Die Bank am See

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Eve

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Der alte Mann war wieder da. Saß auf der Bank mit Blick über den See. Saß ganz rechts außen, als wollte er nicht zu viel Raum beanspruchen. Eliane näherte sich mit ausgreifenden Schritten, unter ihren Schuhen knirschten Kieselsteine. Sie konnte einfach nicht langsam laufen. Manchmal bremste sie sich und zwang sich, jeden Schritt gemächlich anzugehen, die Füße wie in Zeitlupe aufzusetzen. Aber jedes Mal fühlte sie sich unter dieser Anstrengung hölzern und ungelenk. Fürchtete, im nächsten Moment über ihre eigenen Füße zu stolpern, die ihr mehr Stelzen denn Beine zu sein schienen.

Heute jedoch eilte sie in unverminderter Geschwindigkeit den Weg entlang auf die Bank zu. Gestern hatte sie dort angehalten, sich eine Pause gegönnt und den Blick auf die ruhige Wasseroberfläche des Sees in sich aufgenommen. Sie hatte den Alten gegrüßt und sich ans andere Ende der Bank gesetzt. Geantwortet hatte er nicht.

Eliane überlegte, ob sie sich wieder setzen wollte – der Blick auf den See war so schön, die tief stehende Herbstsonne brachte die rostrot gefärbten Blätter der Bäume zum Leuchten und spiegelte sich im Wasser. Nichts Vorsichtiges oder Zartes wie zu Beginn eines neuen Jahres, jetzt gab es nur kräftiges Rot, sattes Gold und sich auflösendes Braun. Sie konnte abschalten und ganz für sich sein, wann immer ihr danach war. Bis auf gestern … sie hatte die Anwesenheit des Mannes fast körperlich spüren können. Hatte es nicht geschafft, den Kreis um sich selbst zu schließen und ihn draußen zu lassen. Daher fragte sie sich jetzt, ob sie seine Nähe auf sich nehmen oder darauf hoffen sollte, dass weiter vorn am Weg eine andere Bank frei werden würde.

Es war das rote Glühen, das sie schließlich überzeugte. Von dieser Bank hatte man einfach den besten Blick über den See und die so schön bunt gefärbten Baumkronen, als ob man direkt in den Himmel hinein schauen konnte.

Eliane nickte also dem alten Mann zu und setzte sich an ihren Rand der Bank. Sie streckte die Füße von sich und lehnte sich zurück, schloss die Augen und atmete tief ein. Gesprächsfetzen passierender Spaziergänger, Hundebellen, Kinderschreien – alles verschwand lautlos hinter der imaginären Tür, die sie zuzog, um allein zu sein.

Warm umschmeichelte die Mittagssonne Elianes Gesicht, tanzte auf ihren Lidern und zauberte Lichtbilder hinter den Augen. Einfach fallen lassen, die Gedanken ziehen lassen, wohin es sie gerade verschlug, loslassen. Wäre da nicht der alte Mann neben ihr. Wie am vorigen Tag griff ein Gefühl nach Eliane, dass der Alte mit ihr sprach, wortlos, als ob er nur durch seine Anwesenheit Worte austauschte. Eliane schlug die Augen auf. Das Gefühl, etwas sagen zu müssen, machte sie unruhig. Sie richtete den Rücken auf und setzte sich gerade hin. Dann wandte sie ihren Blick nach rechts. Der Mann schaute geradeaus, nicht krampfhaft oder absichtlich, um sie nicht ansehen zu müssen. Nein, es sah natürlich aus, als sollte sein Blick auf diesem Stein ruhen, den er zum Mittelpunkt seines Interesses gemacht hatte.

„Ein schöner Tag, nicht?“
Wieder trug allein der Wind ihre Worte, spielte eine Weile mit ihnen und ließ sie dann einsam verklingen. Unverwandt waren die Augen des Mannes auf den Stein geheftet, vielleicht sah er auch daran vorbei und blickte stattdessen in sich hinein. Und was immer er sah, es ließ ihn nicht los, um eine Antwort zu geben.
Eliane ließ es gut sein, sie hatte zweimal einen Vorstoß gewagt, hatte ihm die Hand reichen wollen, die er schon wieder ignorierte. Befreit rückte sie sich auf der Bank zurecht, wollte sich gerade wieder zurücklehnen, da sprach er ein paar leise Worte ...
„Sí – es muy bonito aquí.”
In Gedanken entschuldigte sich Eliane sofort für ihren Unmut. Er hatte sie gar nicht verstanden! Sie lächelte, es war ein schräges Lächeln, das gleichsam Freundlichkeit und Entschuldigung auf den Weg zu ihm schickte.
„Sou tão triste … que a minha esposa morreu o mês passado …“
Sie verstand nicht, was er sagte, denn außer ein paar Brocken russisch sprach sie keine Fremdsprache. Aber seine Stimme wehte so weich zu ihr heran, griff warm nach ihrem Herzen, dass er etwas Nettes gesagt haben musste.

