Die Besucherin

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Mira

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Die Besucherin


Lea hatte sich in das Klinikum der Verwahrungsanstalt für Schwerverbrecher eingeschlichen. Nie im Leben hätte sie gedacht, da rein zu kommen, aber es war, als wäre sie unsichtbar. Lea ging einfach, weil sie gehen musste.
Schon seit Tagen schlich sie um das Gebäude, bis ihre Beine sie durch eine plötzlich offene Tür trugen. Der Pförtner machte sich an einer verklemmten Schreibtischschublade zu schaffen und blickte nicht auf, die Überwachungskamera hatte seit fünf Minuten einen Defekt und sollte in einer Viertelstunde repariert werden. Sie gab sich keine besondere Mühe, unauffällig vor dem Fahrstuhl zu warten. Er kam nicht, also nahm sie die Treppe bis in den dritten Stock, wo sie ihre Suche nach der Kreatur beginnen wollte.
Sie öffnete die Schwingtür, warme Luft raubte ihr den Atem, penetranter Desinfektionsgeruch kratzte an ihren Schleimhäuten und aus staubigen Ecken drang ein Hauch angetrockneten Blutes. Die Absätze ihrer Pumps hämmerten den Boden auf. Das ungewohnte Geräusch weckte bleiche Gestalten aus ihrem Tran, die an vergitterten Fenstern saßen und ihr gierig nachblickten. Auf den Tischen, die an der Wand festgeschraubt waren, verstaubten Plastikblumen.
Sie marschierte strikt in der Mitte, genau über ihr die endlose Schlange der Neonröhren, deren grelles Licht ihre gepflegte Erscheinung krotesk betonte. Hinter ihrem Rücken raunten Stimmen, die ihr gnadenlos nacheilten. Die bleichen Kreaturen reckten die Hälse, obszönes Gekicher stieg in die Luft wie übel riechende Dämpfe. Sie beschleunigte ihren Schritt und kämpfte gegen den Ekel an, der sich in ihr ausbreitete wie eine Krankheit. Ihre Lippen zitterten und Lea fragte sich, ob sie nicht den Verstand verloren hatte, hierher zu kommen. Aber seit dem Mord fraß ein Tier in ihr und vernichtete ihr Inneres. Sie wollte dieses Tier loswerden, deshalb war sie da.
Der Gang war kurz, am Ende wartete wieder eine Schwingtür auf sie. Ein kurz geschorener Mann hockte auf dem Boden. Eine frische Narbe verlief quer über sein Gesicht. Er blickte sie gelangweilt an.
Lea atmete tief durch und fragte nach dem Einbrecher, der im Wohnzimmer ihren Ehemann mit einem Stich ins Herz getötet hatte und hier irgendwo liegen musste, mit einer Stichwunde in der Leber. Sie hatte ihm auf der Flucht in der Diele ein Bein gestellt, wodurch sich das Schwein sein eigenes Messer in den Bauch rammte. Lea wiederholte ihre Frage zweimal, ohne die Antwort abzuwarten.
Der Mann fuhr mit dem Finger über seine Narbe, verzog seine Lippen zu einem breiten Grinsen und nannte ihr eine Zimmernummer. Er fing an zu lachen. Lea bedankte sich.

Sie stand vor Zimmer 218, das sich in einem abgelegenen dunklen Gang befand, in dem die Neonröhren noch nicht brannten. Dumpfe Geräusche drangen in den Gang: Stimmen von Verbrecher, die hier aufgepäppelt wurden, um sie wieder einzusperren. Gelächter, das Geklapper von Holzschuhen und Türknallen vermischten sich zu Lärm. Über all dem lag schwach ein verzweifeltes Stöhnen und in einem der darüber liegenden Stockwerke erbrach sich jemand nach einer Hustenattacke.
In Zimmer 218 lag eine Kreatur, die nicht gesunden wollte. Die Zeitungen schrieben davon. Leas Nachbarn glaubten, dass das Schwein die lebenslange Haft scheute. Haben Mörder ein Gewissen? Was unterschied diese Kreatur von den anderen, die sie mit den Augen auszogen, ihr Parfüm gierig aus der Luft sogen, als wäre sie eine läufige Hündin? Sie fühlte sich plötzlich schmutzig. Auf ihren Händen breitete sich eine schmierige Schicht aus, die auch auf dem Boden, den Türklinken und den Plastikblumen klebte. Selbst die Luft, die sie atmete wurde dadurch schwer. Sie drang in ihre Lungen und vergiftete ihr Blut. Das Tier, das sie auffraß, wachte auf. Es hatte in dieser Umgebung großen Appetit bekommen. Sie kramte aus ihrer Handtasche ein Feuchttuch heraus und wischte sich die Hände ab, was nicht viel half. Ihr Herz klopfte bis an den Hals. Sie dachte an die Augen des Mörders, die sie unentwegt angestarrt hatten, als er in sein eigenes Messer gefallen war. Er schrie wie Schlachtvieh und beschimpfte sie. Gleichzeitig flehte er um Hilfe, während im Wohnzimmer ihr Mann verblutete. In seinem Bauch steckte sein Messer, er zog es raus. Es rutschte ihr vor die Füße, während sie die Polizei benachrichtigte.
Aus Zimmer 218 drang kein Laut, nicht mal das angestrengte Atmen eines Schlafenden. Lea wünschte, die Kreatur würde vor Schmerzen aufstöhnen, damit es ihr leichter fiele, die Türklinke niederzudrücken. Sie wünschte sich ein bisschen Mitleid mit dem, was hinter der Tür lag, damit sie spürte, dass das wühlende Tier sie noch nicht gefressen hatte.
Draußen öffnete sich der Nachmittagshimmel und die Sonne blitzte für einen Moment durch das vergitterte Fenster, das einen lang gezogenen Schatten auf die weißen Wände warf. Sie sehnte sich plötzlich nach frischer Luft. Aber jetzt stand sie vor Zimmer 218, sie hatte sich durch obszöne Blicke gekämpft, um der Kreatur gegenüber zu stehen, die ihr Leben zerstört hatte. Entschlossen umfasste sie die Türklinke.

