bon soir“ sagte ich und versuchte dabei, freundlich auszusehen. Ein etwas ängstliches Bon soir kam im Chor zurück. „Was macht den Kindern Angst? Ist etwas in meinem Gesicht?“ Ich schaute in die spiegelnde Fensterscheibe und sah mich nicht. Aber da waren die Augen vom Gegenüber aus meinem Abteil. Sie schauten aus der vorbeiziehenden Nacht zu mir. Diesmal war das Gesicht zu sehen. Ein bärtiger Mann. Nicht hässlich. Blasse Haut, schwarzer Bart, merkwürdige Augen. „Ich bin übermüdet. Oder habe was Schlechtes gegessen“, dachte ich, als mir auffiel, dass es mein Gesicht war, das mich da aus dem Spiegel anschaute. Aber es sah nicht aus wie ich. Es machte meine Bewegungen, nur spiegelbildlich. Ich schaute mich um. Niemand stand in meiner Nähe. Das musste ich sein. Ich ging einen Schritt weiter, das Gesicht ging mit, draußen in der Dunkelheit. Seltsam, dachte ich, und fasste an mein Kinn um festzustellen, ob da ein Bart sei. Mein Gegenüber griff in den Bart, ich nicht. Eine Frau kam mir entgegen und schaute mich böse an. Die Lehrerin der französischen Gören. Hatte sie Sorge, dass ich ihren Schäfchen etwas antue? „S’il vous plaît, regardez, qu’ est-ce que vous voyez?“ fragte ich sie, mein Schulfranzösisch herauskramend, und zeigte auf mein Spiegelbild im Nachtfenster. Sie schaute in die angedeutete Richtung, um dann zu der Überzeugung zu kommen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Irgendwie hatte sie ja auch Recht. Sie rief einen Kollegen, der ein paar Reihen weiter saß. Mein Spiegelbild grinste, ich nicht. Der Kollege war ein Kampfsportler, zwar einen Kopf kleiner als ich aber er hätte mir mühelos mit dem Fuß die Nase brechen können. Ich wusste das, keine Ahnung, woher. Ich setzte meinen Weg mit einem gemurmelten „Pardon“ fort. Der kleine Kung-Fu-Kämpfer blieb halb im Gang stehen, ich musste mich an ihm vorbeiquetschen, er wich nicht einen Millimeter aus, seine Brustmuskeln waren hart wie Stein, und ebenso kalt, schien mir. Als sei unter dem khakifarbenen Militärhemd eine Marmorstatue. Mein bärtiges Spiegelbild ging im Parallelzug hinter der Statue durch. Ich wollte nicht hinschauen, aber in der letzen Ecke meines Blickfelds waren die Augen immer vorhanden. Sie sind magnetisch, dachte ich. Im nächsten Wagen fand ich eine freie Toilette. Es war laut in dem kleinen Raum. Durch die Kloschüssel konnte man ins Freie sehen, Funken stoben gelegentlich unten dem Wagen durch. Wie früher, als es noch Dampfloks gab. Ich fragte mich, wo die herkamen. Ich mochte mich nicht auf diese Schüssel setzen, also wusch ich mir nur die Hände und verließ die Toilette, um zurück zu meinem Platz zu gehen. Nach drei Wagen hatte ich ihn immer noch nicht gefunden. Weder mein Gepäck noch mein Gegenüber. Ich schaute in die dunklen Fensterscheiben und sah mein ganz normales Spiegelbild. Wo war der Bärtige mit den starren Augen? Er stand am Ende des Wagens und sah mir entgegen. Zorn stieg in mir auf. Seit dieser Kerl sich mir gegenüber gesetzt hatte, war alles durcheinander gekommen. Wahrscheinlich hatte er mein Gepäck gestohlen oder versteckt, so dass ich meinen Platz nicht mehr finden konnte. Ich ging auf ihn zu, um ihn zur Rede zu stellen und wurde von Schritt zu Schritt wütender. Drei Meter vor ihm nahm ich Anlauf und rammte ihm beide Fäuste in den Bauch. Er