Die Beute

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Silke_Honert

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Gelassen beobachtete Sergej Sukov die Frau, von der er nur wusste, dass sie Joan Davies hieß und dass sie diesen Nachmittag allein in ihrem Penthouse verbringen würde. Hübsch, die Kleine, dachte er und nahm durch das Fernglas ihre Brüste, die nur von zwei winzigen, roten Stoffteilen bedeckt waren, genauer unter die Lupe. Wirklich nicht schlecht, fand er, genau wie der Rest. Ein attraktives, sorgfältig gepflegtes Gesicht, perfekt frisiertes Haar und Beine bis zum Hals. War vermutlich um einiges jünger als sie aussah, wie es sich für die Frau eines reichen Geschäftsmannes gehörte. Wahrscheinlich hatte ein Schönheitschirurg an der einen oder anderen Stelle nachgeholfen und dabei verdammt gute Arbeit geleistet.
[ 3]Sukov verfolgte, wie sie mit ihren schlanken Fingern an einem vor Kälte beschlagenen Glas mit einer goldgelben Flüssigkeit spielte und fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb solche Frauen ständig zentimeterlange Fingernägel haben mussten. Dabei strich er sich gedankenverloren über einen verkrusteten Kratzer über dem linken Auge und dachte kurz an die unangenehme Episode in Washington vor drei Tagen. Dann griff er zur Waffe. Sein Puls beschleunigte sich genauso wenig wie sein Atem und der Schweiß, der ihm über das Gesicht lief, war einzig der brütenden Mittsommerhitze zuzuschreiben, die seit Tagen über Houston lag. Wenn dieser Job erledigt war, wartete ein Ticket nach London auf ihn. Er liebte den englischen Regen.
[ 3]Das Zielfernrohr des Gewehrs ließ Joan ganz nahe erscheinen. Sukov konnte sogar ein Muttermal erkennen, dass herzförmig auf ihrer linken Brust saß. Wie passend, dachte er und spielte kurz mit dem Gedanken, die Kugel dort zu platzieren. Dann riss er sich jedoch zusammen und nahm ihre Stirn ins Visier. Dunkle Ponyfransen tanzten in der kaum wahrnehmbaren Brise. Er drückte ab.