Sofort schlug ihr abgestandene Luft entgegen. Der Raum war klein, vollkommen kahl und vor dem übergroßen Fenster stand ein Bett, in dem ein magerer Körper lag. Die schwarzen Gitter vor dem Fenster warfen lange Schatten, die wie ein Netz den ganzen Raum durchzogen. Der Brustkorb der Kreatur hob und senkte sich gleichmäßig, über ihr hingen zwei Infusionsflaschen, deren Inhalt über eine Kanüle in der Hand in die Venen floss. Unter der Decke lugte ein Schlauch hervor, der Blut und Eiter aus der Stichwunde in einen Plastikbeutel abführte. Der Beutel war voll und hing schwer von der Bettkante herunter.
Lea erkannte ihn nicht sofort, für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, in einem falschen Zimmer zu sein. Mit geschlossenen Augen, schlafend, hatte sie ihn noch nie gesehen. Der Mund war leicht geöffnet, vertrockneter Speichel klebte am Kinn. Das kurze Haar war fettig und wirkte feucht. Leichte Übelkeit überkam Lea, in ihrem Mund sammelte sich Speichel. Vor seinem Bett stand ein Stuhl, das einzige Möbelstück in diesem Raum. Lea stellte ihn vorsichtig ein Stück vom Bett weg und setzte sich. Sie starrte auf sein gelbes Gesicht und verspürte das dringende Bedürfnis, das Fenster einen Spalt zu öffnen. Aber das war von außen verschweißt, das Glas absolut bruchsicher. Sie rückte den Stuhl noch weiter von ihm weg, als ihr sein Eigengeruch aufdringlich in die Nase stieg. Es hing kein Waschbecken an der Wand, sie spuckte auf den Boden, um den aufsteigenden Brechreiz niederzukämpfen.
„Wach auf!“ Ihre Stimme wurde scheppernd von den Wänden zurückgeworfen.
In den Körper kam Bewegung.
„Wach auf, du Scheißkerl!“
Die Kreatur stöhnte und seine Arme schienen etwas Unsichtbares von sich zu stoßen. Ein Schlauch verhedderte sich in seinen Fingern, die Infusionsflaschen klackten aneinander.
„Du kannst nachher weiterschlafen!“
Die Kreatur öffnete die Augen und zuckte zusammen. Seine Nasenflügel bebten. Lea umklammerte fest die Stuhlkanten, als er sie anstarrte wie ein Schatten aus einem Albtraum. Sein Blick erinnerte Lea an ein verängstigtes Tier, das in einem Kofferraum eingesperrt war. Er atmete angestrengt und beugte sich weit vor, um die Gestalt vor ihm besser sehen zu können. Aus seinem Bett wirbelte sauerer Schweißgeruch auf, der sich sofort mit der Zimmerluft vermengte. Panik ergriff sie, daß die zittrigen Arme seinen schwachen Körper nicht mehr halten konnten und einfach unter ihm wegknickten. Lea würde schreien, würde er aus dem Bett fallen und sich dabei diesen mit Blut und Eiter gefüllten Schlauch aus der Wunde reißen. Plötzlich sackte er in sich zusammen und drehte stöhnend den Kopf von ihr weg.
„Verschwinde!“ Seine Stimme war spröde, sein Kehlkopf verschleimt.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es nicht sehen konnte. Er hustete sich den Schleim aus den Hals, das ganze Bett zitterte.
„Bitte geh!“ Seine Augen wirkten auf einmal hellwach. „Was willst du? Dich bei mir bedanken?“
„Nein, und ich habe dir auch keine Blumen mitgebracht.“
Er drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Seitenlage und umklammerte so gut es ging die Knie.
„Es wäre hier sowieso kein Platz dafür gewesen.“ Seine Augen starrten auf die langen Schatten der Gitterstäbe. „Hier gibt es keine Vasen... zu wenig Besucher.“ Er bemerkte den Schlauch, der sich in seinen Fingern verheddert hatte und entwirrte ihn. Die Vene an seiner Hand, in der die Kanüle steckte, war dick angeschwollen, er konnte die Finger nicht mehr bewegen.
„Das tut verdammt weh, aber das muss sein, da mein Bauch aufgeschlitzt ist, ich darf nichts essen. Wenn ich schlafe spüre ich nichts. Du hast mich geweckt, aber du bist die Erste, die mich besuchen kommt.“
„Ich komme dich nicht besuchen!“ Lea wollte ihn anschreien, aber ihre Stimme brach in sich zusammen.
„Ah, nein? Du kommst mich nicht besuchen, bringst mir keine Blumen mit... willst mich anglotzen und dich vergewissern, ob’s mir ja dreckig geht? Wie wär’s, wenn du mir mit diesen verdammten Schläuchen den Hals zuschnürst? Würd keiner merken, ich wär froh drum und du könntest deinem Mann auf dem Friedhof erzählen, dass er einen neuen Nachbar hat.“
Leas Hände verkrallten sich in den Stoff ihres Kostüms, ihre Mundwinkel zuckten. Sie konnte nicht verhindern, dass sie weinte. Tränen lösten ihr Make-up auf. Schwarze Kajalbäche flossen ihr in den Mund, sie schmeckten bitter und nach Fett.
„Ich bin ein ziemlicher Scheißkerl, was? Eigentlich müsste dein Mann statt meiner im Krankenbett liegen. Den könntest du dann besuchen, ihm richtige Blumen mitbringen oder was zu lesen, weil er vielleicht keine Blumen mag. Blumen welken irgendwann, sie sterben. Das ist für einen Kranken nicht so schön. Ich bin wirklich ein Scheißkerl!“ Er schaute ihr zu, wie sie das verlaufene Make-up verzweifelt versuchte, von der Haut zu wischen. Ihre dunklen Haare verfingen sich im Gesicht, bedeckten den Mund, ihre Nase. Sie fuhr mit der Hand über die Wange, Rotz klebte auf der Haut wie Leim. Sie weinte lautlos, schluchzte wie in einem Stummfilm. Nur die zierliche Lederhandtasche, die ihr von der Schulter rutschte, fiel klatschend auf den Boden.
„Du weinst viel, was? Du bist ganz verschmiert. Wahrscheinlich siehst du den ganzen Tag so aus. Ich an deiner Stelle würde mich eine Weile nicht schminken. Ich weine nicht. Meine Tränen hängen in diesen Infusionsflaschen da. Sie versuchen sie in mich reinzupressen, deshalb ist auch ständig die verdammte Vene kaputt, weil ich keine Tränen will. Jedes Mal stechen sie eine andere an.“ Er betrachtete seine Hand, auf der sich ein blau angelaufener Ballon wölbte.
„Es tut weh, weißt du und ich habe eigentlich keine Lust mehr auf das verdammte Theater.“ Ruckartig riss er sich die Kanüle aus der Hand. Die Haut zerplatzte und aus dem prallen Ballon quoll dunkles Blut. Es spritzte auf den Boden und besudelte das weiße Kliniklaken, als hätte er rote Rosen auf dem Bett, die schlagartig erblühten.
„Das blutet ganz schön, was?“ Er grinste und blickte sie an wie ein Kind, das nichts von dem begriff, was es angestellt hatte.
Lea wurde schwindelig, sie presste beide Füße fest auf den Boden und starrte auf die blutende Kreatur. Im Raum breitete sich ein schwerer Geruch aus. Auf Leas Zunge legte sich ein fleischiger Geschmack, der sich nicht runterschlucken ließ. Mechanisch tasteten ihre Hände nach der Handtasche und suchten ein Taschentuch, von denen keines mehr da war. Gewaltsam stülpte sie die Tasche um. Klirrend fielen Schlüsselbund und Portemonnaie auf den kalten Linoleumboden. Ihr Lippenstift rollte in die Blutlache. Leas Hände zitterten, so hatten sie noch nie gezittert, nicht einmal, als der Notarzt die Leiche ihres Mannes mit einem weißen Tuch zugedeckt hatte. Es hatte sich sofort mit geronnenem Blut voll gesaugt. Sie stand dabei und sah zu. Etwas begann sie aufzufressen.
Sie schlug ihm die Tasche ins Gesicht, es klatschte wie eine Ohrfeige auf nasser Haut. Er zuckte wie ein Tier zusammen. Der Stuhl hinter ihr flog krachend um, als sie aufsprang und mit aller Kraft die blutende Hand ins Laken presste. Seine gesunde Hand verkrallte sich sofort in ihrem Haar und riss ihren Kopf nach hinten. Er fletschte die Zähne und schnappte wie ein Hund nach ihrer Haut. Leas Kraft war tierisch. Eiserne Hände, deren Haut sich weiß um die Sehnen spannte, drückten dem fauligen Ballon das Blut ab. Sie zwang die Hand unter den ausgemerkelten Körper, aus dem genau dasselbe floss wie vor drei Wochen aus dem Körper ihres Mannes, lauwarm, dunkelrot mit einem fleischigen Geruch.
Leas Mann verblutete, sie stand da und schrie. Später saugte das Leichentuch die Sauerei auf, als wäre es nichts anderes als verschütteter Orangensaft gewesen. Das verstand sie nicht, diese Banalität konnte ihr Verstand nicht fassen.
Wut brannte auf wie eine Stichflamme. Sie schrie, ihre Augen quollen aus den Höhlen, das war nicht mehr sie. Er riss ihr ein Haarbüschel aus, es ratschte an ihrem Ohr, aber der Schmerz wollte nicht kommen. Sie kniete sich auf seinen Körper, unter dessen Rücken die aufgerissene Hand klemmte. Gewaltsam drückte sie die gesunde Hand auf seinen Hals. Der Körper unter ihr wand sich. Er schlug wild mit dem Kopf hin und her, wobei ihm die Haare in den Mund gerieten, die er verzweifelt auszuspucken versuchte. Es gelang ihm nicht, er fing an zu heulen. Fasziniert beobachtete sie seine Tränen, die feuchte Flecken auf dem Kissen bildeten. Lea presste mit dem gesamten Gewicht ihres Oberkörpers seinen Arm auf seine Kehle. Er röchelte und konnte nicht mehr atmen, sein Gesicht verwandelte sich in eine verzerrte Maske aus Angst. In Lea erwachte eine bestialische Freude, die sie überschwemmte wie ein warmer Fluss und sie in die dunkle Tiefe zog. Sie setzte dem Sog keinen Widerstand entgegen. Um sie herum wurde es schwarz, das Wasser verschluckte die Oberfläche, die Sonne, den fleischigen Geruch. Sie schmeckte das Tier in sich, es wurde zum ersten Mal greifbar. Sie beobachtete, wie es an ihr fraß. Es wühlte sich durch den fauligen Flussgrund, den es immer weiter durchlöcherte, bis alles nur noch verdauter Abfall sein würde. Dann würde es weiter kriechen, den tiefen Fluss entlang, geduldig, da es Nahrung in Hülle und Fülle gab. Es würde wachsen und hinter sich eine tote Brühe zurücklassen, durch die kein Sonnenstrahl mehr dringen würde. Der warme Sog schwemmte sie an das Tier heran. Ihre Augen saugten es auf, als könnten sie das Tier verflüssigen und trinken. Es bewegte sich ohne Beine, ohne jegliche Kraft, es bohrte sich in den Boden, als würde es darin schwimmen, als wäre es Luft. Etwas stieß sie in den Rücken und trieb sie auf das Tier zu. Lea berührte flüchtig seinen Rücken, es war kalt, viel kälter als das dunkle Wasser, es war nicht greifbar und trotzdem eiskalt. Sie wartete auf den Hass, sie wusste, dass es dieses Gefühl gab. Sie wollte dieses wurmartige Ding hassen, damit sie es zerstören konnte. Leas Verstand durchwühlte ihr Gehirn, wollte das vergessene Gefühl wieder finden, aber die Erinnerung daran war verloren. Sie wollte das Tier umklammern bis sich der Hass einstellte, damit sie es zerdrücken konnte. Aber eine unsichtbare Kraft zerrte an ihr und schwemmte sie weg. Das Tier hielt im Fressen inne und richtete das, was sein Kopf sein soll, hoch auf und blickte Leas davontreibendem Körper nach. Es besaß keine Augen, trotzdem traf Lea ein Blick, der aus dem Lächeln ihres Mannes bestand, aus ihrem sonnendurchfluteten Haus an einem Sonntagmorgen, aus Liebe und deren Wärme. Die unsichtbare Kraft trieb sie immer schneller von dem Tier weg, das alles mit sich nahm, was einst ihr gehört hatte. Es hatte ihre Gefühle gefressen und verwandelte sie ungestört in Faulschlamm. Das Tier war der Hass, Leas Hass, den sie nie erreichen konnte, den sie nicht zerstören konnte. Er hatte sich verselbstständigt und begonnen, wertvolle Substanz zu fressen. Er wollte wachsen.
Das warme Wasser, von dem sie sich gerne hatte treiben lassen, war plötzlich luftleer. Panik ergriff sie. Etwas wollte Lea in der Tiefe den Brustkorb zusammenpressen. Sie strebte nach oben. Die dunkle Brühe verdichtete sich und erstarrte. Der Sog zog sie fort, unter ihr war ein undurchdringliches Nichts, in dem der Hass wohnte.

