Die Augenbraue im Wind

Quietschend kam der Zug auf dem Gleis zum Stehen. Die Türen flogen auf und ein kalter Wind kroch den Weiterfahrenden über das Gesicht, zwischen Schal und Jacke. Eine Gänsehaut breitete sich rechts und links der Wirbelsäule aus. Die Handschuhe ballten sich, in den Ärmeln eingezogen, zur Faust. Jeder der Insassen war über einen weiteren Fahrgast, welcher sich neben den eigenen Platz setzte und ein wenig Wärme spendete, erfreut.
Eingehüllt in Wollklamotten und Stiefel bahnte Veronika sich einen Weg durch das Gedränge an den Türen und sprang vergnügt die Treppen der Gleisunterführung hinab. An den Straßenlaternen, Kaufhäusern und an Drahtseilen, welche von der einen zur anderen Straßenseite gespannt waren, hingen rot geschmückte Tannenkränze und Sterne und die Schaufenster boten Sonderposten zu festlichen Preisen an. Veronika mochte das Gedränge in den Passagen, die süße Hektik und die festliche Stimmung welche sich in der Vorweihnachtszeit auf den Straßen ausbreitete.
Fröhlich begutachtete sie einige Grußkarten, die vor einem Drogeriegeschäft angeboten wurden, roch den Duft frischer Maronen, der durch die Straßen zog und amüsierte sich über ein Duzend junger Burschen, die sich vor einem Dessousgeschäft darüber stritten, welche ihrer Freundinnen die erotischste Unterwäsche trüge.

„Guten Tag“, wurde Veronika von der lächelnden Verkäuferin begrüßt. Veronika nickte freundlich zurück. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte die Frau. „Ja, ich suche ein Buch für meine Nichte. Sie ist sieben Jahre alt und beginnt gerade zu lesen.“ „Was liest sie denn so? Welche Richtung?“ Veronika zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht so recht. Es sollte nicht zu schwer geschrieben sein. Etwas Heiteres wäre schön. “ Die Dame nickte und deutete Veronika ihr zu folgen. „Dies sind so die klassischen Bücher für den Lesestaat.“ Sie wies Veronika auf eine Bücherserie hin „Dort finden Sie die Neuerscheinungen.“ sagte die Frau und deutete auf einen Tisch in der Mitte, auf welchem sich die Bücherstapel aneinander reihten hin. „Wollen Sie sich alleine umsehen oder soll ich...“ „Nein, danke. Hier komme ich erst mal zurecht.“, lehnte Veronika dankend ab. Nickend wandte die Verkäuferin einem weiteren Kunden zu.
Veronikas Blick flog über verschiedene Titel, Themen und Namen. Die leuchtend und teilweise grellen Schriftzüge blendeten sie, sodass sie vor Buchstaben die Worte nicht erkannte. Genussvoll strich sie über die harten Bucheinschläge, lauschte dem Knacken eingebundener Bücher wenn sie zum ersten Mal geöffnet wurden. Sie dachte an die Autoren und Autorinnen, welche sie durch ihre jung gebliebenen Phantasien in die farbenfrohe Welt der Kinder verzauberten. Veronika gluckste und spürte ein warmes Kribbeln im Bauch als Anna ihren den ersten Kuss bekam, Robin und seine Freunde einen Verbrecher überlisteten und der Vater aufschrie, weil ihn morgens eine Mausefalle begrüßte, welche sich um seinen großen Zeh klammerte und ganz sicher von seinem Sohn aufgestellt worden war.
Nachdem ein Buch sich den Platz in Veronikas Tasche und auf ihrer Geschenkliste gesichert hatte, sah sich die junge Frau in einer der hinteren Reihe, der Regale für Erwachsenliteratur, um. Noch immer angeheitert und an das Schöne und Leichte im Leben erinnert, stach ihr ein blau eingebundenes Buch in die Augen. Es sei, als riefe es sie. Sie nahm das Buch, welches schwer in ihren Händen lag, aus dem Regal. „Die Augenbraue im Wind“ hallte ihr der Titel durch den Kopf. Sie schlug die erste Seite auf, das Buch knackte leise und sie begann zu lesen. Bald darauf stellte sie es an seinen alten Platz. Enttäuscht über das schlechte Buch und über ihren Instinkt ging sie zur Kasse. Sie musste warten da die Verkäuferin ein offensichtlich geschäftliches Telefongespräch führte. Ihre Finger tippten auf der hellen Holz der Handtaschenablage des Kassentisches. Noch immer gingen ihr die ersten Worte, welche sie im Buch „Die Augenbraue im Wind“ gelesen hatte, durch den Kopf und sie fragte sich, weshalb ihr das Buch so zu bedenken gab. „Soll ich es Ihnen einpacken?“ wurde Veronika von der Verkäuferin aus ihren Gedanken gerissen. „Ja, bitte.“ antwortete sie rasch. Nachdem sie bezahlt hatte, drehte sich die junge Frau um und ging zum Bücherstapel zurück. „Die Augenbraue im Wind“... von Simon Stumm. Woher kenne ich diesen Namen?, fuhr es Veronika durch den Kopf. Sie schlug die letzte Seite auf. Simon Stumm studierte an der Münchener Universität darstellende Kunst und lebt heute mit seiner Familie in Köln. Veronika sah ins Leere. Wer ist Simon Stumm? Veronika war davon überzeugt, der Name spiele eine Rolle für sie. So ging sie, ihrem Gefühl vertrauend, dass dies doch kein x-beliebiges Buch ist, mit dem Roman zur Kasse und bezahlte.

