Die Botschaft

der Kelly

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Die Botschaft


Seit Jahren lebt er in einer Botschaft. Das zwanzig Quadratmeter kleine Wohnbüro, das ihm Ecuador in London zur Verfügung stellt, ist beengend. Sein Körper ist eingesperrt, sein Geist frei.

Er trinkt Tee und blickt zu dem kleinen Café am Ende der Straße. Nur zu gerne würde er dort einkehren. Die Polizei bewacht rund um die Uhr den Eingang zum Gebäude. Nur ein Schritt über die Pforte und sein Leben hing von der Willkür jener Mächte ab, die er bloßstellte.

Immer stärker spürt er das unbehagliche Stechen in seiner Brust. War der Tee vergiftet? Die Tasse entgleitet ihm und zerschellt am Boden. Er bricht zusammen. Sein Kopf fällt unsanft auf seinen linken Arm. Er erblickt durch die Balkontüre wieder das kleine Café am Ende der Straße. Er liebte die Banalität der Vorgänge die dort stattfanden. Ist es sein Schicksal hier und jetzt zu sterben? Die Medien werden sich freuen berichten zu können, wie der Landesverräter, der Staatsfeind und vermeintliche Vergewaltiger, elendig zugrunde ging. Einsam und doch im Rampenlicht.

Es dauert nicht lange, da öffnet sich hinter ihm die Tür zu seiner Wohnung. Eine Frau, die laut und aufgeregt Spanisch redet, betritt den Raum. Nie lernte er diese Sprache. Er bereut, die vielleicht letzten Worte in seinem Leben nicht verstehen zu können. Sie rüttelt an seiner Schulter und tätschelt seine Wange. Er kann nichts sagen, sich nicht bewegen. Sein Blick ist starr. Ein zweiter Mann betritt den Raum und setzt in mittelmäßigem Englisch einen Notruf ab.

Hilflos liegt am Boden. Dass die Botschaft nicht ewig seine Heimat bleiben konnte, war absehbar. Dennoch hofft er auf die Einsicht der Regierungen und darauf, dass ihn die Menschen irgendwann verstehen werden. Leider vertrauen sie ihren gewählten Vertretern teilweise blind. Sie teilen bereitwillig ihre intimsten Geheimnisse in social networks und wundern sich, wenn der Staat ihr Leben überwacht. Sie bemerken nicht, dass große Konzerne sie manipulierten und immer weiter in ihre Privatsphäre vordringen. Bereitwillig geben sie sich dieser Ohnmacht hin und folgen dem Herdentrieb.

Draußen ertönen die Sirenen der Einsatzwagen. Das Büro füllt sich indes weiter mit Menschen. Die Neugierde ist größer als der Wille ihm zu helfen. Sie haben Angst. Angst davor, dass er vergiftet sein könnte. Vielleicht ist er das auch. Falls ja, so ist er dankbar dafür, dass es nicht mit Polonium versucht wurde, sondern mit einem schnell wirkenden Gift.

Die Sanitäter betreten den Raum und beginnen mit den notwendigen Rettungsmaßnahmen. Er steht neben seinem Körper und beobachtet das rege Treiben um seine Person. Sie setzen ihm eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase. Angst überkommt ihn. Er gehört zu den wenigen Menschen die sogar vor den Rettungskräften Angst haben. Sind sie auch jene, für die sie sich ausgeben? Immerhin hilft ihm jetzt ein System, das ihn fallen lies, das ihn verfolgte. Er war stets bedacht die kleinen und großen Vergehen der Staaten dieser Welt aufzudecken. Aber waren die Menschen auch bereit für die Wahrheit?

Auf einer Bahre liegend wird er durch die Gänge getragen. Botschaftsmitarbeiter begleiten den Transport und öffnen die Türen. Die Pforte kommt immer näher. Die Tür wird geöffnet. Er blickt zu seinem Körper und freut sich zu sehen, wie er bald das Gebäude verlassen wird. Was wird ihn wohl erwarten, falls er das überlebt? Wird er jemals Gerechtigkeit erfahren? Immerhin ist er die Symbolfigur für das Scheitern von Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Eine Auslieferung an die USA erscheint ihm genauso wahrscheinlich, wie ein Todesstoß durch einen Geheimdienst. Wenn er die Wahl hätte, so wäre Letzteres die angenehmere Variante, als in einem geheimen Hochsicherheitsgefängnis, nach einigen Einheiten Waterboarding und Schlafentzug, vor sich hin zu siechen. In jedem Fall wird er zum Märtyrer für seine Gleichgesinnten und all jene Personen, die bereits berechtigte Zweifel über manche Vorgänge in dieser Welt hegen.

Durch die offene Tür sieht er eine Menschenmenge. Polizisten halten die Reporter und Fernsehteams hinter Absperrungen zurück. Alle Aufmerksamkeit ist auf ihn gerichtet. Er bedauert es, keinen Blick zu dem kleinen Café erhaschen zu können. Die Normalität erscheint ihm ferner den je. Polizeiautos stehen vor und hinter dem Rettungswagen. Er wird aus dem Botschaftsgebäude getragen. Oft hatte er sich diesen Moment vorgestellt und die unterschiedlichsten Varianten ausgedacht. Endlich ist es soweit, er ist außerhalb des geschützten Bereichs und bereit einen neuen Abschnitt zu beginnen, sollte er das überleben.

Die Tür des Notarztwagens öffnet sich und die Rettungsbahre mit seinem Körper wird von den Sanitätern fixiert. Alles geschieht sehr schnell. Er blickt noch einmal kurz zurück zu seiner Botschaft, die ihn lange Zeit schützte. Dann steigt auch er ein. Die Heckklappe wird geschlossen. Ein Sanitäter verabreicht ihm eine Spritze. Er öffnet die Augen, richtet sich auf und schreit vor Schmerz. Die Sanitäter drücken ihn wieder nieder.

"Wer sind sie?", fragt die Stimme hinter ihm, die zu keinem der Sanitäter gehört. "Ich bin nur ein Mann mit einer Botschaft!", sagt er leise und voller Schmerzen in seiner Brust. "Das haben wir verstanden!", antwortet die Stimme.
 



 
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