Schweigend vergingen ein paar Minuten, dann stand Eliane auf, hob schüchtern die Hand zum Gruß und eilte den Weg hinunter, den sie vor kurzem erst gekommen war. Der Alte nickte fast unmerklich.
„Obrigado …“, es war nur ein Flüstern aus seinem Mund.

Schon am nächsten Tag saßen beide wieder auf ihrer Bank, er ganz rechts, sie ganz links.
„Ich habe etwas Furchtbares geträumt … immer wieder habe ich solche Träume, und sie machen mir Angst.“
Sie stockte, schaute auf ihre derben Schuhe, die voller Staub waren. Ihre Hände hatte sie unter sich begraben, saß darauf wie auf einem Kissen. Weiterreden, Eliane, dachte sie, rede. Wann hatte sie schon mal Zuhörer. Und er wird nicht lachen – denn er spricht diese Sprache nicht …
„Ich bin mit einer Gruppe von Leuten unterwegs, ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass ich ihnen gehorchen muss. Wir reden, und erst kann ich nicht verstehen, worüber gesprochen wird. Dann werden ihre Worte klarer. Ich soll etwas tun – etwas, das ich nicht tun will. Aber sie drängen mich, sie wollen, dass ich ihnen das Geheimnis verrate, das nur ich kenne. Sie packen nach mir, zerren an meinem Arm … und als ich mich losreißen kann, renne ich den Gang hinunter, immer weiter, ich habe keine Ahnung, was am Ende sein wird, denn alles ist dunkel. Hinter mir höre ich ihre Schritte, immer lauter, immer schwerer – fast spüre ich sie schon in meinem Rücken. Als ich mich umdrehe, verliere ich den Halt und stürze ins Leere. Über mir ist plötzlich alles ruhig, nur noch das Gefühl, den Boden verloren zu haben, ist allgegenwärtig. Ich habe schreckliche Angst … es ist dunkel und kalt … und ich weiß, wenn ich unten aufschlage, verliere ich mein Baby. Und dann werde ich wach, mein Bett ist zerwühlt, ich bin kalt, meine Hände sind klamm – und ich weiß, dass mein Baby tot ist. Dass die Wiege neben meinem Bett leer ist und nie den kleinen Kopf meiner Tochter gefühlt hat, die einfach nicht schreien wollte, als der Arzt sie im Krankenhaus an den Füßen hielt …
Ich bin nicht schuld, sagen sie, aber ich weiß es besser … sonst würde ER mir nicht solche Träume schicken.“

Eliane blickte starr nach vorn, in ihren Augen glänzten Tränen, die sie ärgerlich mit dem Finger wegwischte. Der alte Mann scharrte mit dem Fuß im Sand unter der Bank. Nur einmal. Dann saß auch er wieder reglos auf seinem Platz.

Die Sonne über den Baumkronen beschrieb einen Bogen, sie waren länger geblieben als die Tage zuvor, und der Himmel verfärbte sich lila-bläulich. Eliane zog ihre Hände hervor, spreizte die Finger weit und erhob sich dann. Sie winkte, er nickte. Dann waren beide allein.