war überraschend weich und der Mann, der deutlich größer war als ich, knickte ein und ging schweigend zu Boden. Die Augen schauten mich von unten traurig an. War da etwas Angst in den starren Blick gekommen? Würde er gleich anfangen zu heulen? Ich fühlte mich großartig, ich hatte meinen Quälgeist einfach und schnell besiegt. Kämpfe, wenn du etwas willst, hörte ich meinen längst verstorbenen Vater sagen. Der Bärtige streckte seine Hand zu mir aus. Mein Zorn war verflogen, meine Rachegefühle befriedigt. Ich gab ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Er zog sich an mir hoch, niemand sprach. Als er stand, ließ er meine Hand nicht los. Hinter der gläsernen Tür sah ich ein paar Leute aus dem nächsten Wagen zu uns herüberschauen. Ich lächelte mein Gegenüber großzügig an. In seinem Gesicht war keine Regung zu sehen. Er zog mich mit einer knappen Bewegung und großer Kraft zu sich, ich konnte kurz seinen Atem riechen, warm und säuerlich, dann stieß er mich von sich weg. Ich krachte gegen die Waggontür. In mir brach etwas. Die Tür öffnete sich. Diese Türen dürfen nicht aufgehen, dachte ich, vielleicht hat sie jemand nicht richtig geschlossen? Ich versuchte mich am Türgriff festzuhalten. Ich las das weiße Emailschild, das an die Tür geschraubt war: „Non aprire prima che il treno sia fermo“. Der Fahrwind riss die Tür vollends auf und mich mit. Ich landete mit den Füßen auf der mit mindestens 150 Stundenkilometern unter mir durchrasenden Schotterböschung. Der Aufprall versetzte mich in eine Drehung und ich begann, wie ein Bumerang zu fliegen. Und tatsächlich hob mich die schnelle Drehung in die Luft, hoch über den Zug, der ungefähr so schnell war wie ich. Ich, der Bumerang, flog immer höher, sah den Wald neben den Gleisen, dahinter Felder, ein Dorf, die Sonne schien, was mich nur kurz wunderte. Das Bild drehte sich nicht vor meinen Augen. Das hätte es eigentlich tun müssen, denn ich drehte mich ja durch die Luft. Es war ein angenehmes Gefühl: Ich, mich rasend um die eigene Achse drehend und dabei ein stilles, friedliches Bild beobachtend. Vögel zwitscherten und ich stürzte zur Erde. Das letzte, was ich sah war das bärtige Gesicht meines Widersachers. Sah ich richtig? War da eine Spur Freude in den starren Augen?



Wenn man in der Oberlausitz von Ragewitz nach Leutnitz fährt, und zwar auf der alten Landstraße, um die sich kaum noch jemand kümmert, seit es die Bundesstraße gibt, und wo neuerdings hier und da der Schachtelhalm durch den Asphalt bricht, kommt man an einem ziemlich zugewucherten Gartengrundstück vorbei. Es scheint lange verlassen. Der Holzzaun verliert seine Latten, dafür verhindern kräftige Brombeerbüsche das Eindringen. Sonst könnte man das rote Holzhäuschen inmitten dieser kleinen Wildnis sehen. Davor, auf einer Terrasse aus wackeligen Ziegelsteinen steht eine Bank, und auf der sitzt ein alter Mann und schaut auf die Züge, die ab und an in 150 Metern Entfernung vorbeirauschen. Niemand weiß, wo er herkommt, und er selbst scheint es auch nicht zu wissen. Die Verwaltung der Gemeinde Leutnitz hat es aufgegeben nachzuforschen. Und da er harmlos zu sein scheint, bringen ihm ein paar Anwohner regelmäßig etwas zu essen. Er lächelt dann dankbar, aber spricht nie.
 



 
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