Sie löste ihren harten Griff. Der Körper unter ihr füllte sich pfeifend mit Luft. Seine Augen waren feucht, die Haut mit feinen Schweißperlen bedeckt. Lea schmeckte seine Angst, die er ausatmete. Sein Gesicht war zerstört, es war nicht mehr seines. Die bestialische Freude, die sie wie eine Stichflamme entzündet hatte, war verbrannt.
Der Körper unter ihr wurde weich. Leas Knie sanken in der Bauchhöhle ein. Er ächzte unter der Last. Sie löste sich von ihm und glitt runter. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Hände, die Handflächen brannten. Ihre Knie vermochten kaum Leas erschöpften Körper zu tragen. Noch nie hatte ein Augenblick, eine Minute vielleicht, Leas gesamte Energie bis zur Erschöpfung verbraucht. Ihr Herz pochte wild, sie atmete heftig, als hätten sie die Gestalten draußen durch die Gänge gejagt. Sie schwankte zum Stuhl. Ihre Schuhe aus feinem Wildleder waren mit Blut verschmiert, die Sohlen klebten bei jedem Schritt auf dem Boden und hinterließen eine rötliche Spur. Sie bemerkte nicht, wie auf ihrer Strumpfhose gespritztes Blut trocknete. Leas enger Rock war hinten drei fingerbreit eingerisssen. Sie setzte sich, legte die Hände auf die Knie und drückte sie zusammen. Die rechte Schläfe brannte, ein paar ausgerissene Haare klebten ihr an den Lippen.
„Ich kann kein Blut sehen.“ Sie wischte sich die Haare von den Lippen und schmierte sie auf ihren Rock. Ihre Stimme klang erstaunlich fest. „Das war Absicht. Du wolltest, dass ich dein Blut sehe, du Schwein!“

Die Kreatur wand die Hand unter dem Rücken hervor. Er drückte beide Hände gegen die Brust, als könnte das die Schmerzen lindern. Der blaue Ballon war geplatzt, aber die zerrissene Vene blutete nicht mehr. Auf der bleichen Haut glänzte ein entzündetes Loch, ein beachtliches Stück Haut fehlte. Die Infusionsflaschen hingen nutzlos über ihm, sie schwankten nicht mehr, ihr Inhalt tropfte gleichmäßig auf den Boden und vermengte sich mit der Blutlache, die so nicht trocknen konnte. Er rollte sich wie ein Embryo mit vor der Brust überkreuzten Armen ein. Die Kreatur weinte wie ein Kind. Er glitt mit seiner Zunge an den Unterarmen entlang und würgte ein Haarknäuel aus seinem Rachen. Auf seiner gesunden Hand leuchtete rot der Abdruck ihrer Finger.
Die Sonne schien immer noch durch das überdimensionierte Fenster. Der Schatten der Gitterstäbe erinnerte sie an ihren Klumpen im Magen und daran, dass hier das Waschbecken fehlte. Lea starrte an die hohe Decke und hörte seinem Weinen zu.
Sie hatte am Todestag ihres Mannes die ganze Nacht durchgeweint. Im Wohnzimmer wurden die Umrisse der Leiche mit Kreide auf dem Teppichboden nachgezeichnet. Jemandem fiel da, wo die Leiche gelegen hatte, eine Zigarettenkippe auf den Boden, die ein Loch in den Teppich brannte. Sie entschuldigten sich. In der Diele wischten sie das Blut des Einbrechers auf. Jemand war bei ihr, ein Nachbar, irgendwann kam eine Freundin. Sie blieb die ganze Nacht und hielt Leas Hand. Sie umarmten sich und weinten beide.
Die Kreatur hatte kein Recht auf Tränen, kein Recht sich einzurollen wie ein Embryo.

