Die Bank im Wald

Charybdis

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Philipp hatte es kommen sehen. Das kleine Mädchen war beim Balancieren auf dem Holzstamm schon mehrfach abgerutscht, doch nun hatte es sich nicht mehr fangen können. Kopfüber war es auf den Sandweg gestürzt und weinte nun leise, ohne sich zu rühren.

Er eilte zu ihm, spürte Mitleid, hoffte, dass es sich nicht zu sehr weh getan hatte. Er hatte selber einen Sohn im Alter des kleinen Mädchens. Irgendwie, dachte er, gehören zum Leben eines Kindes in diesem Alter Kratzer, Abschürfungen und blaue Flecken dazu. Sie müssen experimentieren, die Grenzen des Machbaren ausloten, und dabei gibt es auch mal die eine oder andere Beule. Dennoch, ein vor Schmerz weinendes Kind traf Philipp in die Seele.

Vorsichtig hob er das kleine Mädchen auf, sah ihr tränenüberströmtes Gesicht, auf dem sich die Feuchtigkeit mit dem Staub des Weges zu vermengen begann, klopfte ihr gedankenverloren den Sand vom Sommerkleid, das sie trug. Und dann sah er, knapp unterhalb ihres Rocksaumes, die blutende Wunde am Knie.

„Wo tut es weh?“ fragte er, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersah, und die Kleine deutete schluchzend auf ihr Bein.

„Am Kopf, alles in Ordnung?“

Das Mädchen nickte, weinte und zeigte weiter auf das Knie.

Sanft strich Philipp ihr über das Haar, um sie zu trösten, hob sie hoch und ging mit ihr zu einer nahen Bank. Sie wiegt fast gar nichts, dachte er. Sein Sohn war sieben, dieses Mädchen wohl auch, aber der Junge hatte mittlerweile ein fühlbares Gewicht. Die Kleine allerdings, sie schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen.

Er blickte sich um. Er befand sich vielleicht 50 Meter von der Badestelle entfernt, an dem der Rest der Kinder- und Jugendgruppe, die er als mitreisender Vater begleitete, herumtobte. Mehr als 40 Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis sechzehn, alle mit viel Temperament und Energie. Sie gehörten alle einem Sportverein an, und meistenteils waren die Jungen und Mädchen auf dieser Sommerfahrt mit diversen Aktivitäten auf dem Gelände des Jugenddorfes beschäftigt, doch nun hatten sie für einige Stunden Freizeit. Während die Älteren unter ihnen die Gelegenheit nutzten, sich auf ihren Handtüchern zum gepflegten Sonnen zu drapieren, war den Jüngeren aber offenbar die körperliche Bewegung noch nicht genug gewesen.

Und zu diesen Jüngeren gehörte auch dieses Mädchen. Er hatte gesehen, wie sie von dem kleinen Badestrand am See fortging, in dem nahen Kletterpark auf einigen dort extra aufgestellten Stämmen herum kletterte, dann aber dem Pfad folgte, der in das Wäldchen dahinter führte.

Es war nicht einfach, über 40 Kinder und Jugendliche zu beaufsichtigen, obwohl sie acht Erwachsene waren. Fünf Trainer und Trainerinnen, dann zwei Mütter, dazu er, der Vater. Gerade das Baden war eine Herausforderung für die Begleiter, denn immer wieder gab es einige Kinder, die weiter auf den See hinausschwimmen wollten und zurückgerufen werden mussten. Zudem war das Gelände des Jugenddorfes weitläufig, und schon nach dem ersten Tag hatte Philipp verstanden, dass es praktisch unmöglich war, jederzeit zu wissen, wo sich jedes Kind und jeder Jugendliche gerade aufhielt. Insbesondere die Jugendlichen hätten ihm etwas erzählt, wenn er ihren ständig hinterhergeschlichen wäre. Sie fühlten sich schon sehr erwachsen und suchten sich ihre Freiräume, und dafür hatte er auch Verständnis, wenn er daran dachte, wie er damals in ihrem Alter gewesen war.

Aber er hatte auch viel gelesen über Unglücksfälle in Kindergärten, in Schulen, auf Ausflügen, und er hatte viel gehört über die Probleme, die den Aufsichtspersonen durch die Verletzung eines Schützlings entstehen konnte. Verletzung der Aufsichtspflicht, Klagen, Strafen, dazu natürlich auch das eigene Gefühl, nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. So hatte er lange darüber nachgedacht, ob er wirklich auf diese Reise mitgehen sollte. Schließlich war es sein Sohn gewesen, der darum gebettelt hatte. Der Kleine wollte auf diese Reise gehen, hatte aber Sorge, alleine von zu Hause fort zu sein, und da seine Mutter, Philipps Frau, keinen Urlaub bekam, traf es nun Philipp selbst.

Erstaunlicherweise hatte der Sohn vom Moment des Eintreffens im Jugenddorf an kein Interesse mehr an seinem Vater und tollte mit seinen Freunden durch die Gegend, so dass sich die Kommunikation im Wesentlichen auf die morgendliche Begrüßung und den abendlichen Abschied beschränkte. Philipp war stolz auf seinen Sohn, wenn er den Kleinen beobachtete, wie dieser Dinge an diesem Ort verrichtete, die zu Hause nur mit größter Not und intensivstem Zureden möglich waren. Ausziehen, Waschen, Anziehen – all das schien einfach zu funktionieren.
Philipp hatte auch das Zimmer der Jungen kontrolliert und war erstaunt, dass das Sechsbett-Zimmer in einem bemerkenswerten Zustand war. Die Jungen hatten ihre Köfferchen aus- und die Schränke eingeräumt, die Betten selbst bezogen – Philipp hatte an der einen oder anderen Decke noch einmal etwas nachgezogen – und selbst das Badezimmer wirkte nicht wie das pure Chaos. Der einzige Kritikpunkt, der Philipp einfiel, war, dass das proaktive Lüften des Raumes von Zeit zu Zeit vielleicht keine schlechte Idee wäre.

Die belustigten Berichte der beiden Mütter aus den Zimmern einiger Mädchen hingegen wirkten wie Kriegsberichte. Über den gesamten Boden verteilte und miteinander vermischte Kofferinhalte, Zahnspangen in Socken, mit Sand verkrustete Handtücher in der Dusche – es schien nichts zu geben, was es nicht gab. Immerhin, so hatte Philipp aber nach drei von fünf Tagen Aufenthalt an diesem Ort gelernt, führte diese Kleidervermischung dazu, dass die Mädchen mehr und mehr dazu übergingen, auch untereinander ihre Anziehsachen zu wechseln. Das Sommerkleid des weinenden Mädchens auf seinem Schoß hatte er, da war er sich sicher, gestern an einem anderen Kind gesehen.

Inzwischen hatte er ein Papiertaschentuch hervor genestelt und begann, die Wunde vorsichtig abzutupfen. Das Schluchzen wurde leiser, und die Kleine schlang ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals, als ob es weniger schmerzhaft wäre, nicht zu der Verletzung zu schauen.

„Tut es sehr weh?“ fragte er leise.

Das Mädchen nickte in seine Schulter.

„Es ist aber nicht schlimm, nur ein bisschen aufgeschlagen.“ Er strich sanft ein wenig Blut fort, sah die Haut, die wie ein Triangel auf- und zuklappte, und zu seiner Erleichterung sickerte kaum rote Flüssigkeit nach. Es war vermutlich eher der Schreck des Sturzes gewesen und nicht die Verletzung selbst. Außerdem, dachte er, während er schmunzeln musste, schien dieses Kind ziemlich taff zu sein. Ein blauer Fleck reihte sich auf ihren Schienbeinen an den anderen, und Philipp erinnerte sich, wie die Kleine am Tag zuvor ohne Angst vor Schmerzen mit einigen größeren Jungen und Mädchen Fußball gespielt hatte. Dort war es streckenweise durchaus ruppig zur Sache gegangen, und sie war mehrfach schlicht über den Haufen gerannt worden, ohne dass sie geklagt hätte. Mehr noch, einige Mitspieler hatten sich irgendwann darüber beschwert, dass die Kleine einfach zutreten würde, wenn sie den Ball haben wollte.