„Deshalb fliege ich so gern mit Air France“, sagte der Passagier neben ihm augenzwinkernd und wies mit einem Grinsen auf die attraktive Flugbegleiterin, die gerade überprüfte, ob das Gepäck ordnungsgemäß verstaut war, „Die haben die hübschesten Stewardessen!“
[ 3]„Hm…ja, stimmt“, erwiderte Sukov und hoffte, der junge Bursche würde nicht versuchen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er hasste dieses völlig sinnfreie Gerede zwischen zwei Fremden, die sich eigentlich nichts zu sagen hatten.
[ 3]„Ist die Kleine nicht eine Wucht? Kommen Sie, Kumpel, ich hab´ doch gesehen, dass Sie sie die ganze Zeit anstarren!“
[ 3]Sukov seufzte verärgert. Das schien heute nicht sein Glückstag zu sein. Er hatte der Stewardess tatsächlich auf den zugegebenermaßen fantastischen Hintern geschaut, allerdings überhaupt keine Lust, sich darüber mit seinem Nachbarn zu unterhalten.
[ 3]„Wenn Sie es sagen“, erwiderte er gleichgültig und schloss die Augen in der Hoffnung, der Andere würde ihn in Ruhe lassen.
[ 3]„Ich bin übrigens Roger O´Malley“, versuchte der junge Mann jedoch die einseitige Unterhaltung fortzusetzen.
[ 3]Oh, Mann, wie er solche Leute liebte. Er nahm den anderen Mann genauer unter die Lupe und schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Jedenfalls deutlich jünger, als er selbst. Nicht gerade billiger Anzug, Yuppie-Auftreten und ein sommersprossiges, offenes Gesicht. Blonde Haare. Er entschied sich, ausnahmsweise nicht unhöflich zu sein.
[ 3]„Michael Linley“, nannte er dem Anderen den Namen, auf den derzeit sein Pass lautete, „Hören Sie, ich bin ziemlich müde und habe keine rechte Lust auf eine Unterhaltung. Nehmen Sie´s mir nicht übel.“
[ 3]O´Malley grinste verständnisvoll. „Kein Problem, ich bin nur ein wenig nervös, weil ich so ungern fliege. Ich wollte sie nicht nerven!“
[ 3]Sukov erwiderte höflich O´Malleys Lächeln und vergaß den Mann einfach.
[ 3]Das änderte sich schlagartig, als er ihn auf Flug 245 von Paris nach London wieder zusehen glaubte. Er selbst hatte seine Gründe, den Umweg über Paris zu nehmen, doch er bezweifelte, dass das vielen anderen auch so ging. Und doch war er sich sicher, dass der blonde Schopf des Passagiers drei Reihen vor ihm, O´Malley gehörte. In seinem Metier glaubte man nicht an Zufälle und er überlegte, ob er in Schwierigkeiten sein könnte. Er bekam keine Gelegenheit, das Gesicht des Fremden zu erkennen, denn beim Aussteigen, war der Mann lange vor ihm verschwunden.
[ 3]Heathrow war laut und schmutzig wie immer und es dauerte fast eine Stunde, bis Sukov sein Gepäck in Empfang genommen und sich zu den Taxis vorgearbeitet hatte. Auf dem Weg in die Innenstadt war er sich erneut sicher, O´Malley zu sehen. In einer dunklen Limousine hinter ihm. Doch kaum hatte er den Wagen entdeckt, bog dieser auch schon ab. Er fühlte sich zunehmend unbehaglich. Sein Instinkt sagte ihm, dass er verfolgt wurde und er fluchte innerlich, dass er sich nicht auf ein Gespräch mit dem Fremden eingelassen hatte.
[ 3]Im Hilton glaubte ihn der Empfangschef zu erkennen. Doch bevor dieser ihn mit dem Namen ansprechen konnte, den er beim letzten Mal benutzt hatte, sagte Sukov: „Pierre Valmont, ich habe von heute auf morgen reserviert, Monsieur.“
[ 3]Der Portier schaute ihn kurz verwirrt an, aber der französische Akzent, den er sich gerade zu gelegt hatte, überzeugte den Mann und er händigte ihm mit professionellem Lächeln die Zugangskarte für Suite 214 aus.
[ 3]Sukov liebte die höhlenartigen Suiten des Hiltons. Dieses Mal nahm er sich jedoch nicht die Zeit, seine Ankunft zu genießen. Er zog sich rasch um und hatte sich mittels grauer Perücke und dunklem Schnurrbart sowie etwas Watte, die er sich in die Backentaschen geschoben hatte, bald in den distinguiert wirkenden Richard Freemont verwandelt, dessen Pass er zusammen mit einem Bündel Banknoten in die Innentasche seines Trenchcoats steckte, bevor er das Zimmer verließ. Scheinbar ziellos bewegte er sich durch die belebte Eingangshalle des Hotels, ließ sich in einen der bequemen Ledersessel in der Lounge nieder und griff nach der Tageszeitung. Nach fünf Minuten sah er ihn. O´Malley – oder wie auch immer der Bursche hieß, stand an den Empfangstresen gelehnt und hielt offenbar einen kleinen Plausch mit dem Portier, jedoch ohne das Geschehen um sich herum aus den Augen zu lassen. Belustigt sah er, dass O´Malley ebenfalls versucht hatte, sich zu verkleiden, wenn auch mit einem geradezu lachhaftem Ergebnis. Die schwarze Perücke passte nicht zu der blassen, sommersprossigen Haut und der Hut sah aus, als stamme er von der Heilsarmee. Sukov hatte jetzt keinen Zweifel mehr daran, dass man den Burschen auf ihn angesetzt hatte, um ihn auszuschalten. Lächerlich! Als ob dieser Junge, der noch grün hinter den Ohren war, es mit ihm aufnehmen konnte. Er unterdrückte sein Grinsen und verließ gelassen das Hotel.
[ 3]An der Central Station genehmigte er sich eine große Portion Fish ´n Chips bevor er sich langsam zu den Gepäckschließfächern bewegte und die Umgebung sondierte. Nach einer halben Stunde war er sicher, dass alles so war, wie es sein wollte. Er tastete nach dem Schlüssel in seiner Manteltasche und trat vor das Fach Nr. 188. Die schwarze Ledertasche darin war ziemlich schwer. In ihr befand sich ein Präzisionsgewehr, Kleidung für mehrere Tage, vier Reisepässe und andere Ausweispapiere sowie fünftausend kanadische Dollar. Sukov freute sich auf Vancouver. Das Wetter um diese Zeit war fast so wie in England.