Er beruhigte sich. Lea bemerkte, dass er fror, er kugelte sich ein und zitterte. Seine Augen waren rot und wirkten krank. Er starrte auf ihre blutverspritzte Strumpfhose.
„Bist du jetzt zufrieden oder versuchst du es morgen nochmal?“ Seine Stimme war leise, eine andere als vorher, Lea verstand ihn kaum.
„Kannst ja die dreckige Strumpfhose im Grab verbuddeln... ist mein Blut dran...und deinem Mann sagen, dass du dich gerächt hast.“
Lea erhob sich und rückte den Stuhl an sein Bett ran. Er drückte sich wie eine verängstigte Katze an die Wand und hob abwehrend die Arme.
„Hau ab! Haben die dich mit Absicht zu mir reingelassen, damit du mich kalt machst? Was willst du noch hier? Du hast mir guten Tag gesagt und Gott sei Dank geht es mir dreckig, was erwartest du von mir?“
Lea zuckte mit den Schultern. Unter ihr klebten die Schuhe am Boden, als hätte jemand heimlich Leim draufgeschmiert.
„Dir hat unsere teuere Wohnzimmereinrichtung gefallen. Du hast uns wochenlang beobachtet. Zufälligerweise waren wir fast Nachbarn. Wir waren reich und du arm. Jetzt landest du im Knast oder krepierst in diesem Bett und ich kann meinen Reichtum nicht mehr genießen. Jetzt bringt er keinem von uns mehr etwas. Unsere Leben sind zerstört. Das hast du prima hingekriegt, ich danke dir!“
„Willst du von mir hören, dass es mir leid tut? Erträgst du es, wenn ich dir sage, dass ich mich verachte, glaubst du’s, ist dir das nicht zu billig? Du kannst mich nicht freisprechen, es ist nicht wie im Beichtstuhl, ja, ich habe gesündigt, ich habe jemanden abgestochen, Gott-verzeih-mir -es-tut-mir-leid-Amen!“ Er zog sich die Decke übers Kinn. Hinter seinem Kopf entdeckte sie ihre Ledertasche, die in der Rille zwischen Wand und Bett zu verschwinden drohte.
„Ich bin nicht Gott. Du kommst in den Knast und wirst bestraft, denkst du, dass mir das mein altes Leben zurückgibt? Ich fühle mich bestraft für etwas und ich weiß nicht wofür. Für den jämmerlichen Rest meines Lebens. Das ist ungerecht!“
„Sollen wir tauschen?“
„Ich wünschte, ich könnte dir das nehmen, war du mir genommen hast, Scheißkerl! Dafür würde ich gerne für dich in den Knast gehen.“
„Das kannst du nicht, nicht einmal wenn du mich umbringst.“
„Deshalb habe ich es auch sein lassen.“ Lea spuckte ihm ins Gesicht.
Er verschmierte den Speichel auf seiner Haut als wäre er Wasser. Unter seinen Fingernägeln klebte eine schmutzige Kruste, sie dachte an das verschmierte Make-up in ihrem Gesicht. Seine Lippen zuckten, er verzog sie zu einem verzerrten Grinsen.
Vor ihm baumelten die Infusionsschläuche. Er schnappte danach und riss sie runter. Die Infusionsflaschen zerplatzten auf dem Boden, die Scherben verstreuten sich sternförmig. Leas Füße wurden nass, die Kälte brannte auf der Haut. Sie konnte nicht schreien, ihr Hals war eine zugepfropfte Flasche. Er packte sie am Handgelenk, der süßlich-fleischige Geruch des entzündeten Lochs stieg ihr in die Nase.
„Eines verspreche ich dir...Ich lasse mir nie mehr dieses Zeug in die Adern laufen. Die sollen die Sauerei hier wegputzen, und ich werde mich einfach auf den Rücken legen und schlafen. Wenn ich krepiere ist es mir egal. Pervers, einen Mörder aufzupäppeln. Das denkst du, das denkt die Krankenschwester und die Putzfrau, die mir am liebsten Abflussreiniger zu trinken geben würde. Das Schlimmste ist, dass ich das auch denke: es ist pervers, einen Mörder aufzupäppeln. Es gibt kein Teil in mir, der das nicht denkt, nichts, was mich jemals freisprechen könnte.“ Lea entwand ihm das Handgelenk und rieb es an ihrem Rock ab.
„Es hat dich keiner gezwungen, ein Mörder zu werden.“
„Was ist schon ein Mörder? Ein Mensch ohne Mitleid, Liebe und das alles...“ Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
„Ich habe alle diese Gefühle, ob du es glaubst oder nicht und trotzdem gehöre ich jetzt zum Abschaum. Abschaum hat keine Gefühle und deshalb sind meine nicht mehr echt. Ich nehme sie nicht mehr ernst. Ich spreche mir das Recht ab, lieben zu können und es ist in Ordnung, dass die mich in diesen hässlichen Raum abgeschoben haben. Manchmal schaffe ich es nicht rechtzeitig aufs Klo, die Schwestern lassen mich schmoren, sie haben es nicht eilig. Es ist mir egal, ich bin ein Mörder.“ Lea wartete darauf, dass er noch was sagte, aber er schwieg und fing an zu weinen.

Im Raum wurde es düster. Die Sonne hatte gedreht, irgendwo war Westen, dort färbte sich der Himmel rot. Die langen Schatten der Gitterstäbe waren verschwunden, durch das große Fenster drang Kälte. Leas Haut fühlte sich feucht und klebrig an. Ihre Strumpfhose hatte eine Laufmasche, die aufspritzende Infusionsflüssigkeit hatte scharfe Glassplitter auf ihren Beinen verteilt. Sie stand auf, die Scherben knirschten unter ihren Sohlen. Lea stellte den Stuhl an die Wand und ging zur Tür. Das Bett quietschte, er raffte sich hoch, Rotz lief ihm aus der Nase. „Willst du wirklich nicht mit mir tauschen?“
Sie hielt die Türklinke umklammert und drehte sich zu ihm um.
„Ich werde der Schwester sagen, dass sie dich in Ruhe krepieren lassen soll. Sie soll die Schweinerei wegmachen und dir anständig beim Kacken helfen. Ansonsten denke ich, dass wir beide genug bedient sind, was willst du tauschen?“ Sie öffnete die Tür. Auf dem Gang drängte sich ihr sofort der Desinfektionsgeruch auf. Die Neonröhren brannten mittlerweile und blendeten sie. Da fiel ihr die Tasche ein, die hinter seinem Kopf verschwunden war. Lea presste die Lippen zusammen und hätte vor Verzweiflung schreien können. Das Draußen lockte sie, Geschirr klapperte und auf dem Gang war ein Fenster mit Blick auf die Stadt. Der Schlüssel lag auf dem Boden, weit weg von seinem Bett, in der Mitte des Raumes. Zumindest den musste sie sich holen. Sie trat erneut in Zimmer 218, leise, als würde sie ihn beim Schlafen stören und bückte sich nach dem Schlüssel.
„Dein Lippenstift liegt im Dreck und trocknet an... und hier ist deine Tasche.“ Er hielt ihr die Handtasche entgegen. Sie baumelte an seinem Arm, als wäre sie tonnenschwer und wollte auf dem Boden zerplatzen. Seine Stimme zitterte, sie war leise und erschöpft. Er lächelte sie an, als wäre sie eine liebe Besucherin. Leas Magen krampfte sich zusammen. Sie stolperte aus dem Zimmer und stieß sich den Kopf an der Türe. Er hielt ihr immer noch die Tasche entgegen. Unter den grellen Neonstrahlen erbrach sie sich, mitten auf den Gang. Vor ihr war eine weiße Wand, an der sie sich abstützte. Ihre Hände hinterließen verräterische graue Flecken. Lea streifte sich die Schuhe ab und ließ sie stehen.

Lea schlich sich raus, genau so einfach wie sie rein gekommen war und verschmolz mit der Dunkelheit in der kümmerlichen Parkanlage. Aus den beleuchteten Gitterfenstern drangen aufgeregte Stimmen zu ihr. Es gärte, es wurden noch mehr Neonröhren angeschaltet, jemand schrie.
Lea glaubte ihre eigenen Schritten in den Gängen rauszuhören, das harte Hämmern ihrer Absätze, das durch das ganze Gebäude drang. Die Kreaturen amüsierten sich, die Routine war durcheinander geraten, das Abendessen würde Verspätung haben. Sie sah sich diesen riesigen Ameisenhaufen aus dem Schatten an, dessen Maschinerie in Gang gekommen war. Die Luft war klar und frisch. Ihr Herz schlug ruhig, sie atmete die kalte Luft. Sie löste sich aus dem Schatten und erreichte einen schmalen Kiesweg, den sie ungesehen entlangging. Auf den Straßen blendeten sie die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos, Passanten blickten ihr verwundert nach, aber das bemerkte sie nicht. Lea wollte heim, obwohl sie wusste, dass es ein Zuhause nicht mehr gab.
 