Erneut blickte er auf. 50 Meter von der Badestelle entfernt schien sich eine völlig andere Welt zu befinden. Dort war es voll und laut. Hier war er allein. Er mit dem Mädchen. Und wären da nicht die beiden Frauen gewesen, die gerade den Weg von der anderen Seite entlangkamen und ihn gleich erreichen würden, hätte man glauben können, im Nirgendwo zu sein.

„Du kannst aber auch nicht einfach weglaufen, hörst du?“ flüsterte er ihr ins Ohr.

Die Kleine klammerte sich stärker an ihn und begann, erneut zu weinen.

„Ich schimpfe doch nicht, aber wir haben gesagt, dass niemand in den Wald gehen soll.“ Er ärgerte sich darüber, dass das Gelände unten am See offen war, so dass die Aufsichtspersonen eigentlich ständig damit beschäftigt waren, nicht nur darauf zu achten, dass irgendjemand zu weit hinausschwamm, sondern auch damit, dass niemand sich in das Wäldchen absetzte. Andererseits hatte er in der Besprechung am ersten Abend gesagt, er hätte Verständnis dafür, wenn die Kinder und Jugendlichen in ihrer Freizeit die Natur erkunden würden. Aber er war überstimmt worden, vor dem Hintergrund, dass niemandem so richtig klar war, wie freizügig man hier wirklich sein konnte oder durfte.

Philipp hatte sich vorgenommen, diesen Punkt vor einer eventuellen weiteren Reise rechtlich noch einmal zu beleuchten. Er dachte an seine erste Schullandreise zurück, die vor über 25 Jahren stattgefunden hatte. Das Schullandheim hatte mitten in einem Wald gelegen, und in ihrer Freizeit hatten sie, die Schüler, dort nach Herzenslust herumstromern können, hatten Baumhäuser gebaut und Höhlen gegraben. Die Zeiten haben sich geändert, dachte er. Früher war man offenbar risikobereiter. Oder argloser. Man hatte den Kindern mehr Freiraum gelassen. Andererseits auch schwere Verletzungen riskiert. Ihnen war damals nichts geschehen, nur was wäre wirklich gewesen, wenn einer von ihnen aus zehn Metern Höhe vom Baum gefallen wäre? Was wären die Folgen für die begleitenden Lehrer gewesen, ganz zu schweigen von den Folgen für das verletzte Kind? Nur, gehörte Freiraum nicht auch zum Leben eines Kindes dazu? Wo war der geschickteste Mittelweg zwischen ebendiesem Freiraum und der Vollkasko-Sicherheit?

Wo war sein Sohn eigentlich momentan? Er hatte ihn bestimmt seit zwei Stunden nicht bewusst gesehen. Automatisch tupfte er auf der längst abgetrockneten Kniewunde des Mädchens herum, und er stellte sich vor, was seine Frau sagen würde, wenn der Sohn mit einem gebrochenen Arm nach Hause kommen würde. Ich sollte, grübelte er, zurückkehren an die Badestelle.

Schon wollte er die Kleine von seinem Hals lösen und sie fragen, ob sie selbst laufen könne oder ob er sie tragen solle, als er eine Veränderung in der Umgebung bemerkte. Ihm war nicht sofort bewusst, was er eigentlich wahrgenommen hatte, aber dann sah er die beiden Frauen vor sich. Es waren die beiden Spaziergängerinnen, die ihn inzwischen erreicht hatten, nur waren sie nicht weitergegangen. Sie waren vor ihm stehengeblieben und schauten ihn nachdenklich an.
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er kannte die Frauen nicht. Sie waren etwas älter als er, beide über Vierzig, und er hatte sie auch noch nie gesehen. Vermutlich waren es Bewohnerinnen des nahen Dorfes, auf einem Spaziergang am See entlang, durch das Wäldchen, an der Badestelle vorbei und weiter über ein großes Feld auf der anderen Seite. Nur warum starrten sie ihn derartig an? Saß seine Kleidung nicht? Hatte er sich Blut auf die Kleidung geschmiert? War seine Frisur unordentlich?

Die Situation war überaus merkwürdig, hier, im Wäldchen, an einer Bank. Ein Mann, ein Mädchen und zwei Frauen, und niemand sprach ein Wort. Philipps Gedanken rasten. Sollte er sie fragen, ob er ihnen helfen könne? Eigentlich wäre es doch das Selbstverständlichste, den anderen anzusprechen, wenn man ihn so anschaute. Warum sagten die Frauen nichts? Und warum bekam er selbst kein Wort heraus?

Das Kind! durchzuckte es ihn. Das Mädchen auf dem Schoß. Auf seinem Schoß! In einem kurzen Sommerkleid, seine Hand an ihrem Beinchen!

Die beiden Frauen wandten sich nicht ab, verharrten weiterhin etwa zwei Meter vor ihm und starrten ihn unverwandt an.
Sie halten mich für… für einen Kinderschänder! Philipp brach der Schweiß aus, und wie automatisch nahm er die Hand von ihrem Knie, drehte wie zur Erklärung der Situation, wie zur Entschuldigung das blutbefleckte Taschentuch zu den Frauen vor ihm, doch diese schienen nur Augen für sein Gesicht zu haben. Kinderschänder! Du hast ein Kind auf dem Schoß, ein kleines, harmloses, unschuldiges Kind, schienen die Augen zu sagen.

Aber..., bemühte sich Philipp, seine Gedanken zu sortieren, aber es ist doch eine ganz normale Situation. Die Kleine ist gestürzt, hat geweint, er hat sie aufgehoben, getröstet, die Wunde versorgt. Und jetzt würden sie beide aufstehen und zu den anderen ihrer Gruppe gehen. Sahen diese Frauen nicht, dass es eine ganz normale Situation war? Woher wollten diese selbsternannten Sittenwächterinnen vor ihm überhaupt wissen, dass dies hier nicht seine Tochter war? Das Mädchen konnte ohne Probleme seine Tochter sein. Sollte er vielleicht einfach sagen, dass es seine Tochter…

Halt! schoss es ihm durch den Kopf. Er kannte nicht einmal den Namen des Kindes. Über 40 Kinder und Jugendliche waren zuviel für sein Namensgedächtnis. Er hatte nicht einmal eine Idee, wie die Kleine heißen könnte. Und plötzlich wurde ihm noch heißer. Was würde geschehen, wenn er jetzt mit dem Mädchen an die Badestelle zurückgehen würde, und die beiden Frauen folgten ihm und sprächen die anderen Begleiter an? Und sie könnten sagen, dass sie beobachtet hätten, wie er mit dem Kind auf einer einsamen Bank saß, die Kleine auf seinem Schoß, er mit der Hand halb unter ihrem Rock… Was würde dann geschehen? Was würden die beiden Mütter sagen? Mindestens bei einer von den beiden hatte er beobachtet, dass sie überaus ängstlich und behütend war. Würde diese Mutter nicht sofort annehmen, dass…

Unsinn, schalt er sich. Das ist doch kompletter Unsinn. Ich habe nicht meine Hand unter dem Kleid des Mädchens, sondern habe eine Kniewunde gesäubert. Das Kind sitzt auf meinem Schoß, weil es das Natürlichste der Welt ist, ein trauriges Kind auf den Schoß zu nehmen. Ich bin Vater, ich mache das intuitiv, ohne nachzudenken. Machen Frauen es nicht auch so? Warum nicht gleiches Recht für die Väter? Zudem, so dachte er weiter, sehen diese beiden Megären vor mir nicht, dass die Kleine mich umklammert hält? Würde sie das denn machen, wenn ich…

Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Was für absonderliche Gedanken! Nur, wenn er es recht betrachtete, wie wirkte diese Situation wirklich für einen Außenstehenden? Geschah nicht tatsächlich sehr viel? Gab es nicht tatsächlich Missbrauch von Kindern und Jugendlichen? Schauten nicht viel zu viele Menschen fort? War es da nicht verständlich, dass diese beiden Frauen vor ihm Engagement zeigten? War das nicht sogar richtig?