Sie trafen sich wieder, es war wie eine Verabredung, die niemals einer von ihnen bestätigt hatte. Und dieses Mal redete er.
„Eu estou sentado aqui, como me sentave também em todo mundo ...“
Die fremde Sprache tanzte melodisch aus seinem Mund, und Eliane genoss es, zuzuhören. Dieses Gefühl war ihr neu, sie kannte es nicht, dass jemand ihren Rat suchte. Auch wenn es streng genommen kein Rat war, den er suchte, es war ja nicht einmal ein echtes Gespräch, weil sie die Worte des anderen nicht verstanden. Aber sie redeten. Und jeder schliff mit seinen Worten ein paar kleine Kanten des Schmerzes und der Angst rund. Vielleicht dachte sie, er redete über das Wetter oder den Park, vielleicht ahnte sie aber auch, dass er ihr etwas ganz anderes anvertraute.
„Sie ist fort, und ich kann es immer noch nicht glauben. Sie sagen zu mir, es wird schon mit der Zeit, du musst dir nur Zeit lassen. Und außerdem denken sie, es ist nun mal das Leben und ich soll mich gefälligst damit abfinden. Sie sprechen das nicht aus, aber ich sehe es in ihren Augen, ich höre es in der Art, wie sie die Worte aussprechen, die doch einen ganz anderen Sinn haben. Und ich sage, sie wissen es nicht, sie werden es niemals wissen.“
Der Alte machte eine Pause und legte seine Hände ruhig auf seinen Beinen ab. Er saß zurückgelehnt auf seinem Platz, rechts außen auf der Bank. Sein Blick ging über den See und verlor sich irgendwo in den Bäumen dahinter.
„Sie ist fort, und ich kann nicht verstehen, warum ich allein hier bleiben muss. Ich sehe den Stuhl, auf dem sie zuletzt gesessen hat – es ist, als könnte sie jeden Moment zur Tür herein kommen.“
Er sprach langsam, als fiele es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Aber nie so langsam, dass ein Wort nicht an das vorige anschließen könnte. Eliane lauschte dem Klang seiner Stimme und überlegte, was er ihr wohl erzählte. Aber eigentlich war es unwichtig. Vielleicht würden sie sich nie wieder sehen, was änderte es da, wenn sie wusste, von was er sprach? Oder wenn er die Ängste ihrer Nächte kannte? Was zählte war der Park und die Herbstsonne, und der Klang der eigenen Stimme.
„In den ersten Wochen habe ich jeden Tag darauf gehofft, dass sie wieder zur Tür herein kommt und sich auf ihren Stuhl setzt. Ich musste etwas haben, wofür sich das Aufstehen lohnt! Aber sie ist nicht gekommen ...“
Der Mann senkte seinen Blick und schaute auf die dünnen Grasbüschel, die sich tapfer am Saum des Weges hielten, obwohl immer wieder ein unachtsamer Fuß über sie hinweg trampelte und an ihnen zerrte.
„Alles in unserem Häuschen blieb so, wie es war, als sie noch da war – ich habe nichts verändert. Ich wollte, dass sie sieht, dass sie nicht einfach austauschbar ist und das Leben geht danach einfach weiter. Was wir hatten, war gut, so etwas ändert man nicht einfach so, nur weil eine Person fehlt. Und dann kamen sie, haben ihre Sachen zusammen geräumt, ihren Stuhl nach einer neuen Ordnung aufgestellt und haben gesagt, jetzt sei alles wieder so, dass ich mich wohl fühlen könnte. Und ich habe nichts dazu gesagt, weil sie es nicht verstehen. Wir nehmen dich mit, Pop, haben sie später gesagt. Und jetzt bin ich hier, in einem anderen Land, das ich nicht mehr kenne. Ich bin zu alt für Abenteuer. Ich wollte nur etwas behalten, das ich für lange Zeit hatte, die Zeit ausdehnen, die vorgesehen war.“
Er holte tief Luft und blickte dann wieder auf die Baumlinie hinter dem See. Es war so ruhig an diesem Nachmittag, so friedlich. Eliane wollte nicht, dass dieser Tag zu Ende ging, sie wollte noch bleiben, ihren Gedanken nachhängen und den alten Mann neben sich spüren. Er hatte etwas Tröstliches – und hier, auf ihrer Bank, waren sie zu zweit!

„Ich verzeihe meinen Kindern, sie wissen es nicht besser“, fuhr er fort, „und ich habe die Stimme verloren, mit der ich es ihnen hätte erklären können. Was helfen Erklärungen? Es ist wie es ist – und nun sitze ich auf dieser Bank, spüre dieselbe Sonne, die auch über Belèm am Himmel steht und sehe ihr Gesicht. Es ist überall um mich, in meinen Augen, in meinen Gedanken, in meinen Träumen. Ein Ort ist wie der andere, was ich sehe, ist doch nur in meinen Erinnerungen.“
Zum ersten Mal lächelte der alte Mann, es war ein trauriges Lächeln, aber es war ein Lächeln. Elianes Gesicht war hart, aber als sie den Mann ansah, lächelte auch sie. Es war etwas Gemeinsames, das einzige, das sie hatten.
 

rosste

Mitglied
Hallo Eve,
"Die Bank am See" habe ich mir die ganze Zeit vorgestellt mit den beiden.
Spannend und einfach gut geschrieben. Gratuliere.

"Und jeder schliff mit seinen Worten ein paar kleine Kanten des Schmerzes und der Angst rund." - gefällt mir sehr gut.
Die kleinen Dinge des Lebens sind oft ganz schön wichtig.

lg
 

Eve

Mitglied
Hallo rosste,

vielen Dank für die positive Bewerbung :) ... und schön, dass dir die Geschichte gefällt! Es sollte genau so sein, dass man sich die Bank und die beiden Personen vorstellen kann ...

Viele Grüße,
Eve
 

herb

Mitglied
Hallo Eve,

diese Geschichte ist sehr liebevoll und warmherzig erzählt. Danke für den Lesegenuss.

liebe Grüße

herb
 

Felix

Mitglied
Dann schließe ich mich auch noch an

eine schöne und eindringliche Geschichte, die du da mit idyllischen Landschaftsbeschreibungen einrahmst.
 

Eve

Mitglied
Hallo flying theo und Felix,

danke für eure Kommentare :) schön zu hören, dass es gelungen ist, die Umgebung - und auch Eliane - so darzustellen, dass sie sich andere vorstellen können ...

Viele Grüße,
Eve
 

Wendy

Mitglied
Hallo Eve,

Wow, da hast du eine Meisterleistung vollbracht. Deine Geschichte hat mich sehr berührt.

Danke und herzliche Grüße

Wendy
 

Eve

Mitglied
Hallo Wendy und LAW,

es berührt mich, dass diese Geschichte Anklang findet und in anderen ebenfalls etwas berührt! Danke für Eure Worte!

Liebe Grüße,
Eve
 

Eve

Mitglied
Hallo Märchentante und Miriam Scr,

vielen Dank für Eure Antworten - ich freue mich sehr darüber!

Grüße,
Eve
 



 
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