Mira

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Eines vorweg:
Das Thema mag vielleicht nicht jedermanns Sache sein. Ich habe die Geschichte geschrieben, als ich gerade Mutter geworden bin und ein Fall von Kindesmissbrauch mit Todesfolge durch die Medien ging. Das hat mich wahnsinnig belastet. Es wurde diskutiert und ein Vater interviewt, der auf die selbe entsetzliche Art und Weise sein Kind verloren hatte. Er sagte, wenn er könnte, würde er den Kerl umbringen, denn wer so etwas tut, hätte sein Menschsein verwirkt. Das raubte mir den Schlaf, denn ich kam zu dem Schluss, dass, selbst wenn der Mörder dem Hass von Angehörigen ausgesetzt wäre, es außer Rache niemals eine Erlösung gäbe.
Die Geschichte ist schon etwas älter. Ich habe sie in meinem Fundus entdeckt und überarbeitet. Sie hinterlässt nicht gerade ein gutes Gefühl, dennoch finde ich sie lesenswert.




Die Besucherin


Lea hatte sich in das Klinikum der Verwahrungsanstalt für Schwerverbrecher eingeschlichen. Nie im Leben hätte sie gedacht, da rein zu kommen, aber es war, als wäre sie unsichtbar. Lea ging einfach, weil sie gehen musste.
Schon seit Tagen schlich sie um das Gebäude, bis ihre Beine sie durch eine plötzlich offene Tür trugen. Der Pförtner machte sich an einer verklemmten Schreibtischschublade zu schaffen und blickte nicht auf, die Überwachungskamera hatte seit fünf Minuten einen Defekt und sollte in einer Viertelstunde repariert werden. Sie gab sich keine besondere Mühe, unauffällig vor dem Fahrstuhl zu warten. Er kam nicht, also nahm sie die Treppe bis in den dritten Stock, wo sie ihre Suche nach der Kreatur beginnen wollte.
Sie öffnete die Schwingtür, warme Luft raubte ihr den Atem, penetranter Desinfektionsgeruch kratzte an ihren Schleimhäuten und aus staubigen Ecken drang ein Hauch angetrockneten Blutes. Die Absätze ihrer Pumps hämmerten den Boden auf. Das ungewohnte Geräusch weckte bleiche Gestalten aus ihrem Tran, die an vergitterten Fenstern saßen und ihr gierig nachblickten. Auf den Tischen, die an der Wand festgeschraubt waren, verstaubten Plastikblumen.
Sie marschierte strikt in der Mitte, genau über ihr die endlose Schlange der Neonröhren, deren grelles Licht ihre gepflegte Erscheinung krotesk betonte. Hinter ihrem Rücken raunten Stimmen, die ihr gnadenlos nacheilten. Die bleichen Kreaturen reckten die Hälse, obszönes Gekicher stieg in die Luft wie übel riechende Dämpfe. Sie beschleunigte ihren Schritt und kämpfte gegen den Ekel an, der sich in ihr ausbreitete wie eine Krankheit. Ihre Lippen zitterten und Lea fragte sich, ob sie nicht den Verstand verloren hatte, hierher zu kommen. Aber seit dem Mord fraß ein Tier in ihr und vernichtete ihr Inneres. Sie wollte dieses Tier loswerden, deshalb war sie da.
Der Gang war kurz, am Ende wartete wieder eine Schwingtür auf sie. Ein kurz geschorener Mann hockte auf dem Boden. Eine frische Narbe verlief quer über sein Gesicht. Er blickte sie gelangweilt an.
Lea atmete tief durch und fragte nach dem Einbrecher, der im Wohnzimmer ihren Ehemann mit einem Stich ins Herz getötet hatte und hier irgendwo liegen musste, mit einer Stichwunde in der Leber. Sie hatte ihm auf der Flucht in der Diele ein Bein gestellt, wodurch sich das Schwein sein eigenes Messer in den Bauch rammte. Lea wiederholte ihre Frage zweimal, ohne die Antwort abzuwarten.
Der Mann fuhr mit dem Finger über seine Narbe, verzog seine Lippen zu einem breiten Grinsen und nannte ihr eine Zimmernummer. Er fing an zu lachen. Lea bedankte sich.

Sie stand vor Zimmer 218, das sich in einem abgelegenen dunklen Gang befand, in dem die Neonröhren noch nicht brannten. Dumpfe Geräusche drangen in den Gang: Stimmen von Verbrecher, die hier aufgepäppelt wurden, um sie wieder einzusperren. Gelächter, das Geklapper von Holzschuhen und Türknallen vermischten sich zu Lärm. Über all dem lag schwach ein verzweifeltes Stöhnen und in einem der darüber liegenden Stockwerke erbrach sich jemand nach einer Hustenattacke.
In Zimmer 218 lag eine Kreatur, die nicht gesunden wollte. Die Zeitungen schrieben davon. Leas Nachbarn glaubten, dass das Schwein die lebenslange Haft scheute. Haben Mörder ein Gewissen? Was unterschied diese Kreatur von den anderen, die sie mit den Augen auszogen, ihr Parfüm gierig aus der Luft sogen, als wäre sie eine läufige Hündin? Sie fühlte sich plötzlich schmutzig. Auf ihren Händen breitete sich eine schmierige Schicht aus, die auch auf dem Boden, den Türklinken und den Plastikblumen klebte. Selbst die Luft, die sie atmete wurde dadurch schwer. Sie drang in ihre Lungen und vergiftete ihr Blut. Das Tier, das sie auffraß, wachte auf. Es hatte in dieser Umgebung großen Appetit bekommen. Sie kramte aus ihrer Handtasche ein Feuchttuch heraus und wischte sich die Hände ab, was nicht viel half. Ihr Herz klopfte bis an den Hals. Sie dachte an die Augen des Mörders, die sie unentwegt angestarrt hatten, als er in sein eigenes Messer gefallen war. Er schrie wie Schlachtvieh und beschimpfte sie. Gleichzeitig flehte er um Hilfe, während im Wohnzimmer ihr Mann verblutete. In seinem Bauch steckte sein Messer, er zog es raus. Es rutschte ihr vor die Füße, während sie die Polizei benachrichtigte.
Aus Zimmer 218 drang kein Laut, nicht mal das angestrengte Atmen eines Schlafenden. Lea wünschte, die Kreatur würde vor Schmerzen aufstöhnen, damit es ihr leichter fiele, die Türklinke niederzudrücken. Sie wünschte sich ein bisschen Mitleid mit dem, was hinter der Tür lag, damit sie spürte, dass das wühlende Tier sie noch nicht gefressen hatte.
Draußen öffnete sich der Nachmittagshimmel und die Sonne blitzte für einen Moment durch das vergitterte Fenster, das einen lang gezogenen Schatten auf die weißen Wände warf. Sie sehnte sich plötzlich nach frischer Luft. Aber jetzt stand sie vor Zimmer 218, sie hatte sich durch obszöne Blicke gekämpft, um der Kreatur gegenüber zu stehen, die ihr Leben zerstört hatte. Entschlossen umfasste sie die Türklinke.