Aber doch nicht bei mir! flehte er innerlich. Das ist doch vollkommen falsch. Wie in Trance zog er das Mädchen von seinem Schoß, setzte es neben sich, während es nun seinen rechten Arm umklammerte und sein Gesicht dort verbarg. Himmel, dachte er, war das jetzt richtig? Habe ich in diesem Augenblick vielleicht zugegeben, dass ich ein Kinderschänder bin? Wäre ich kein Kinderschänder, hätte ich das Kind ja auf meinem Schoß gelassen, aber so könnte es nun so wirken, als würde ich erkennen, dass ich ertappt worden bin, und deshalb habe ich das Mädchen…

Die beiden Frauen verzogen keine Miene und rührten sich nicht.
Ansprechen. Sprich sie an! feuerte Philipp sich an. Nur was würde dann wirklich geschehen? Sollte er einfach fragen, wie er ihnen helfen könnte? Wenn sie da so standen, müssten sie sich doch zuerst äußern, oder? Aber wenn diese Frauen dann Kontakt zu den Betreuern und Betreuerinnen suchten, die beiden anderen Mütter ansprachen…

Philipp erinnerte sich, was vor einigen Jahren im damaligen Kindergarten seines Sohnes geschehen war. Es hatte dort nur Erzieherinnen gegeben, keinen einzigen Mann. Dann aber war ein Erzieher eingestellt worden. Von dem Moment an, als die Entscheidung der Kita-Leitung bekanntgeworden war, rumorte es in der Elternschaft. Mütter tuschelten miteinander, Väter verzogen irritiert ihr Gesicht.

Ein Erzieher? Ein Mann? Das sei ja vollkommen unüblich. Und überhaupt, welcher Mann würde denn Erzieher werden wollen? Ich bitte Sie! Viele Eltern drückten in unzähligen, zunächst nur leise geführten Gesprächen untereinander ihren Unmut darüber aus, dass ein Mann als Erzieher in der Kita arbeiten sollte. Eine Mutter wies darauf hin, wie einfach doch gerade in Kitas der Zugang für Pädophile sei, wenn man sie einstelle, und wäre dies nicht ein Zeichen, dass dieser Mann womöglich ein Pädophiler…?

Die Mutter erhielt einige Zustimmung und ansonsten bestenfalls Schweigen. Philipp und seine Frau hatten sich bemüht, darauf hinzuweisen, dass es ja vielleicht gar nicht schlecht wäre, den Kindern auch eine männliche Rolle im Kindergarten zur Verfügung zu stellen, doch bekamen sie kaum Unterstützung. Im Gegenteil. Selbst Eltern, die sie für Freunde oder mindestens sehr gute Bekannte gehalten hatten, wurden ruhig und nachdenklich. Und ein Freund sagte schließlich, dass Philipp schon etwas Verständnis für die Sorgen mancher Eltern haben müsse, schließlich sei ja den Zeitungen der letzten Zeit zu entnehmen, wie viele Missetaten an unschuldigen Kindern begangen wurden. Seitdem schien es Philipp, als ob es in manchen Momenten wirklich besser sei zu schweigen.

Dabei hätte man auch diskutieren können: Kennt ihr den Mann eigentlich, der da eingestellt wird? Die Kitaleitung, allesamt Frauen, hatten sich ja letztendlich für diesen Bewerber entschieden, gegen verschiedene weitere Bewerberinnen. Sollte man sich diesen Mann nicht erst einmal anschauen? Schließlich gab es ein Probehalbjahr ja nicht ohne Grund.

Aber die Emotionen waren weiter hochgekocht. Es gab sogar schriftliche Eingaben gegen die Anstellung des männlichen Erziehers, eine Mutter betonte, dass ihre Tochter grundsätzlich Angst vor Männern habe, und sie hätte auch schon mit der bald folgenden Schule vereinbart, dass das Mädchen auf jeden Fall eine Klassenlehrerin bekommen müsse, aber keinen Mann.

„Dumme Schnepfe“, hatte Philipps Frau damals zu ihm gesagt. „In der Grundschule gibt es fast nur Frauen als Lehrer. Was soll das? Die Tucke ist paranoid. Kein Wunder, dass die Tochter Angst vor Männern hat.“ Sie hatten beide gelacht an diesem Tag. Und in der Gruppe geschwiegen.
Am Ende hatte die Kitaleitung dem Druck der Eltern nachgegeben und den Vertrag mit dem Mann aufgehoben. Und es wurde eine Frau eingestellt. Später, viel später, hatte Philipp von der Leiterin des Kindergartens gehört, dass sich eigentlich nur bestenfalls ein Dutzend der rund einhundert Elternpaare gegen die Einstellung des Mannes engagiert hatten, nur da der Rest der Eltern geschwiegen hatte, war das Ende beinahe folgerichtig gewesen.

Schweigen...

Die Frauen vor ihm starrten ihn immer noch an, und Wut stieg in ihm auf. Zur Hölle! Ich habe doch nur…

Schweigen…

Er erinnerte sich an eine Situation während einer Geschäftsreise vor einigen Jahren an einem Flughafen, als er, nach einem Check-in via Internet am Vorabend, am Gate aufgehalten wurde. Die Angestellte der Fluggesellschaft bat ihn, den Platz im Flugzeug zu wechseln. Er würde einen anderen Sitz bekommen, etwas weiter vorne, auch am Gang, wie er es immer mochte. Auf die Frage, weshalb er umgesetzt werde, erhielt er die Antwort, dass der Mittelplatz neben seinem jetzigen Sitz von einem allein reisenden Kind besetzt wäre, und laut den Vorschriften der Fluggesellschaft sei es nicht zulässig, dass Männer neben einem allein reisenden Kind säßen. Er war so perplex gewesen, dass er das Umsetzen ohne Widerspruch zuließ, und erst als er zu Hause eingetroffen war, brach sich der Ärger Bahn. Er hatte einen Beschwerdebrief an die Fluggesellschaft verfasst, aber erst nach Wochen erhielt er eine freundliche, jedoch lapidare Antwort, dass man Verständnis für seine Erregung habe, nur in Anbetracht der in jüngster Zeit ans Tageslicht gekommenen unzähligen Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen durch Männer sei es unabdingbar, jeglicher Gelegenheit für derartige Personen Einhalt zu gebieten. Und zu diesen Maßnahmen gehöre eben auch diese neue Sitzvergaberegelung. Man bitte den erregten Fluggast um Verständnis, und man würde ihm auch gerne einige zusätzliche Meilen für seine Empörung gutschreiben.