[ 3]Die U-Bahn brachte ihn in knapp zwanzig Minuten an sein Ziel. Noch in der Station wechselte er die Kleidung und verwandelte sich in einen Bauarbeiter. Niemand beachtete ihn, als er die Baustelle betrat auf der ein neues Einkaufszentrum auf seine Fertigstellung wartete. Nachdem es seit Tagen beinahe ununterbrochen geregnet hatte, war kaum jemand zu sehen. Ein Wachmann kam ihm entgegen und sah ihn leicht befremdet an, als er das Treppenhaus betrat, doch wenn überhaupt, würde er sich später nur an einen dicken, rothaarigen Bauarbeiter mit Pausbacken erinnern. Im vierten Stock bezog Sukov an einem der noch glaslosen Fenster auf der Nordseite des Gebäudes Stellung und wartete. Das Warten machte einen großen Teil seines Geschäftes aus, aber er hatte keine Probleme damit.
[ 3]Nach etwa einer Stunde war es soweit. Wilbur Cortland betrat das Appartment im Bürogebäude auf der anderen Seite. Durch das Zielfernrohr verfolgte Sukov, wie der enorm beleibte Mann mit seinen so genannten Geschäftsfreunden eine Flasche Dom Perignon köpfte. Außer Cortland erkannte er noch zwei andere Größen des Londoner Börsenparketts. Doch nur Cortland war das Ziel. Seine Finger krümmten sich um den Abzug. Da veranlasste ihn irgendetwas hinab auf die Straße zu blicken und er fluchte. Roger O´Malley stand auf der anderen Straßenseite und blickte zu ihm hinauf. Unwillkürlich wich er zurück, obwohl er wusste, dass der Andere ihn unmöglich sehen konnte. Was zum Teufel tat der Bursche hier? Er konnte ihn unmöglich verfolgt haben, woher hatte er also gewusst, wo er hin musste? Es gab nur eine Antwort auf diese Frage. Man hatte ihn verraten. Er war nicht nach London geschickt worden, um Wilbur Cortland umzubringen, sondern weil er selbst ausgeschaltet werden sollte. Durch das Zielfernrohr verfolgte Sukov, wie O´Malley das Bürogebäude betrat. Zehn unendlich lange Minuten war der Mann nicht mehr zu sehen, dann nahm Sukov wahr, dass sich die Gardine in einem der Büros unterhalb Cortlands Appartements bewegte. Tatsächlich, da war O´Malley und suchte ihn über das Zielfernrohr seines Gewehrs. Sukov verbarg sich geschickt hinter der undurchsichtigen Plastikfolie vor dem Fenster, so dass nur der Lauf seiner Waffe darunter hervor sah. An den Bewegungen von O´Malleys Gewehr erkannte er, dass sein Gegner ihn noch nicht entdeckt hatte. Und das würde er auch nicht, dachte Sukov grimmig und nahm das blasse Gesicht seines Feindes ins Visier. Der tauchte plötzlich hinter seiner Waffe auf und hielt ihm grinsend den Mittelfinger seiner rechten Hand entgegen. Fassungslos hob Sukov den Kopf und fragte sich, ob der Junge völlig durchgeknallt war. Er sah wieder durch das Zielfernrohr und wurde plötzlich durch ein Geräusch hinter sich abgelenkt. Jemand stand hinter ihm. Er bewegte sich nicht und starrte stattdessen durch das Zielfernrohr auf das leere Fenster im gegenüber liegenden Gebäude, wo kurz zuvor noch O´Malley gestanden hatte,
[ 3]Sukov wurde klar, dass er einen eklatanten Fehler gemacht hatte. Unterschätze nie Deinen Gegner, das war eine der wichtigsten Lektionen, die er je gelernt hatte. Doch genau das hatte er getan. Er hatte tatsächlich angenommen, dass man einen unerfahrenen Jungen auf ihn angesetzt hatte und sich noch über dieses lächerliche Vorhaben amüsiert. Dabei war O´Malley nicht der Killer sondern lediglich ein Ablenkungsmanöver. Ein ziemlich plumpes noch dazu. Doch nichtsdestotrotz erfolgreich, denn irgendjemand stand hinter ihm und zielte mit einer Waffe auf ihn, die ihm wahrscheinlich den Kopf wegreißen würde.
[ 3]Sukov seufzte. Nun ja, wer konnte schon von sich behaupten fehlerfrei zu sein. Noch während er sich herumwarf, um auf seinen Feind zu schießen, wurde ihm klar, dass er keine Chance hatte. Er verfehlte seinen Gegner um einen halben Meter, während dessen Kugel ein Loch von der Größe einer Untertasse in Sukovs Brust riss und ihn rückwärts aus dem Fenster beförderte.
 
Hi Silke,
du hast einen guten Stil drauf. Dein Profikiller kommt sehr sachlich und ruhig rüber – so wie es sein soll. Auch lässt du offen, wer ihn umbringen will und warum. Es ist ja für ihn selbst nicht einmal wichtig. Da kommen mir solche Begriffe wie Prinzipien und Geschäftsbedingungen in den Sinn. Eigentlich gibt es an der Geschichte nichts auszusetzen. Sie geht gerade durch, sehr gut geschrieben. Vielleicht kann ich mal drüber nachdenken, wie man sie noch verfeinern könnte?
Der junge Mann kommt noch etwas blass rüber. Ich würde versuchen, ihm mehr Gesicht zu geben. Entweder könntest du das Gespräch zwischen beiden ausdehnen oder einen Wechsel zwischen Sicht des Killers und des jungen Mannes herstellen. Natürlich muss er undurchsichtig bleiben. Wie gesagt, es ist für die Kürze eine gute Kurzgeschichte, aber ich würde an deiner Stelle mehr draus machen wollen, sie ein wenig aus dem Klischee herausheben.

Ansonsten finde ich die Geschichte sehr gelungen.
Schöne Grüsse,
Marcus
 



 
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