Sofort schlug ihr abgestandene Luft entgegen. Der Raum war klein, vollkommen kahl und vor dem übergroßen Fenster stand ein Bett, in dem ein magerer Körper lag. Die schwarzen Gitter vor dem Fenster warfen lange Schatten, die wie ein Netz den ganzen Raum durchzogen. Der Brustkorb der Kreatur hob und senkte sich gleichmäßig, über ihr hingen zwei Infusionsflaschen, deren Inhalt über eine Kanüle in der Hand in die Venen floss. Unter der Decke lugte ein Schlauch hervor, der Blut und Eiter aus der Stichwunde in einen Plastikbeutel abführte. Der Beutel war voll und hing schwer von der Bettkante herunter.
Lea erkannte ihn nicht sofort, für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, in einem falschen Zimmer zu sein. Mit geschlossenen Augen, schlafend, hatte sie ihn noch nie gesehen. Der Mund war leicht geöffnet, vertrockneter Speichel klebte am Kinn. Das kurze Haar war fettig und wirkte feucht. Leichte Übelkeit überkam Lea, in ihrem Mund sammelte sich Speichel. Vor seinem Bett stand ein Stuhl, das einzige Möbelstück in diesem Raum. Lea stellte ihn vorsichtig ein Stück vom Bett weg und setzte sich. Sie starrte auf sein gelbes Gesicht und verspürte das dringende Bedürfnis, das Fenster einen Spalt zu öffnen. Aber das war von außen verschweißt, das Glas absolut bruchsicher. Sie rückte den Stuhl noch weiter von ihm weg, als ihr sein Eigengeruch aufdringlich in die Nase stieg. Es hing kein Waschbecken an der Wand, sie spuckte auf den Boden, um den aufsteigenden Brechreiz niederzukämpfen.
„Wach auf!“ Ihre Stimme wurde scheppernd von den Wänden zurückgeworfen.
In den Körper kam Bewegung.
„Wach auf, du Scheißkerl!“
Die Kreatur stöhnte und seine Arme schienen etwas Unsichtbares von sich zu stoßen. Ein Schlauch verhedderte sich in seinen Fingern, die Infusionsflaschen klackten aneinander.
„Du kannst nachher weiterschlafen!“
Die Kreatur öffnete die Augen und zuckte zusammen. Seine Nasenflügel bebten. Lea umklammerte fest die Stuhlkanten, als er sie anstarrte wie ein Schatten aus einem Albtraum. Sein Blick erinnerte Lea an ein verängstigtes Tier, das in einem Kofferraum eingesperrt war. Er atmete angestrengt und beugte sich weit vor, um die Gestalt vor ihm besser sehen zu können. Aus seinem Bett wirbelte sauerer Schweißgeruch auf, der sich sofort mit der Zimmerluft vermengte. Panik ergriff sie, daß die zittrigen Arme seinen schwachen Körper nicht mehr halten konnten und einfach unter ihm wegknickten. Lea würde schreien, würde er aus dem Bett fallen und sich dabei diesen mit Blut und Eiter gefüllten Schlauch aus der Wunde reißen. Plötzlich sackte er in sich zusammen und drehte stöhnend den Kopf von ihr weg.
„Verschwinde!“ Seine Stimme war spröde, sein Kehlkopf verschleimt.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es nicht sehen konnte. Er hustete sich den Schleim aus den Hals, das ganze Bett zitterte.
„Bitte geh!“ Seine Augen wirkten auf einmal hellwach. „Was willst du? Dich bei mir bedanken?“
„Nein, und ich habe dir auch keine Blumen mitgebracht.“
Er drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Seitenlage und umklammerte so gut es ging die Knie.
„Es wäre hier sowieso kein Platz dafür gewesen.“ Seine Augen starrten auf die langen Schatten der Gitterstäbe. „Hier gibt es keine Vasen... zu wenig Besucher.“ Er bemerkte den Schlauch, der sich in seinen Fingern verheddert hatte und entwirrte ihn. Die Vene an seiner Hand, in der die Kanüle steckte, war dick angeschwollen, er konnte die Finger nicht mehr bewegen.
„Das tut verdammt weh, aber das muss sein, da mein Bauch aufgeschlitzt ist, ich darf nichts essen. Wenn ich schlafe spüre ich nichts. Du hast mich geweckt, aber du bist die Erste, die mich besuchen kommt.“
„Ich komme dich nicht besuchen!“ Lea wollte ihn anschreien, aber ihre Stimme brach in sich zusammen.
„Ah, nein? Du kommst mich nicht besuchen, bringst mir keine Blumen mit... willst mich anglotzen und dich vergewissern, ob’s mir ja dreckig geht? Wie wär’s, wenn du mir mit diesen verdammten Schläuchen den Hals zuschnürst? Würd keiner merken, ich wär froh drum und du könntest deinem Mann auf dem Friedhof erzählen, dass er einen neuen Nachbar hat.“
Leas Hände verkrallten sich in den Stoff ihres Kostüms, ihre Mundwinkel zuckten. Sie konnte nicht verhindern, dass sie weinte. Tränen lösten ihr Make-up auf. Schwarze Kajalbäche flossen ihr in den Mund, sie schmeckten bitter und nach Fett.
„Ich bin ein ziemlicher Scheißkerl, was? Eigentlich müsste dein Mann statt meiner im Krankenbett liegen. Den könntest du dann besuchen, ihm richtige Blumen mitbringen oder was zu lesen, weil er vielleicht keine Blumen mag. Blumen welken irgendwann, sie sterben. Das ist für einen Kranken nicht so schön. Ich bin wirklich ein Scheißkerl!“ Er schaute ihr zu, wie sie das verlaufene Make-up verzweifelt versuchte, von der Haut zu wischen. Ihre dunklen Haare verfingen sich im Gesicht, bedeckten den Mund, ihre Nase. Sie fuhr mit der Hand über die Wange, Rotz klebte auf der Haut wie Leim. Sie weinte lautlos, schluchzte wie in einem Stummfilm. Nur die zierliche Lederhandtasche, die ihr von der Schulter rutschte, fiel klatschend auf den Boden.
„Du weinst viel, was? Du bist ganz verschmiert. Wahrscheinlich siehst du den ganzen Tag so aus. Ich an deiner Stelle würde mich eine Weile nicht schminken. Ich weine nicht. Meine Tränen hängen in diesen Infusionsflaschen da. Sie versuchen sie in mich reinzupressen, deshalb ist auch ständig die verdammte Vene kaputt, weil ich keine Tränen will. Jedes Mal stechen sie eine andere an.“ Er betrachtete seine Hand, auf der sich ein blau angelaufener Ballon wölbte.
„Es tut weh, weißt du und ich habe eigentlich keine Lust mehr auf das verdammte Theater.“ Ruckartig riss er sich die Kanüle aus der Hand. Die Haut zerplatzte und aus dem prallen Ballon quoll dunkles Blut. Es spritzte auf den Boden und besudelte das weiße Kliniklaken, als hätte er rote Rosen auf dem Bett, die schlagartig erblühten.
„Das blutet ganz schön, was?“ Er grinste und blickte sie an wie ein Kind, das nichts von dem begriff, was es angestellt hatte.
Lea wurde schwindelig, sie presste beide Füße fest auf den Boden und starrte auf die blutende Kreatur. Im Raum breitete sich ein schwerer Geruch aus. Auf Leas Zunge legte sich ein fleischiger Geschmack, der sich nicht runterschlucken ließ. Mechanisch tasteten ihre Hände nach der Handtasche und suchten ein Taschentuch, von denen keines mehr da war. Gewaltsam stülpte sie die Tasche um. Klirrend fielen Schlüsselbund und Portemonnaie auf den kalten Linoleumboden. Ihr Lippenstift rollte in die Blutlache. Leas Hände zitterten, so hatten sie noch nie gezittert, nicht einmal, als der Notarzt die Leiche ihres Mannes mit einem weißen Tuch zugedeckt hatte. Es hatte sich sofort mit geronnenem Blut voll gesaugt. Sie stand dabei und sah zu. Etwas begann sie aufzufressen.
Sie schlug ihm die Tasche ins Gesicht, es klatschte wie eine Ohrfeige auf nasser Haut. Er zuckte wie ein Tier zusammen. Der Stuhl hinter ihr flog krachend um, als sie aufsprang und mit aller Kraft die blutende Hand ins Laken presste. Seine gesunde Hand verkrallte sich sofort in ihrem Haar und riss ihren Kopf nach hinten. Er fletschte die Zähne und schnappte wie ein Hund nach ihrer Haut. Leas Kraft war tierisch. Eiserne Hände, deren Haut sich weiß um die Sehnen spannte, drückten dem fauligen Ballon das Blut ab. Sie zwang die Hand unter den ausgemerkelten Körper, aus dem genau dasselbe floss wie vor drei Wochen aus dem Körper ihres Mannes, lauwarm, dunkelrot mit einem fleischigen Geruch.
Leas Mann verblutete, sie stand da und schrie. Später saugte das Leichentuch die Sauerei auf, als wäre es nichts anderes als verschütteter Orangensaft gewesen. Das verstand sie nicht, diese Banalität konnte ihr Verstand nicht fassen.
Wut brannte auf wie eine Stichflamme. Sie schrie, ihre Augen quollen aus den Höhlen, das war nicht mehr sie. Er riss ihr ein Haarbüschel aus, es ratschte an ihrem Ohr, aber der Schmerz wollte nicht kommen. Sie kniete sich auf seinen Körper, unter dessen Rücken die aufgerissene Hand klemmte. Gewaltsam drückte sie die gesunde Hand auf seinen Hals. Der Körper unter ihr wand sich. Er schlug wild mit dem Kopf hin und her, wobei ihm die Haare in den Mund gerieten, die er verzweifelt auszuspucken versuchte. Es gelang ihm nicht, er fing an zu heulen. Fasziniert beobachtete sie seine Tränen, die feuchte Flecken auf dem Kissen bildeten. Lea presste mit dem gesamten Gewicht ihres Oberkörpers seinen Arm auf seine Kehle. Er röchelte und konnte nicht mehr atmen, sein Gesicht verwandelte sich in eine verzerrte Maske aus Angst. In Lea erwachte eine bestialische Freude, die sie überschwemmte wie ein warmer Fluss und sie in die dunkle Tiefe zog. Sie setzte dem Sog keinen Widerstand entgegen. Um sie herum wurde es schwarz, das Wasser verschluckte die Oberfläche, die Sonne, den fleischigen Geruch. Sie schmeckte das Tier in sich, es wurde zum ersten Mal greifbar. Sie beobachtete, wie es an ihr fraß. Es wühlte sich durch den fauligen Flussgrund, den es immer weiter durchlöcherte, bis alles nur noch verdauter Abfall sein würde. Dann würde es weiter kriechen, den tiefen Fluss entlang, geduldig, da es Nahrung in Hülle und Fülle gab. Es würde wachsen und hinter sich eine tote Brühe zurücklassen, durch die kein Sonnenstrahl mehr dringen würde. Der warme Sog schwemmte sie an das Tier heran. Ihre Augen saugten es auf, als könnten sie das Tier verflüssigen und trinken. Es bewegte sich ohne Beine, ohne jegliche Kraft, es bohrte sich in den Boden, als würde es darin schwimmen, als wäre es Luft. Etwas stieß sie in den Rücken und trieb sie auf das Tier zu. Lea berührte flüchtig seinen Rücken, es war kalt, viel kälter als das dunkle Wasser, es war nicht greifbar und trotzdem eiskalt. Sie wartete auf den Hass, sie wusste, dass es dieses Gefühl gab. Sie wollte dieses wurmartige Ding hassen, damit sie es zerstören konnte. Leas Verstand durchwühlte ihr Gehirn, wollte das vergessene Gefühl wieder finden, aber die Erinnerung daran war verloren. Sie wollte das Tier umklammern bis sich der Hass einstellte, damit sie es zerdrücken konnte. Aber eine unsichtbare Kraft zerrte an ihr und schwemmte sie weg. Das Tier hielt im Fressen inne und richtete das, was sein Kopf sein soll, hoch auf und blickte Leas davontreibendem Körper nach. Es besaß keine Augen, trotzdem traf Lea ein Blick, der aus dem Lächeln ihres Mannes bestand, aus ihrem sonnendurchfluteten Haus an einem Sonntagmorgen, aus Liebe und deren Wärme. Die unsichtbare Kraft trieb sie immer schneller von dem Tier weg, das alles mit sich nahm, was einst ihr gehört hatte. Es hatte ihre Gefühle gefressen und verwandelte sie ungestört in Faulschlamm. Das Tier war der Hass, Leas Hass, den sie nie erreichen konnte, den sie nicht zerstören konnte. Er hatte sich verselbstständigt und begonnen, wertvolle Substanz zu fressen. Er wollte wachsen.
Das warme Wasser, von dem sie sich gerne hatte treiben lassen, war plötzlich luftleer. Panik ergriff sie. Etwas wollte Lea in der Tiefe den Brustkorb zusammenpressen. Sie strebte nach oben. Die dunkle Brühe verdichtete sich und erstarrte. Der Sog zog sie fort, unter ihr war ein undurchdringliches Nichts, in dem der Hass wohnte.