Philipp hatte sich geschworen, nie wieder mit ebenjener Fluggesellschaft zu fliegen, was letztendlich so lange anhielt, bis die Reisestelle seiner Firma den nächsten Flug buchte. Er ärgerte sich selbst über seine Inkonsequenz, nur gab es nicht Wichtigeres im Leben? Er hatte sich um seinen Job zu kümmern. Und natürlich um seine Familie. Da waren merkwürdige Sitzvergaberegelungen von Fluggesellschaften am Ende einfach nur ein marginales Ärgernis.

Und nun saß er hier im Wald, mit dem Mädchen neben sich, den Frauen vor sich, und er bekam seine Zähne nicht auseinander, weil die Gedanken in ihm durcheinander tobten. Inzwischen war es ihm, als ob er auch viel zu lange gezögert hätte, um noch ein Gespräch selbst zu beginnen. War langes Zögern nicht in gewisser Weise auch ein Quasi-Schuldanerkenntnis? Wie lange standen die Frauen überhaupt vor ihm? Es mussten Minuten sein… Oder waren es womöglich doch nur ein paar Sekunden? Gedanken konnten rasen, und die Zeit schien derweil im Flug zu vergehen, aber in Wirklichkeit verstrich sie nur schleppend, viel langsamer, als man es in diesem Moment wahrhaben wollte.

Nein, dachte er, diese Frauen waren eben erst hier erschienen, und er musste jetzt seinen Mund aufmachen. Zu bizarr war die Situation…

„Mensch, hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!“
Der Ruf von der Seite ließ Philipp herumfahren. Eine weitere Frau eilte, von der Badestelle kommend, herbei. Es war eine der Mütter, die die Gruppe begleiteten, die Taffere von beiden. Das kleine Mädchen an seinem Arm schielte an ihm vorbei und begann zu lächeln.

Die Mutter seufzte auf und blickte das Kind gespielt vorwurfsvoll an: „Wir haben dich überall gesucht. Du sollst doch nicht in den Wald gehen.“

Hey, wollte Philipp sagen, ich bin auch noch da! Ich habe das schon geklärt! Oder war es besser, in diesem Moment nicht da zu sein? Wenn jetzt diese beiden Frauen vor ihm sagten, dass er das Mädchen auf seinem Schoß gehabt hatte, was würde dann passieren? Wie würde die Gruppenbegleiterin reagieren? War sie vielleicht sogar die Mutter des kleinen Mädchens? Er wusste es nicht genau.

„Oh“, machte die Frau und deutete auf das blutige Taschentuch in Philipps Hand. „Bist du wieder hingefallen, Süße?“

„Ja, Mama“, lachte das Mädchen sprang von der Bank und der Frau entgegen. „Ich bin da vom Baumstamm gefallen…“

Und dann hat der große Onkel mich genommen und mich auf den Schoß gesetzt… Philipp schluckte schwer. Ich habe das Kind doch nur trösten wollen.

„Und das Knie?“ fragte die Frau besorgt.

„Nicht so schlimm. Geht schon wieder!“ Das Mädchen lachte erneut und hüpfte ohne Anzeichen irgendeiner Behinderung in Richtung der Badestelle davon.

„Danke“, drang es an Philipps Ohr, „dass Sie sich um die Kleine gekümmert haben. Sie ist schon überaus temperamentvoll, und sie ist mir wirklich entkommen.“ Die Frau lachte. „Das ist lustig. Sie haben meine Tochter gefunden, und ich habe Ihren Sohn aus dem Schilf herausgeholt. Er war da mit einer Luftmatratze hineingeraten. Ach so, und die anderen Kiddies fragen, ob Sie Schiedsrichter sein wollen. Es stehen einige Fußballpartien an. Man sucht Sie auch schon.“

Die beiden Frauen vor Philipp entspannten sich erkennbar, in der Erkenntnis, dass die beiden anderen sich kannten. Ha, dachte er, ist euch jetzt klar, dass ich kein Kinderschänder bin? Aber, wie würde diese Frau hier an seiner Seite reagieren, wenn sie wüsste, dass ihre Tochter auf seinem Schoß…?

Die beiden Frauen nickten der Mutter kurz zu, gingen dann weiter, hinter dem kleinen Mädchen her.

Von mir haben sie sich nicht verabschiedet, grübelte Philipp. Nun ja, Generalverdacht. So ist das eben.

„Was sind das eigentlich für zwei Frauen?“ flüsterte ihm die Mutter zu, während sie ihrer Tochter und den Spaziergängerinnen hinterher schaute.

„Keine Ahnung“, kam es aus Philipps Mund. „Ich… wollte sie gerade fragen, warum sie stehengeblieben…“ Seine Kehle wurde trocken. Was sollte er sagen? Er kannte diese Mutter kaum. Seine Befürchtungen, seine Sprachlosigkeit, sie waren in ihm, und die Reaktion dieser Frau an seiner Seite war nicht vorhersehbar. Was genau war jetzt zu sagen?

„Ach“, lachte die Mutter, „vermutlich haben die einfach gedacht, dass ein Mann ein verletztes Knie nicht richtig abwischen kann.“ Sie grinste den beiden hinterher. „Mein Mann hatte mal eine Situation, in der er unserer Tochter auf der Straße bei Nasenbluten helfen wollte. Sofort tauchte eine Frau auf und musterte ihn misstrauisch, und mein Mann sagte, er hatte in diesem Moment das Gefühl, als ob er für das Nasenbluten verantwortlich sei. Dabei hatte unsere Tochter einfach nur zu heftig gepopelt. Können Sie sich so was vorstellen?“

Ja, dachte Philipp. Ich kann mir so etwas vorstellen. Mehr, als Sie sich vorstellen können. Und irgendwann, irgendwann rede ich vielleicht auch mal darüber, wie ich mich fühle, wenn ich so angeschaut werde, nur jetzt bin ich einfach zu… zu feige… Erst einmal denke ich jedoch darüber nach, wie ich mich Kindern zukünftig gegenüber verhalte, auch wenn es noch so absurd ist, denn habe ich eigentlich etwas falsch gemacht?
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Charybdis, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

Redakteur in diesem Forum
 

Charybdis

Mitglied
Danke schön, Ralph. Ich bin schon gespannt, wie es mit der Zusammenarbeit hier läuft, und ich werde mir gleich mal den Link mit dem Leitfaden vornehmen. Super. :)
 

Charybdis

Mitglied
Philipp hatte es kommen sehen. Das kleine Mädchen war beim Balancieren auf dem Holzstamm schon mehrfach abgerutscht, doch nun hatte es sich nicht mehr fangen können. Kopfüber war es auf den Sandweg gestürzt und weinte nun leise, ohne sich zu rühren.

Er eilte zu ihm, spürte Mitleid, hoffte, dass es sich nicht zu sehr weh getan hatte. Er hatte selber einen Sohn im Alter des kleinen Mädchens. Irgendwie, dachte er, gehören zum Leben eines Kindes in diesem Alter Kratzer, Abschürfungen und blaue Flecken dazu. Sie müssen experimentieren, die Grenzen des Machbaren ausloten, und dabei gibt es auch mal die eine oder andere Beule. Dennoch, ein vor Schmerz weinendes Kind traf Philipp in die Seele.

Vorsichtig hob er das kleine Mädchen auf, sah ihr tränenüberströmtes Gesicht, auf dem sich die Feuchtigkeit mit dem Staub des Weges zu vermengen begann, klopfte ihr gedankenverloren den Sand vom Sommerkleid, das sie trug. Und dann sah er, knapp unterhalb ihres Rocksaumes, die blutende Wunde am Knie.

„Wo tut es weh?“ fragte er, um sich zu vergewissern, dass er nichts übersah, und die Kleine deutete schluchzend auf ihr Bein.

„Am Kopf, alles in Ordnung?“

Das Mädchen nickte, weinte und zeigte weiter auf das Knie.

