Die Bibliothek

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Tag war grau und regnerisch, er erschien ihr richtig für einen Besuch in der Bibliothek. Vorsichtig öffnete sie die Tür und wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Die Luft roch abgestanden.
Sie ging langsam an den Regalen entlang, strich mit den Fingern über die sepiabraunen Buchrücken, drehte den Kopf und las die einzelnen Titel: Das verlorene Kind. Der Tod des Vaters. Der Mann. Himmel auf Erden. Sehnsucht. Der Junge, der Klavier spielte. Das alte Fahrrad. Frühstück für immer.
Nach zehn Minuten zog sie die Tür leise hinter sich zu.
Die ungeschriebenen Geschichten waren wieder allein in der Bibliothek.
 

fraulange

Mitglied
Hallo DocSchneider, das kleine, symbolische "Geschichtenhäppchen" gefällt mir gut, der ruhige Erzählton ist angenehm zu lesen. Schon verlockend, so eine Bibliothek, aber auch ein wenig einschüchternd, finde ich. Eine ganz kurze Anmerkung noch zu Deiner Geschichte "Der Berg ruft": Pfui, wie gemein ;-) Aber SCHÖN gemein! Und ich finde das Maß der "Kryptik" genau richtig, das war schon gleich zu verstehen(aber ich habe sie ja auch eben erst und somit in überarbeiteter Form gelesen, oder?).
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Liebe FrauLange, ich freue mich natürlich, dass Dir der Text zusagt - jedoch lies den letzten Satz mal ganz genau! Es handelt sich nämlich hier um eine ganz besondere Bibliothek.

Und beim Berg hast Du die endgültige Fassung gelesen - ein bisschen Kryptik habe ich herausgenommen, aber es ist immer noch genügend schwarzer Humor vorhanden. :)

LG Doc
 
U

USch

Gast
Hallo Doc,
wunderbare Kurzprosa, wie sie sein sollte - knapp und präzise. Und dann der überraschende Schluß.
Superb.
LG USch
 

fraulange

Mitglied
Hallo DocSchneider!

Vielleichtwar jetzt ICH etwas kryptisch ... ;-)
Also, ich habe den Schluss Deiner Geschichte so verstanden, dass Du in der Bibliothek DEINER ungeschriebenen oder geplanten Geschichten lustwandeltest. Oder der Erlebnisse, über die Geschichten zu schreiben sich lohnen würde. Hatte ich das richtig verstanden? Und das meinte ich auch mit einerseits verlockend, andererseits einschüchternd, da dies ja eine schöne aber doch auch schwierige Aufgabe ist.

Lieben Gruß von Kristin (fraulange).
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo USch,

dankeschön! Auch für die großzügige Wertung!!!

Hallo Frau Kristin, dann hattest Du das Ganze doch richtig verstanden. Ob das meine Bibliothek ist, lasse ich offen. Ich denke, es wird immer ungeschriebene Geschichten geben. Sie werden in unseren Köpfen und Herzen bleiben. Ihnen wollte ich ein kleines sprachliches Denkmal setzen.

Liebe Grüße, Doc
 
E

eisblume

Gast
Hallo Doc,

gefällt mir sehr gut.
Nur zwei kleine Vorschläge, den ersten und letzten Satz betreffend:
Der Tag - grau und regnerisch, genau richtig für einen Besuch in der Bibliothek.
Die ungeschriebenen Geschichten waren wieder allein.
Könntest du dir im Übrigen dafür auch die Ich-Perspektive und das Präsens vorstellen? Also in der Form:

Der Tag - grau und regnerisch, genau richtig für einen Besuch in der Bibliothek. Vorsichtig öffne ich die Tür und warte einen Moment, bis sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben. Die Luft riecht abgestanden.
Langsam gehe ich an den Regalen entlang, streiche mit den Fingern über die sepiabraunen Buchrücken, drehe den Kopf und lese die einzelnen Titel: Das verlorene Kind. Der Tod des Vaters. Der Mann. Himmel auf Erden. Sehnsucht. Der Junge, der Klavier spielte. Das alte Fahrrad. Frühstück für immer.
Nach zehn Minuten ziehe ich die Tür leise zu.
Die ungeschriebenen Geschichten sind wieder allein.


Lieben Gruß
eisblume
 

Paloma

Mitglied
Hallo Doc,

feine Kurzprosa. Viele Geschichten vereint zu einer - in der Seelenbibliothek. Mich stört eine Kleinigkeit:

…, er erschien ihr richtig für einen Besuch in der Bibliothek.
Das klingt gewollt. Ich meine Besuche in dieser so besonderen Bücherei plant man nicht, da findet man sich, gerade an diesen trüben Tagen, unvermittelt wieder.

Liebe Grüße
Paloma
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Eisblume, danke für die guten Vorschläge, die ich übernommen habe. Mit der Ich-Perspektive kann ich mich nicht anfreunden, sie ist mir zu nah dran. Es könnte allerdings sein, dass der Text dann mehr wirkt?! Ich lasse das mal sacken.

Hallo Paloma, wenn ich die neue Fassung nehme, fällt das Gewollte weg.