Zuhause kochte sich Veronika eine Tasse Tee und machte es sich im Sessel mit einer Decke und dem gerade erworbenen Buch bequem. Der Schneefall war stärker geworden, aus ihrer Wohnung wirkte die Welt friedlich und geheimnisvoll. Veronika hatte die Heizung höhergestellt, noch immer knisterten die langsam warm werdenden Rohre. Genüsslich biss sie in ein Plätzchen und strich, von einem leisen Knacken begleitet, die erste Seite des Buches auf. Ihre Augen flogen über die ersten Sätze, der Textfluss war konstant und mit Hilfe treffender Adjektive vermochte die Leserin sich schnell in die Handlung der Geschichte zu versetzten. Hatte sich ihr Spürsinn doch nicht getäuscht?
Dennoch schlug sie nach den ersten zwei Kapiteln das Buch zu und begab sich an die Fenster, legte ihre Handflächen auf die glatte Oberfläche. Ihr Blick schweifte im Nichts. Sie nahm die Hände wieder von dem kalten Glas und beobachtete, wie sich die zuvor von ihr ausgestrahlte Wärme von der Scheibe verschwand. Sie behauchte die Scheibe und malte ein S in den abgesetzten Atem.

Am nächsten Morgen wählte Veronika einen anderen Weg zur Arbeit. Sie lief am Bücherladen, in welchem sie einen Tag zuvor „Die Augenbraue im Wind“ erworben hatte, vorbei. Einen Augenblick blieb sie vor dem Geschäft stehen. Durch das Schaufenster erspähte sie jenes Buch, welches ihr nicht aus dem Kopf ging, in einem Bücherregal. Es lag weit vorne, doch die junge Frau war sich sicher es auch in den hinteren Regalen hätte erkennen können. Ist es nicht übertrieben und seltsam, dass ich mir solche Gedanken um ein Buch mache? dachte sie und setzte ihren Weg fort.