Sanft strich Philipp ihr über das Haar, um sie zu trösten, hob sie hoch und ging mit ihr zu einer nahen Bank. Sie wiegt fast gar nichts, dachte er. Sein Sohn war sieben, dieses Mädchen wohl auch, aber der Junge hatte mittlerweile ein fühlbares Gewicht. Die Kleine allerdings, sie schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen.

Er blickte sich um. Er befand sich vielleicht 50 Meter von der Badestelle entfernt, an dem der Rest der Kinder- und Jugendgruppe, die er als mitreisender Vater begleitete, herumtobte. Mehr als 40 Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis sechzehn, alle mit viel Temperament und Energie. Sie gehörten alle einem Sportverein an, und meistenteils waren die Jungen und Mädchen auf dieser Sommerfahrt mit diversen Aktivitäten auf dem Gelände des Jugenddorfes beschäftigt, doch nun hatten sie für einige Stunden Freizeit. Während die Älteren unter ihnen die Gelegenheit nutzten, sich auf ihren Handtüchern zum gepflegten Sonnen zu drapieren, war den Jüngeren aber offenbar die körperliche Bewegung noch nicht genug gewesen.

Und zu diesen Jüngeren gehörte auch dieses Mädchen. Er hatte gesehen, wie sie von dem kleinen Badestrand am See fortging, in dem nahen Kletterpark auf einigen dort extra aufgestellten Stämmen herum kletterte, dann aber dem Pfad folgte, der in das Wäldchen dahinter führte.

Es war nicht einfach, über 40 Kinder und Jugendliche zu beaufsichtigen, obwohl sie acht Erwachsene waren. Fünf Trainer und Trainerinnen, dann zwei Mütter, dazu er, der Vater. Gerade das Baden war eine Herausforderung für die Begleiter, denn immer wieder gab es einige Kinder, die weiter auf den See hinausschwimmen wollten und zurückgerufen werden mussten. Zudem war das Gelände des Jugenddorfes weitläufig, und schon nach dem ersten Tag hatte Philipp verstanden, dass es praktisch unmöglich war, jederzeit zu wissen, wo sich jedes Kind und jeder Jugendliche gerade aufhielt. Insbesondere die Jugendlichen hätten ihm etwas erzählt, wenn er ihren ständig hinterhergeschlichen wäre. Sie fühlten sich schon sehr erwachsen und suchten sich ihre Freiräume, und dafür hatte er auch Verständnis, wenn er daran dachte, wie er damals in ihrem Alter gewesen war.

Aber er hatte auch viel gelesen über Unglücksfälle in Kindergärten, in Schulen, auf Ausflügen, und er hatte viel gehört über die Probleme, die den Aufsichtspersonen durch die Verletzung eines Schützlings entstehen konnte. Verletzung der Aufsichtspflicht, Klagen, Strafen, dazu natürlich auch das eigene Gefühl, nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. So hatte er lange darüber nachgedacht, ob er wirklich auf diese Reise mitgehen sollte. Schließlich war es sein Sohn gewesen, der darum gebettelt hatte. Der Kleine wollte auf diese Reise gehen, hatte aber Sorge, alleine von zu Hause fort zu sein, und da seine Mutter, Philipps Frau, keinen Urlaub bekam, traf es nun Philipp selbst.

Erstaunlicherweise hatte der Sohn vom Moment des Eintreffens im Jugenddorf an kein Interesse mehr an seinem Vater und tollte mit seinen Freunden durch die Gegend, so dass sich die Kommunikation im Wesentlichen auf die morgendliche Begrüßung und den abendlichen Abschied beschränkte. Philipp war stolz auf seinen Sohn, wenn er den Kleinen beobachtete, wie dieser Dinge an diesem Ort verrichtete, die zu Hause nur mit größter Not und intensivstem Zureden möglich waren. Ausziehen, Waschen, Anziehen – all das schien einfach zu funktionieren.

Philipp hatte auch das Zimmer der Jungen kontrolliert und war erstaunt, dass das Sechsbett-Zimmer in einem bemerkenswerten Zustand war. Die Jungen hatten ihre Köfferchen aus- und die Schränke eingeräumt, die Betten selbst bezogen – Philipp hatte an der einen oder anderen Decke noch einmal etwas nachgezogen – und selbst das Badezimmer wirkte nicht wie das pure Chaos. Der einzige Kritikpunkt, der Philipp einfiel, war, dass das proaktive Lüften des Raumes von Zeit zu Zeit vielleicht keine schlechte Idee wäre.

Die belustigten Berichte der beiden Mütter aus den Zimmern einiger Mädchen hingegen wirkten wie Kriegsberichte. Über den gesamten Boden verteilte und miteinander vermischte Kofferinhalte, Zahnspangen in Socken, mit Sand verkrustete Handtücher in der Dusche – es schien nichts zu geben, was es nicht gab. Immerhin, so hatte Philipp aber nach drei von fünf Tagen Aufenthalt an diesem Ort gelernt, führte diese Kleidervermischung dazu, dass die Mädchen mehr und mehr dazu übergingen, auch untereinander ihre Anziehsachen zu wechseln. Das Sommerkleid des weinenden Mädchens auf seinem Schoß hatte er, da war er sich sicher, gestern an einem anderen Kind gesehen.

Inzwischen hatte er ein Papiertaschentuch hervor genestelt und begann, die Wunde vorsichtig abzutupfen. Das Schluchzen wurde leiser, und die Kleine schlang ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals, als ob es weniger schmerzhaft wäre, nicht zu der Verletzung zu schauen.

„Tut es sehr weh?“ fragte er leise.

Das Mädchen nickte in seine Schulter.

„Es ist aber nicht schlimm, nur ein bisschen aufgeschlagen.“ Er strich sanft ein wenig Blut fort, sah die Haut, die wie ein Triangel auf- und zuklappte, und zu seiner Erleichterung sickerte kaum rote Flüssigkeit nach. Es war vermutlich eher der Schreck des Sturzes gewesen und nicht die Verletzung selbst. Außerdem, dachte er, während er schmunzeln musste, schien dieses Kind ziemlich taff zu sein. Ein blauer Fleck reihte sich auf ihren Schienbeinen an den anderen, und Philipp erinnerte sich, wie die Kleine am Tag zuvor ohne Angst vor Schmerzen mit einigen größeren Jungen und Mädchen Fußball gespielt hatte. Dort war es streckenweise durchaus ruppig zur Sache gegangen, und sie war mehrfach schlicht über den Haufen gerannt worden, ohne dass sie geklagt hätte. Mehr noch, einige Mitspieler hatten sich irgendwann darüber beschwert, dass die Kleine einfach zutreten würde, wenn sie den Ball haben wollte.

Erneut blickte er auf. 50 Meter von der Badestelle entfernt schien sich eine völlig andere Welt zu befinden. Dort war es voll und laut. Hier war er allein. Er mit dem Mädchen. Und wären da nicht die beiden Frauen gewesen, die gerade den Weg von der anderen Seite entlangkamen und ihn gleich erreichen würden, hätte man glauben können, im Nirgendwo zu sein.

„Du kannst aber auch nicht einfach weglaufen, hörst du?“ flüsterte er ihr ins Ohr.

Die Kleine klammerte sich stärker an ihn und begann, erneut zu weinen.