Schön, dass Euch der Text gefällt. (Wurde gekürzt, gekürzt, gekürzt ;-).

LG Doc
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Tag - grau und regnerisch, genau richtig einen Besuch in der Bibliothek. Vorsichtig öffnete sie die Tür und wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Die Luft roch abgestanden.
Sie ging langsam an den Regalen entlang, strich mit den Fingern über die sepiabraunen Buchrücken, drehte den Kopf und las die einzelnen Titel: Das verlorene Kind. Der Tod des Vaters. Der Mann. Himmel auf Erden. Sehnsucht. Der Junge, der Klavier spielte. Das alte Fahrrad. Frühstück für immer.
Nach zehn Minuten zog sie die Tür leise hinter sich zu.
Die ungeschriebenen Geschichten waren wieder allein.
 
E

eisblume

Gast
Hallo Doc,
freut mich, wenn etwas Brauchbares dabei war.

Das ist ja nicht allgemeingültig, aber mir haben sich beim Lesen das Ich und Präsens einfach aufgedrängt :) Auf mich wirkt es in der Form deutlich dichter und intensiver - auf andere aber vielleicht grad nicht.

Schönen Abend
eisblume
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Tag - grau und regnerisch, genau richtig für einen Besuch in der Bibliothek. Vorsichtig öffnete sie die Tür und wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Die Luft roch abgestanden.
Sie ging langsam an den Regalen entlang, strich mit den Fingern über die sepiabraunen Buchrücken, drehte den Kopf und las die einzelnen Titel: Das verlorene Kind. Der Tod des Vaters. Der Mann. Himmel auf Erden. Sehnsucht. Der Junge, der Klavier spielte. Das alte Fahrrad. Frühstück für immer.
Nach zehn Minuten zog sie die Tür leise hinter sich zu.
Die ungeschriebenen Geschichten waren wieder allein.
 

HajoBe

Mitglied
Hallo Doc,
eine Kurzprosa, wie man sie sich vorstellt, knapp, flüssig erzählt und mit dem gehörigen Überraschungseffekt am Ende. Ich würde vielleicht auch eher die Ich-Form wählen…
LG und schönes WE
HajoBe
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Nach reiflicher Überlegung bin ich der Idee gefolgt, den Text in der Ich-Form und im Präsens einzustellen. Gefällt mir jetzt selbst auch sehr viel besser.

Nochmals vielen Dank für die Hilfe !!!!

LG Doc
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Tag - grau und regnerisch, genau richtig für einen Besuch in der Bibliothek. Vorsichtig öffne ich die Tür und warte einen Moment, bis sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben. Die Luft riecht abgestanden.
Langsam gehe ich an den Regalen entlang, streiche mit den Fingern über die sepiabraunen Buchrücken, drehe den Kopf und lese die einzelnen Titel: Das verlorene Kind. Der Tod des Vaters. Der Mann. Himmel auf Erden. Sehnsucht. Der Junge, der Klavier spielte. Das alte Fahrrad. Frühstück für immer.
Nach zehn Minuten ziehe ich die Tür leise zu.
Die ungeschriebenen Geschichten sind wieder allein.
 

anbas

Mitglied
Hallo Doc,

anfangs konnte ich mit diesem Text nicht so viel anfangen. Doch je öfter ich ihn lese und nun auch nach der Überarbeitung, gefällt er mir immer besser. In "meiner" Geschichte wäre es vielleicht ein "Ideenmuseum" statt einer Bibliothek ... :D Eine, wie ich finde, etwas wehmütige Vorstellung - auch, wenn der Text nicht wehmütig rüber kommt. Dennoch schwingt in mir der stille Wunsch mit, dass es dem/der Prot gelingen möge, die eine oder andere Geschichte noch zu schreiben.

An einer Stelle bleibe ich stets ein wenig hängen:
über die sepiabraunen Buchrücken, drehe den Kopf und lese die einzelnen Titel
Bei "den Kopf drehen" denke ich gleich an umdrehen, zur Seite drehen. Doch darum geht es nicht, es ist ja mehr "ein zur Seite neigen" - wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob es nicht noch bessere Formulierungen gibt.

Liebe Grüße

Andreas
 

rogathe

Mitglied
Nur so 'ne Idee:
Langsam gehe ich an den Regalen entlang, streiche mit den Fingern über [blue]das raue Leinen der [/blue]sepiabraunen Buchrücken, [blue]folge den geprägten Lettern[/blue] und lese die einzelnen Titel: ...

LG rogathe
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Anbas, in der ersten Fassung gab es den gedrehten Kopf nicht, aber das war unlogisch, denn man kann die Titel sonst bei den meisten Büchern nicht lesen. Glücklich war ich mit der Forumlierung aber nicht.
Ich neige dazu, den Kopf zu neigen.

Hallo Rogathe, das ist mir zu speziell. Raues Leinen und geprägte Lettern lassen auf sehr alte oder wertvolle (?) Bände schließen.

Der Ton des Textes ist durchaus wehmütig zu verstehen. Aber ich bin froh, dass er nicht in der Bibliothek der ungeschriebenen Werke verbleibt!

Vielen Dank auch für die großzügigen Wertungen.

LG Doc
 



 
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