Sie löste ihren harten Griff. Der Körper unter ihr füllte sich pfeifend mit Luft. Seine Augen waren feucht, die Haut mit feinen Schweißperlen bedeckt. Lea schmeckte seine Angst, die er ausatmete. Sein Gesicht war zerstört, es war nicht mehr seines. Die bestialische Freude, die sie wie eine Stichflamme entzündet hatte, war verbrannt.
Der Körper unter ihr wurde weich. Leas Knie sanken in der Bauchhöhle ein. Er ächzte unter der Last. Sie löste sich von ihm und glitt runter. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Hände, die Handflächen brannten. Ihre Knie vermochten kaum Leas erschöpften Körper zu tragen. Noch nie hatte ein Augenblick, eine Minute vielleicht, Leas gesamte Energie bis zur Erschöpfung verbraucht. Ihr Herz pochte wild, sie atmete heftig, als hätten sie die Gestalten draußen durch die Gänge gejagt. Sie schwankte zum Stuhl. Ihre Schuhe aus feinem Wildleder waren mit Blut verschmiert, die Sohlen klebten bei jedem Schritt auf dem Boden und hinterließen eine rötliche Spur. Sie bemerkte nicht, wie auf ihrer Strumpfhose gespritztes Blut trocknete. Leas enger Rock war hinten drei fingerbreit eingerisssen. Sie setzte sich, legte die Hände auf die Knie und drückte sie zusammen. Die rechte Schläfe brannte, ein paar ausgerissene Haare klebten ihr an den Lippen.
„Ich kann kein Blut sehen.“ Sie wischte sich die Haare von den Lippen und schmierte sie auf ihren Rock. Ihre Stimme klang erstaunlich fest. „Das war Absicht. Du wolltest, dass ich dein Blut sehe, du Schwein!“

Die Kreatur wand die Hand unter dem Rücken hervor. Er drückte beide Hände gegen die Brust, als könnte das die Schmerzen lindern. Der blaue Ballon war geplatzt, aber die zerrissene Vene blutete nicht mehr. Auf der bleichen Haut glänzte ein entzündetes Loch, ein beachtliches Stück Haut fehlte. Die Infusionsflaschen hingen nutzlos über ihm, sie schwankten nicht mehr, ihr Inhalt tropfte gleichmäßig auf den Boden und vermengte sich mit der Blutlache, die so nicht trocknen konnte. Er rollte sich wie ein Embryo mit vor der Brust überkreuzten Armen ein. Die Kreatur weinte wie ein Kind. Er glitt mit seiner Zunge an den Unterarmen entlang und würgte ein Haarknäuel aus seinem Rachen. Auf seiner gesunden Hand leuchtete rot der Abdruck ihrer Finger.
Die Sonne schien immer noch durch das überdimensionierte Fenster. Der Schatten der Gitterstäbe erinnerte sie an ihren Klumpen im Magen und daran, dass hier das Waschbecken fehlte. Lea starrte an die hohe Decke und hörte seinem Weinen zu.
Sie hatte am Todestag ihres Mannes die ganze Nacht durchgeweint. Im Wohnzimmer wurden die Umrisse der Leiche mit Kreide auf dem Teppichboden nachgezeichnet. Jemandem fiel da, wo die Leiche gelegen hatte, eine Zigarettenkippe auf den Boden, die ein Loch in den Teppich brannte. Sie entschuldigten sich. In der Diele wischten sie das Blut des Einbrechers auf. Jemand war bei ihr, ein Nachbar, irgendwann kam eine Freundin. Sie blieb die ganze Nacht und hielt Leas Hand. Sie umarmten sich und weinten beide.
Die Kreatur hatte kein Recht auf Tränen, kein Recht sich einzurollen wie ein Embryo.