„Ich schimpfe doch nicht, aber wir haben gesagt, dass niemand in den Wald gehen soll.“ Er ärgerte sich darüber, dass das Gelände unten am See offen war, so dass die Aufsichtspersonen eigentlich ständig damit beschäftigt waren, nicht nur darauf zu achten, dass irgendjemand zu weit hinausschwamm, sondern auch damit, dass niemand sich in das Wäldchen absetzte. Andererseits hatte er in der Besprechung am ersten Abend gesagt, er hätte Verständnis dafür, wenn die Kinder und Jugendlichen in ihrer Freizeit die Natur erkunden würden. Aber er war überstimmt worden, vor dem Hintergrund, dass niemandem so richtig klar war, wie freizügig man hier wirklich sein konnte oder durfte.

Philipp hatte sich vorgenommen, diesen Punkt vor einer eventuellen weiteren Reise rechtlich noch einmal zu beleuchten. Er dachte an seine erste Schullandreise zurück, die vor über 25 Jahren stattgefunden hatte. Das Schullandheim hatte mitten in einem Wald gelegen, und in ihrer Freizeit hatten sie, die Schüler, dort nach Herzenslust herumstromern können, hatten Baumhäuser gebaut und Höhlen gegraben. Die Zeiten haben sich geändert, dachte er. Früher war man offenbar risikobereiter. Oder argloser. Man hatte den Kindern mehr Freiraum gelassen. Andererseits auch schwere Verletzungen riskiert. Ihnen war damals nichts geschehen, nur was wäre wirklich gewesen, wenn einer von ihnen aus zehn Metern Höhe vom Baum gefallen wäre? Was wären die Folgen für die begleitenden Lehrer gewesen, ganz zu schweigen von den Folgen für das verletzte Kind? Nur, gehörte Freiraum nicht auch zum Leben eines Kindes dazu? Wo war der geschickteste Mittelweg zwischen ebendiesem Freiraum und der Vollkasko-Sicherheit?

Wo war sein Sohn eigentlich momentan? Er hatte ihn bestimmt seit zwei Stunden nicht bewusst gesehen. Automatisch tupfte er auf der längst abgetrockneten Kniewunde des Mädchens herum, und er stellte sich vor, was seine Frau sagen würde, wenn der Sohn mit einem gebrochenen Arm nach Hause kommen würde. Ich sollte, grübelte er, zurückkehren an die Badestelle.

Schon wollte er die Kleine von seinem Hals lösen und sie fragen, ob sie selbst laufen könne oder ob er sie tragen solle, als er eine Veränderung in der Umgebung bemerkte. Ihm war nicht sofort bewusst, was er eigentlich wahrgenommen hatte, aber dann sah er die beiden Frauen vor sich. Es waren die beiden Spaziergängerinnen, die ihn inzwischen erreicht hatten, nur waren sie nicht weitergegangen. Sie waren vor ihm stehengeblieben und schauten ihn nachdenklich an.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er kannte die Frauen nicht. Sie waren etwas älter als er, beide über Vierzig, und er hatte sie auch noch nie gesehen. Vermutlich waren es Bewohnerinnen des nahen Dorfes, auf einem Spaziergang am See entlang, durch das Wäldchen, an der Badestelle vorbei und weiter über ein großes Feld auf der anderen Seite. Nur warum starrten sie ihn derartig an? Saß seine Kleidung nicht? Hatte er sich Blut auf die Kleidung geschmiert? War seine Frisur unordentlich?

Die Situation war überaus merkwürdig, hier, im Wäldchen, an einer Bank. Ein Mann, ein Mädchen und zwei Frauen, und niemand sprach ein Wort. Philipps Gedanken rasten. Sollte er sie fragen, ob er ihnen helfen könne? Eigentlich wäre es doch das Selbstverständlichste, den anderen anzusprechen, wenn man ihn so anschaute. Warum sagten die Frauen nichts? Und warum bekam er selbst kein Wort heraus?

Das Kind! durchzuckte es ihn. Das Mädchen auf dem Schoß. Auf seinem Schoß! In einem kurzen Sommerkleid, seine Hand an ihrem Beinchen!

Die beiden Frauen wandten sich nicht ab, verharrten weiterhin etwa zwei Meter vor ihm und starrten ihn unverwandt an.

Sie halten mich für… für einen Kinderschänder! Philipp brach der Schweiß aus, und wie automatisch nahm er die Hand von ihrem Knie, drehte wie zur Erklärung der Situation, wie zur Entschuldigung das blutbefleckte Taschentuch zu den Frauen vor ihm, doch diese schienen nur Augen für sein Gesicht zu haben. Kinderschänder! Du hast ein Kind auf dem Schoß, ein kleines, harmloses, unschuldiges Kind, schienen die Augen zu sagen.

Aber..., bemühte sich Philipp, seine Gedanken zu sortieren, aber es ist doch eine ganz normale Situation. Die Kleine ist gestürzt, hat geweint, er hat sie aufgehoben, getröstet, die Wunde versorgt. Und jetzt würden sie beide aufstehen und zu den anderen ihrer Gruppe gehen. Sahen diese Frauen nicht, dass es eine ganz normale Situation war? Woher wollten diese selbsternannten Sittenwächterinnen vor ihm überhaupt wissen, dass dies hier nicht seine Tochter war? Das Mädchen konnte ohne Probleme seine Tochter sein. Sollte er vielleicht einfach sagen, dass es seine Tochter…

Halt! schoss es ihm durch den Kopf. Er kannte nicht einmal den Namen des Kindes. Über 40 Kinder und Jugendliche waren zuviel für sein Namensgedächtnis. Er hatte nicht einmal eine Idee, wie die Kleine heißen könnte. Und plötzlich wurde ihm noch heißer. Was würde geschehen, wenn er jetzt mit dem Mädchen an die Badestelle zurückgehen würde, und die beiden Frauen folgten ihm und sprächen die anderen Begleiter an? Und sie könnten sagen, dass sie beobachtet hätten, wie er mit dem Kind auf einer einsamen Bank saß, die Kleine auf seinem Schoß, er mit der Hand halb unter ihrem Rock… Was würde dann geschehen? Was würden die beiden Mütter sagen? Mindestens bei einer von den beiden hatte er beobachtet, dass sie überaus ängstlich und behütend war. Würde diese Mutter nicht sofort annehmen, dass…

Unsinn, schalt er sich. Das ist doch kompletter Unsinn. Ich habe nicht meine Hand unter dem Kleid des Mädchens, sondern habe eine Kniewunde gesäubert. Das Kind sitzt auf meinem Schoß, weil es das Natürlichste der Welt ist, ein trauriges Kind auf den Schoß zu nehmen. Ich bin Vater, ich mache das intuitiv, ohne nachzudenken. Machen Frauen es nicht auch so? Warum nicht gleiches Recht für die Väter? Zudem, so dachte er weiter, sehen diese beiden Megären vor mir nicht, dass die Kleine mich umklammert hält? Würde sie das denn machen, wenn ich…

Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Was für absonderliche Gedanken! Nur, wenn er es recht betrachtete, wie wirkte diese Situation wirklich für einen Außenstehenden? Geschah nicht tatsächlich sehr viel? Gab es nicht tatsächlich Missbrauch von Kindern und Jugendlichen? Schauten nicht viel zu viele Menschen fort? War es da nicht verständlich, dass diese beiden Frauen vor ihm Engagement zeigten? War das nicht sogar richtig?

