Die Blockflötenspielerin

rabi

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Die Blockflötenspielerin

An diesem Samstag stand Robert wieder auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station Baker Street. Er hoffte darauf, sie wieder zu sehen, so wie an den vergangenen Samstagen auch: Diese junge Frau mit den schwarzgelockten Haaren und den kleinen braunen Augen. Sie war ihm sofort aufgefallen. Dabei sah sie eigentlich ganz durchschnittlich aus, nicht geschminkt, kein Schmuck, schlichte Kleidung. Doch für ihn hatte sie etwas Mysteriöses, ja sogar fast Unheimliches an sich. Irgend etwas an dieser Frau zog ihn magisch an. Was genau das war, konnte sich Robert aber nicht erklären. Aber er wollte es herausfinden, wollte erkunden, wer diese Frau war.

Der Bahnsteig war voller Menschen. Robert ließ seinen Blick langsam umherschweifen, ob er sie erblicken könnte. Ihre Figur, ihre Größe, ihre schwarzen, lockigen Haare. Er würde sie sofort wiedererkennen, selbst auf größere Entfernung. Trotz ihres eigentlich durchschnittlichen Aussehens war sie für ihn einmalig.

Die Linie 5 fuhr ein. Unschlüssig stand Robert auf dem Bahnsteig. Sah zu, wie die Menschen sich in die Waggons drängten. Einsteigen oder noch warten? Was wäre, wenn er jetzt einstiege, und sie käme erst eine Viertelstunde später? Vielleicht sollte er doch noch auf die nächste Bahn warten.

Schon ertönte die Klingel, das Zeichen zum Schließen der Türen, als eine kleine schwarzgelockte Frau mit einem Beutel in der Hand aus dem Bahnhofsgebäude gerannt kam und noch in den ersten Waggon sprang. Ja, sie war es. Es gab keinen Zweifel!!! - Mit einem Sprung hechtete Robert zur Bahn, konnte die sich schließende Tür gerade noch auseinander drücken, und sich in den Waggon quetschen – den hintersten.

Doch wo würde sie aussteigen? Sollte er an der nächsten Haltestelle den hintersten Waggon verlassen und dann nach vorne rennen, japsend dort ankommen?

Noch hatte er Zeit zum Überlegen. Bis zur Desmond Street waren es etwa zehn Minuten. Eigentlich hatte Robert gar keinen genauen Plan, was er eigentlich wollte. Sie einfach beobachten? Mehr über diese mysteriöse Unbekannte heraus finden! Was war es genau, dass ihn an ihr so faszinierte? Es war nur so ein unbestimmtes Gefühl, das ihm sagte, dass...

Die Tür ging auf. Robert blieb unschlüssig im Waggon sitzen. Die mittleren und vorderen Waggons waren voller, man käme da ohnehin kaum hinein. Hier hatte er immerhin einen Sitzplatz. Also wollte er doch vorerst hier im letzten Wagen bleiben. Gerade ertönte wieder die Klingel, da fiel sein Blick durch die Scheibe auf den Bahnsteig: er konnte gerade noch sehen, wie sie in das Bahnhofsgebäude ging.

Robert sprang auf, riss ein im Gang stehendes Kind fast zu Boden. Die zufallende Tür knallte ihm gegen den rechten Arm. Doch er schaffte es noch gerade aus der Bahn, stand nun auf dem Bahnsteig. Sein Arm schmerzte noch etwas, doch das war ihm jetzt unwichtig. Da sah er das Schild: Heavensgate. Diese Station war ihm sonst nie aufgefallen. Er hätte sie doch kennen müssen. Aber das war ihm jetzt unwichtig.

Robert betrat die Bahnhofshalle. Ihr Vorsprung konnte eigentlich nicht sehr groß sein. Die Halle war menschenleer. Trotzdem konnte er die Frau nirgends erblicken. Er schaute sich um. War sie in eines der Geschäfte gegangen? Dann müsste sie ja gleich wieder in die Halle zurück kommen. Oder hatte sie den Bahnhof ganz verlassen? Robert ging hinüber zum Ausgang, schaute nach draußen, doch es führte keine Straße vom Bahnhof ab. Es sah eher aus wie eine stillgelegte Station. Wo war er hier? Heavensgate – diesen Namen hatte er noch nie gehört. Warum hatte die Bahn gehalten? Warum war SIE dort ausgestiegen? Eigentlich sollte er doch jetzt schon in der Stadt sein. Weihnachtseinkäufe erledigen. Stattdessen stand er in einem verlassenen Gebäude und wartete auf eine Frau, von der im Prinzip absolut nichts wusste. Allmählich wurde es ihm unheimlich. Trotzdem spürte er, dass diese Frau für ihn etwas ganz Besonderes bedeutete.

Plötzlich hörte er leise Musik. Jemand spielte „Stille Nacht, heilige Nacht“ auf einer Blockflöte. Die Musik musste aus dem Tunnel an der gegenüberliegenden Seite kommen. Er folgte den Tönen, konnte aber niemanden sehen, da der Tunnel einen Bogen machte. Die Musik wurde lauter, deutlicher. Robert bog um die Ecke.

Und da auf dem Boden saß SIE, diese junge schwarzgelockte Frau und spielte auf ihrer Flöte. Robert vernahm, wie sein Herz klopfte und seine Knie weich wurden. Noch nie war er dieser Frau so nahe gewesen. Er wagte kaum zu atmen.

Robert blieb stehen und hörte dem Flötenspiel fasziniert zu, wartete, bis sie das Lied zu Ende gespielt hatte. Er beugte sich zu ihr hinunter, um ihr ein Silberstück in die Hand zu geben, so wie er es auch sonst bei Straßenmusikern machte. Er sah ihr dabei in die Augen. „Sie spielen sehr schön“, sagte er.
„Danke, das höre ich gerne“, entgegnete sie. Sie hatte eine wunderbar sanfte Stimme. Und dann diese wunderschönen braunen Äuglein, die ihn anstrahlten! Sie schien sich zu freuen, dass jemand ihr Spiel beachtet. Doch noch immer hatte sie dieses Mystische an sich. Er konnte sich nicht erklären, was es war. Nein, das war keine Frau wie jede andere! War sie eine Fee, eine Zauberin? Robert war verwirrt, doch gleichzeitig fasziniert. Warum saß sie hier im Tunnel eines verlassenen Bahnhofsgebäudes und spielte Weihnachtslieder auf einer Blockflöte?

Die Frau lächelte ihn an: „Willkommen in Heavensgate – dem Eingang zum Himmel. Ich bin ein Engel. Aber nur wenige Menschen können das erkennen. Die meisten folgen nur dem äußeren Schein, lassen sich blenden von Geld und teuren Geschenken. Du aber bist mir und der Musik gefolgt, hier nach Heavensgate.“ – Dabei stand sie auf und ergriff seine Hand. „Komm mit“, sagte sie, „lasst uns weiter durch den Tunnel gehen, direkt in den Himmel.“
 



 
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