Er beruhigte sich. Lea bemerkte, dass er fror, er kugelte sich ein und zitterte. Seine Augen waren rot und wirkten krank. Er starrte auf ihre blutverspritzte Strumpfhose.
„Bist du jetzt zufrieden oder versuchst du es morgen nochmal?“ Seine Stimme war leise, eine andere als vorher, Lea verstand ihn kaum.
„Kannst ja die dreckige Strumpfhose im Grab verbuddeln... ist mein Blut dran...und deinem Mann sagen, dass du dich gerächt hast.“
Lea erhob sich und rückte den Stuhl an sein Bett ran. Er drückte sich wie eine verängstigte Katze an die Wand und hob abwehrend die Arme.
„Hau ab! Haben die dich mit Absicht zu mir reingelassen, damit du mich kalt machst? Was willst du noch hier? Du hast mir guten Tag gesagt und Gott sei Dank geht es mir dreckig, was erwartest du von mir?“
Lea zuckte mit den Schultern. Unter ihr klebten die Schuhe am Boden, als hätte jemand heimlich Leim draufgeschmiert.
„Dir hat unsere teuere Wohnzimmereinrichtung gefallen. Du hast uns wochenlang beobachtet. Zufälligerweise waren wir fast Nachbarn. Wir waren reich und du arm. Jetzt landest du im Knast oder krepierst in diesem Bett und ich kann meinen Reichtum nicht mehr genießen. Jetzt bringt er keinem von uns mehr etwas. Unsere Leben sind zerstört. Das hast du prima hingekriegt, ich danke dir!“
„Willst du von mir hören, dass es mir leid tut? Erträgst du es, wenn ich dir sage, dass ich mich verachte, glaubst du’s, ist dir das nicht zu billig? Du kannst mich nicht freisprechen, es ist nicht wie im Beichtstuhl, ja, ich habe gesündigt, ich habe jemanden abgestochen, Gott-verzeih-mir -es-tut-mir-leid-Amen!“ Er zog sich die Decke übers Kinn. Hinter seinem Kopf entdeckte sie ihre Ledertasche, die in der Rille zwischen Wand und Bett zu verschwinden drohte.
„Ich bin nicht Gott. Du kommst in den Knast und wirst bestraft, denkst du, dass mir das mein altes Leben zurückgibt? Ich fühle mich bestraft für etwas und ich weiß nicht wofür. Für den jämmerlichen Rest meines Lebens. Das ist ungerecht!“
„Sollen wir tauschen?“
„Ich wünschte, ich könnte dir das nehmen, war du mir genommen hast, Scheißkerl! Dafür würde ich gerne für dich in den Knast gehen.“
„Das kannst du nicht, nicht einmal wenn du mich umbringst.“
„Deshalb habe ich es auch sein lassen.“ Lea spuckte ihm ins Gesicht.
Er verschmierte den Speichel auf seiner Haut als wäre er Wasser. Unter seinen Fingernägeln klebte eine schmutzige Kruste, sie dachte an das verschmierte Make-up in ihrem Gesicht. Seine Lippen zuckten, er verzog sie zu einem verzerrten Grinsen.
Vor ihm baumelten die Infusionsschläuche. Er schnappte danach und riss sie runter. Die Infusionsflaschen zerplatzten auf dem Boden, die Scherben verstreuten sich sternförmig. Leas Füße wurden nass, die Kälte brannte auf der Haut. Sie konnte nicht schreien, ihr Hals war eine zugepfropfte Flasche. Er packte sie am Handgelenk, der süßlich-fleischige Geruch des entzündeten Lochs stieg ihr in die Nase.
„Eines verspreche ich dir...Ich lasse mir nie mehr dieses Zeug in die Adern laufen. Die sollen die Sauerei hier wegputzen, und ich werde mich einfach auf den Rücken legen und schlafen. Wenn ich krepiere ist es mir egal. Pervers, einen Mörder aufzupäppeln. Das denkst du, das denkt die Krankenschwester und die Putzfrau, die mir am liebsten Abflussreiniger zu trinken geben würde. Das Schlimmste ist, dass ich das auch denke: es ist pervers, einen Mörder aufzupäppeln. Es gibt kein Teil in mir, der das nicht denkt, nichts, was mich jemals freisprechen könnte.“ Lea entwand ihm das Handgelenk und rieb es an ihrem Rock ab.
„Es hat dich keiner gezwungen, ein Mörder zu werden.“
„Was ist schon ein Mörder? Ein Mensch ohne Mitleid, Liebe und das alles...“ Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
„Ich habe alle diese Gefühle, ob du es glaubst oder nicht und trotzdem gehöre ich jetzt zum Abschaum. Abschaum hat keine Gefühle und deshalb sind meine nicht mehr echt. Ich nehme sie nicht mehr ernst. Ich spreche mir das Recht ab, lieben zu können und es ist in Ordnung, dass die mich in diesen hässlichen Raum abgeschoben haben. Manchmal schaffe ich es nicht rechtzeitig aufs Klo, die Schwestern lassen mich schmoren, sie haben es nicht eilig. Es ist mir egal, ich bin ein Mörder.“ Lea wartete darauf, dass er noch was sagte, aber er schwieg und fing an zu weinen.

Im Raum wurde es düster. Die Sonne hatte gedreht, irgendwo war Westen, dort färbte sich der Himmel rot. Die langen Schatten der Gitterstäbe waren verschwunden, durch das große Fenster drang Kälte. Leas Haut fühlte sich feucht und klebrig an. Ihre Strumpfhose hatte eine Laufmasche, die aufspritzende Infusionsflüssigkeit hatte scharfe Glassplitter auf ihren Beinen verteilt. Sie stand auf, die Scherben knirschten unter ihren Sohlen. Lea stellte den Stuhl an die Wand und ging zur Tür. Das Bett quietschte, er raffte sich hoch, Rotz lief ihm aus der Nase. „Willst du wirklich nicht mit mir tauschen?“
Sie hielt die Türklinke umklammert und drehte sich zu ihm um.
„Ich werde der Schwester sagen, dass sie dich in Ruhe krepieren lassen soll. Sie soll die Schweinerei wegmachen und dir anständig beim Kacken helfen. Ansonsten denke ich, dass wir beide genug bedient sind, was willst du tauschen?“ Sie öffnete die Tür. Auf dem Gang drängte sich ihr sofort der Desinfektionsgeruch auf. Die Neonröhren brannten mittlerweile und blendeten sie. Da fiel ihr die Tasche ein, die hinter seinem Kopf verschwunden war. Lea presste die Lippen zusammen und hätte vor Verzweiflung schreien können. Das Draußen lockte sie, Geschirr klapperte und auf dem Gang war ein Fenster mit Blick auf die Stadt. Der Schlüssel lag auf dem Boden, weit weg von seinem Bett, in der Mitte des Raumes. Zumindest den musste sie sich holen. Sie trat erneut in Zimmer 218, leise, als würde sie ihn beim Schlafen stören und bückte sich nach dem Schlüssel.
„Dein Lippenstift liegt im Dreck und trocknet an... und hier ist deine Tasche.“ Er hielt ihr die Handtasche entgegen. Sie baumelte an seinem Arm, als wäre sie tonnenschwer und wollte auf dem Boden zerplatzen. Seine Stimme zitterte, sie war leise und erschöpft. Er lächelte sie an, als wäre sie eine liebe Besucherin. Leas Magen krampfte sich zusammen. Sie stolperte aus dem Zimmer und stieß sich den Kopf an der Türe. Er hielt ihr immer noch die Tasche entgegen. Unter den grellen Neonstrahlen erbrach sie sich, mitten auf den Gang. Vor ihr war eine weiße Wand, an der sie sich abstützte. Ihre Hände hinterließen verräterische graue Flecken. Lea streifte sich die Schuhe ab und ließ sie stehen.

Lea schlich sich raus, genau so einfach wie sie rein gekommen war und verschmolz mit der Dunkelheit in der kümmerlichen Parkanlage. Aus den beleuchteten Gitterfenstern drangen aufgeregte Stimmen zu ihr. Es gärte, es wurden noch mehr Neonröhren angeschaltet, jemand schrie.
Lea glaubte ihre eigenen Schritten in den Gängen rauszuhören, das harte Hämmern ihrer Absätze, das durch das ganze Gebäude drang. Die Kreaturen amüsierten sich, die Routine war durcheinander geraten, das Abendessen würde Verspätung haben. Sie sah sich diesen riesigen Ameisenhaufen aus dem Schatten an, dessen Maschinerie in Gang gekommen war. Die Luft war klar und frisch. Ihr Herz schlug ruhig, sie atmete die kalte Luft. Sie löste sich aus dem Schatten und erreichte einen schmalen Kiesweg, den sie ungesehen entlangging. Auf den Straßen blendeten sie die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos, Passanten blickten ihr verwundert nach, aber das bemerkte sie nicht. Lea wollte heim, obwohl sie wusste, dass es ein Zuhause nicht mehr gab.
 



 
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