Aber doch nicht bei mir! flehte er innerlich. Das ist doch vollkommen falsch. Wie in Trance zog er das Mädchen von seinem Schoß, setzte es neben sich, während es nun seinen rechten Arm umklammerte und sein Gesicht dort verbarg. Himmel, dachte er, war das jetzt richtig? Habe ich in diesem Augenblick vielleicht zugegeben, dass ich ein Kinderschänder bin? Wäre ich kein Kinderschänder, hätte ich das Kind ja auf meinem Schoß gelassen, aber so könnte es nun so wirken, als würde ich erkennen, dass ich ertappt worden bin, und deshalb habe ich das Mädchen…

Die beiden Frauen verzogen keine Miene und rührten sich nicht.
Ansprechen. Sprich sie an! feuerte Philipp sich an. Nur was würde dann wirklich geschehen? Sollte er einfach fragen, wie er ihnen helfen könnte? Wenn sie da so standen, müssten sie sich doch zuerst äußern, oder? Aber wenn diese Frauen dann Kontakt zu den Betreuern und Betreuerinnen suchten, die beiden anderen Mütter ansprachen…

Philipp erinnerte sich, was vor einigen Jahren im damaligen Kindergarten seines Sohnes geschehen war. Es hatte dort nur Erzieherinnen gegeben, keinen einzigen Mann. Dann aber war ein Erzieher eingestellt worden. Von dem Moment an, als die Entscheidung der Kita-Leitung bekanntgeworden war, rumorte es in der Elternschaft. Mütter tuschelten miteinander, Väter verzogen irritiert ihr Gesicht.

Ein Erzieher? Ein Mann? Das sei ja vollkommen unüblich. Und überhaupt, welcher Mann würde denn Erzieher werden wollen? Ich bitte Sie! Viele Eltern drückten in unzähligen, zunächst nur leise geführten Gesprächen untereinander ihren Unmut darüber aus, dass ein Mann als Erzieher in der Kita arbeiten sollte. Eine Mutter wies darauf hin, wie einfach doch gerade in Kitas der Zugang für Pädophile sei, wenn man sie einstelle, und wäre dies nicht ein Zeichen, dass dieser Mann womöglich ein Pädophiler…?

Die Mutter erhielt einige Zustimmung und ansonsten bestenfalls Schweigen. Philipp und seine Frau hatten sich bemüht, darauf hinzuweisen, dass es ja vielleicht gar nicht schlecht wäre, den Kindern auch eine männliche Rolle im Kindergarten zur Verfügung zu stellen, doch bekamen sie kaum Unterstützung. Im Gegenteil. Selbst Eltern, die sie für Freunde oder mindestens sehr gute Bekannte gehalten hatten, wurden ruhig und nachdenklich. Und ein Freund sagte schließlich, dass Philipp schon etwas Verständnis für die Sorgen mancher Eltern haben müsse, schließlich sei ja den Zeitungen der letzten Zeit zu entnehmen, wie viele Missetaten an unschuldigen Kindern begangen wurden. Seitdem schien es Philipp, als ob es in manchen Momenten wirklich besser sei zu schweigen.

Dabei hätte man auch diskutieren können: Kennt ihr den Mann eigentlich, der da eingestellt wird? Die Kitaleitung, allesamt Frauen, hatten sich ja letztendlich für diesen Bewerber entschieden, gegen verschiedene weitere Bewerberinnen. Sollte man sich diesen Mann nicht erst einmal anschauen? Schließlich gab es ein Probehalbjahr ja nicht ohne Grund.

Aber die Emotionen waren weiter hochgekocht. Es gab sogar schriftliche Eingaben gegen die Anstellung des männlichen Erziehers, eine Mutter betonte, dass ihre Tochter grundsätzlich Angst vor Männern habe, und sie hätte auch schon mit der bald folgenden Schule vereinbart, dass das Mädchen auf jeden Fall eine Klassenlehrerin bekommen müsse, aber keinen Mann.

„Dumme Schnepfe“, hatte Philipps Frau damals zu ihm gesagt. „In der Grundschule gibt es fast nur Frauen als Lehrer. Was soll das? Die Tucke ist paranoid. Kein Wunder, dass die Tochter Angst vor Männern hat.“ Sie hatten beide gelacht an diesem Tag. Und in der Gruppe geschwiegen.

Am Ende hatte die Kitaleitung dem Druck der Eltern nachgegeben und den Vertrag mit dem Mann aufgehoben. Und es wurde eine Frau eingestellt. Später, viel später, hatte Philipp von der Leiterin des Kindergartens gehört, dass sich eigentlich nur bestenfalls ein Dutzend der rund einhundert Elternpaare gegen die Einstellung des Mannes engagiert hatten, nur da der Rest der Eltern geschwiegen hatte, war das Ende beinahe folgerichtig gewesen.

Schweigen...

Die Frauen vor ihm starrten ihn immer noch an, und Wut stieg in ihm auf. Zur Hölle! Ich habe doch nur…

Schweigen…

Er erinnerte sich an eine Situation während einer Geschäftsreise vor einigen Jahren an einem Flughafen, als er, nach einem Check-in via Internet am Vorabend, am Gate aufgehalten wurde. Die Angestellte der Fluggesellschaft bat ihn, den Platz im Flugzeug zu wechseln. Er würde einen anderen Sitz bekommen, etwas weiter vorne, auch am Gang, wie er es immer mochte. Auf die Frage, weshalb er umgesetzt werde, erhielt er die Antwort, dass der Mittelplatz neben seinem jetzigen Sitz von einem allein reisenden Kind besetzt wäre, und laut den Vorschriften der Fluggesellschaft sei es nicht zulässig, dass Männer neben einem allein reisenden Kind säßen. Er war so perplex gewesen, dass er das Umsetzen ohne Widerspruch zuließ, und erst als er zu Hause eingetroffen war, brach sich der Ärger Bahn. Er hatte einen Beschwerdebrief an die Fluggesellschaft verfasst, aber erst nach Wochen erhielt er eine freundliche, jedoch lapidare Antwort, dass man Verständnis für seine Erregung habe, nur in Anbetracht der in jüngster Zeit ans Tageslicht gekommenen unzähligen Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen durch Männer sei es unabdingbar, jeglicher Gelegenheit für derartige Personen Einhalt zu gebieten. Und zu diesen Maßnahmen gehöre eben auch diese neue Sitzvergaberegelung. Man bitte den erregten Fluggast um Verständnis, und man würde ihm auch gerne einige zusätzliche Meilen für seine Empörung gutschreiben.

Philipp hatte sich geschworen, nie wieder mit ebenjener Fluggesellschaft zu fliegen, was letztendlich so lange anhielt, bis die Reisestelle seiner Firma den nächsten Flug buchte. Er ärgerte sich selbst über seine Inkonsequenz, nur gab es nicht Wichtigeres im Leben? Er hatte sich um seinen Job zu kümmern. Und natürlich um seine Familie. Da waren merkwürdige Sitzvergaberegelungen von Fluggesellschaften am Ende einfach nur ein marginales Ärgernis.

Und nun saß er hier im Wald, mit dem Mädchen neben sich, den Frauen vor sich, und er bekam seine Zähne nicht auseinander, weil die Gedanken in ihm durcheinander tobten. Inzwischen war es ihm, als ob er auch viel zu lange gezögert hätte, um noch ein Gespräch selbst zu beginnen. War langes Zögern nicht in gewisser Weise auch ein Quasi-Schuldanerkenntnis? Wie lange standen die Frauen überhaupt vor ihm? Es mussten Minuten sein… Oder waren es womöglich doch nur ein paar Sekunden? Gedanken konnten rasen, und die Zeit schien derweil im Flug zu vergehen, aber in Wirklichkeit verstrich sie nur schleppend, viel langsamer, als man es in diesem Moment wahrhaben wollte.

Nein, dachte er, diese Frauen waren eben erst hier erschienen, und er musste jetzt seinen Mund aufmachen. Zu bizarr war die Situation…

„Mensch, hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!“

Der Ruf von der Seite ließ Philipp herumfahren. Eine weitere Frau eilte, von der Badestelle kommend, herbei. Es war eine der Mütter, die die Gruppe begleiteten, die Taffere von beiden. Das kleine Mädchen an seinem Arm schielte an ihm vorbei und begann zu lächeln.