Während ihrer Mittagspause durchblätterte Veronika die Tageszeitung. Wie gewohnt überschlug sie die Wirtschaft- und Politikrubrik und begann mit dem Kulturteil. Wenn die Bässe singen, der Tanz – mein Leben und meine Liebe, - Überschriften mit welchen die Journalisten das Interesse der Leser und die Leserin wecken wollten. Veronikas Augen übersprangen die großen Artikel und hefteten sich an einen am Rand plazierten einspaltigen Text. Die Augenbraue im Wind – ein neuer Roman von Simon Stumm strahlte ihr entgegen. Die Linse von rechts nach links sausend, studierte sie den Beitrag ein zweites Mal durch. Sie war sich ganz sicher, diesen Simon zu kennen. Und da, was stand dort? Während ihres wiederholten Durchlesens sah sie das Foto aus der Buchklappe vor sich, er stand vor ihr und beugte sich zu ihr hinunter um ihr das gewünschte Erdbeereis zu reichen. Er lächelte sie an. Es war ein weiches, liebevolles Lächeln, das sie gerne erwiderte. Der Herr drehte ihr den Rücken zu und Veronikas Blick fiel auf einen gegenüber sitzenden Jungen. Auch er lächelte sie an, das Lächeln des Jungen unterschied sich vom Lächeln des Vaters. Es war warm und sanft und berührte das kleine Herz des jungen Mädchens.
Veronika blickte über den Rand der Zeitung, nahm einen Schluck Kaffee zu sich und sah ihre Freundin und Kollegin, die sich, ebenfalls über ein Blatt gebeugt, mit ihr den Tisch teilte. „Ich hab’s“, sprach Veronika bestimmt „Es ist Simon, mein Simon. Das Buch ist von ihm.“ Zwar sagte sie dies nur für sich, ihre Genossin hatte dennoch ihre Worte vernommen. „Du weißt wer wer ist?“ „Nun ja, seit ich dieses Buch erworben habe, brühte ich darüber, wer dieser Simon Stumm, der Autor, sein könnte. Ich wusste, der Name war mir nicht fremd und ist mir nicht belanglos. Jetzt weiß ich es.“ sie wirkte zufrieden, doch ihre Freundin drängte: „Na und, wer ist jetzt dieser Simon .... Stumm?“ Veronika fing ihren Blick auf und antwortet: „Er war meine erste Liebe...“ Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht der Zweiten. „Und, was willste jetzt tun?“, bohrte sie weiter. „Tun?“, entgegenete Veronika verdutzt „Was soll ich denn schon tun? Ich werde das Buch lesen und mich an die süßen Stunden von damals erinnern.“ Veronikas Freundin schüttelte vergnügt den Kopf.

In den nächsten Abenden verkroch sich Veronika unter ihrer Bettdecke und las in Simons Buch. Je mehr sie las, desto stärker wurden die Erinnerungen an ihn. An seine leidenschaftlichen Küsse und an seine damals schon so kräftigen, zarten Hände von den sie so fasziniert gewesen war. Diese Hände, die sie noch heute an ihrem Rücken zu spüren glaubte, bewegten sich heute über graue oder schwarze Tastaturen und schrieben Bücher. Sie tippten Worte, die Veronika verzauberten – wie damals, vor zwölf Jahren. Der Vergleich, der in ihr aufkam, einmal die Finger auf den Tasten und zum Anderen auf ihrer Haut, kam ihr schäbig und oll vor - die zarten Rückblenden zerfielen im monotonen Alltag.
Wütend feuerte Veronika das Buch an die Wand und verkroch sich unter den warmen Federn. Sie kam sich vor, wie ein kleines Kind, dem etwas nicht passte und es deshalb abwehrte. Doch was ließ sie so beunruhigen? Müsste sie sich nicht freuen, das Rätsel um den Fremden gelöst zu haben? Weshalb ließ sie die Erinnerungen nicht zu? Sie zog ihre Beine an ihren Rumpf und presste sie mit den Armen an die Brust. „Danke, Simon“, entfuhr es ihr unüberlegt. Verwundert spielte sie mit den eben ausgesprochenen Worten. Da wurde es ihr begreiflich. Es geht nicht darum, mit ihm in Kontakt zu kommen und zu wissen, wie der kleine Junge heute ist. Veronika konnte das liebevolle Lächeln des Jungen an sich nehmen und sich an ihm wärmen.
 



 
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