Die Mutter seufzte auf und blickte das Kind gespielt vorwurfsvoll an: „Wir haben dich überall gesucht. Du sollst doch nicht in den Wald gehen.“

Hey, wollte Philipp sagen, ich bin auch noch da! Ich habe das schon geklärt! Oder war es besser, in diesem Moment nicht da zu sein? Wenn jetzt diese beiden Frauen vor ihm sagten, dass er das Mädchen auf seinem Schoß gehabt hatte, was würde dann passieren? Wie würde die Gruppenbegleiterin reagieren? War sie vielleicht sogar die Mutter des kleinen Mädchens? Er wusste es nicht genau.

„Oh“, machte die Frau und deutete auf das blutige Taschentuch in Philipps Hand. „Bist du wieder hingefallen, Süße?“

„Ja, Mama“, lachte das Mädchen sprang von der Bank und der Frau entgegen. „Ich bin da vom Baumstamm gefallen…“

Und dann hat der große Onkel mich genommen und mich auf den Schoß gesetzt… Philipp schluckte schwer. Ich habe das Kind doch nur trösten wollen.

„Und das Knie?“ fragte die Frau besorgt.

„Nicht so schlimm. Geht schon wieder!“ Das Mädchen lachte erneut und hüpfte ohne Anzeichen irgendeiner Behinderung in Richtung der Badestelle davon.

„Danke“, drang es an Philipps Ohr, „dass Sie sich um die Kleine gekümmert haben. Sie ist schon überaus temperamentvoll, und sie ist mir wirklich entkommen.“ Die Frau lachte. „Das ist lustig. Sie haben meine Tochter gefunden, und ich habe Ihren Sohn aus dem Schilf herausgeholt. Er war da mit einer Luftmatratze hineingeraten. Ach so, und die anderen Kiddies fragen, ob Sie Schiedsrichter sein wollen. Es stehen einige Fußballpartien an. Man sucht Sie auch schon.“

Die beiden Frauen vor Philipp entspannten sich sichtbar, in dem Wissen, dass die beiden anderen sich kannten. Ha, dachte er, ist euch jetzt klar, dass ich kein Kinderschänder bin? Aber, wie würde diese Frau hier an seiner Seite reagieren, wenn sie wüsste, dass ihre Tochter auf seinem Schoß…?

Die beiden Frauen nickten der Mutter kurz zu, gingen dann weiter, hinter dem kleinen Mädchen her.

Von mir haben sie sich nicht verabschiedet, grübelte Philipp. Nun ja, Generalverdacht. So ist das eben.

„Was sind das eigentlich für zwei Frauen?“ flüsterte ihm die Mutter zu, während sie ihrer Tochter und den Spaziergängerinnen hinterher schaute.

„Keine Ahnung“, kam es aus Philipps Mund. „Ich… wollte sie gerade fragen, warum sie stehengeblieben…“ Seine Kehle wurde trocken. Was sollte er sagen? Er kannte diese Mutter kaum. Seine Befürchtungen, seine Sprachlosigkeit, sie waren in ihm, und die Reaktion dieser Frau an seiner Seite war nicht vorhersehbar. Was genau war jetzt zu sagen?

„Ach“, lachte die Mutter, „vermutlich haben die einfach gedacht, dass ein Mann ein verletztes Knie nicht richtig abwischen kann.“ Sie grinste den beiden hinterher. „Mein Mann hatte mal eine Situation, in der er unserer Tochter auf der Straße bei Nasenbluten helfen wollte. Sofort tauchte eine Frau auf und musterte ihn misstrauisch, und mein Mann sagte, er hatte in diesem Moment das Gefühl, als ob er für das Nasenbluten verantwortlich sei. Dabei hatte unsere Tochter einfach nur zu heftig gepopelt. Können Sie sich so was vorstellen?“

Ja, dachte Philipp. Ich kann mir so etwas vorstellen. Mehr, als Sie sich vorstellen können. Und irgendwann, irgendwann rede ich vielleicht auch mal darüber, wie ich mich fühle, wenn ich so angeschaut werde, nur jetzt bin ich einfach zu… zu feige… Erst einmal denke ich jedoch darüber nach, wie ich mich Kindern zukünftig gegenüber verhalte, auch wenn es noch so absurd ist, denn habe ich eigentlich etwas falsch gemacht?
 

guenni

Mitglied
Die Bank im Wald - Generalverdacht

Hallo, Charybdis,
endlich komme ich dazu, deine überaus interessante Geschichte zu lesen und darauf zu reagieren. Äußerst bemerkenswert finde ich, wie sensibel du die Geschichte angehst (sehr dicht geschrieben!) Deine Gedanken zwischen der eigentlichen Geschichte finde ich ebenfalls interessant. Die Sache mit der Sitzplatzreservierung im Flieger war mir bis dato nicht bekannt, lässt mich aber ins Grübeln kommen!

Ich selbst war von der Problematik des Umgangs mit Kindern im Grundschulalter 35 Jahre lang betroffen. Zugegeben, mit der Zeit gewöhnt man sich an "schräge Blicke" und "Getuschel", wenn man , wie ich, schon unzählige Male in Jugendherbergen und Schullandheimen unterwegs war. Man gewinnt auch zunehmend einen Vertrauensbonus und somit an Sicherheit im Umgang mit Kindern! Zu Beginn meiner Lehrtätigkeit habe ich mich aber zugegebenerweise in Fortbildungen etc. um so etwas wie Rechtssicherheit bemüht. Ich wollte selbst wissen: Was kann auf mich zukommen? Was darf ich, was darf ich nicht? Wer steht hinter mir?

Fazit: Situationen immer positiv und offen angehen, dann bleibt auch der "rote Kopf" und das schlechte Gewissen weg!
Tolle Geschichte!!!
lg Günter
 

Charybdis

Mitglied
Lieber guenni,

vielen Dank für das Feedback. Diese Geschichte basiert tatsächlich auf einer mir berichteten wahren Begebenheit. Auch sämtliche Überlegungen und Erlebnisse meines Protagonisten sind nicht einfach aus den Fingern gesaugt (gesogen?), sondern basieren wiederum auf wahren Begebenheiten. Dabei muss gesagt werden, dass ich aber viele Einzelerlebnisse verschiedener Personen in meiner Erzählung auf einen Hauptcharakter verdichtet habe.

Interessant ist übrigens auch die nähere Beschäftigung mit den Frauen. Es existiert ein zweiter Teil dieser Geschichte, nämlich eben die Sicht der Frauen. Und diese Sicht zeigt, dass die Frauen (wie der Mann auch) ganz normale Menschen sind. Sie sind nicht hysterisch oder paranoid, doch sie sehen eben etwas, was sie vollkommen falsch interpretieren. Und so kann es zu Missverständnissen führen. (auch die dort geschilderten Detailereignisse sind wiederum nicht ausgedacht, sondern Erlebnisse verschiedenster Personen).

Wichtig für unsere Gesellschaft ist also in meinen Augen der Mittelweg: Nicht wegschauen, sondern eingreifen, wo es etwas zum Eingreifen gibt. Nur wenn man eingreift und sich nicht sicher ist, was da eigentlich gerade geschieht, dann sollte man sich auch artikulieren können.

Warum diese beiden Frauen schweigen? Dazu gibt es übrigens einen ganz einfachen und simplen Grund.

Ich werde diesen zweiten Teil nicht hier veröffentlichen, aber jeder, der ihn kennenlernen möchte, kann sich gerne an mich per interner Nachricht wenden. Ich antworte gerne. :)
 



 
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