Die Drossel

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Eine Drossel war heruntergeflogen,
als ich das Fenster öffnete.
Ich nahm die Drossel
und legte sie in ein Schubfach.
Nach zwei Wochen
dachte ich an sie und holte sie
aus dem Schrank
und schabte ihre Beine ab,
bis sie blank waren.
Ich tauchte die Beine in Kolophonium
und überzog sie mit Zinn.
Dann steckte ich jedes der beiden
Beine in ein Loch
und besfestigte sie,
damit sie nicht herausfiel,
mit einer Mischung
aus geschmolzenem Zinn und Blei.

Ich schloss Drähte an
und legte eine Spannung an,
die ich erhöhte,
und die Drossel begann zu fauchen und zu rauchen,
dann flog eine Sicherung heraus und mir um den Kopf.
Die Mutter könnte helfen, die Drossel zu befestigen,
doch sie war aus dem Fenster gefallen.
Ich konnte sie nicht finden.
Was sollte ich nur ohne Mutter und mit einer verschmorten Drossel anfangen?
Wenigstens zum Sieben möchte sie gehen.
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Bernd.

Sehr interessant, weil der nicht elektrotechnisch versierte Leser sofort das Bild eines gefolterten Vogels vor Augen hat. Später gesellt sich die seltsame Mutter hinzu, bis zu ihrem berüchtigten Fenstersturz.
Hier offenbart sich die Bandbreite der Theatralik menschlicher Vorstellungen! Sehr gerne gelesen.
Es drosselt aber nicht - meine Neugier auf weitere diesbezügliche Werke.

Grüße von Elke
 
O

orlando

Gast
Gefällt mir,
ein ausgefeiltes Teil: intelligent und abgründig. -
Interessant auch in der Hinsicht, dass sich die Werkzeug- und Technikerbranche gern sprachlich aus dem Bereich der menschlichen Beziehungen bedient ...
Die Sache mit der "Mutter" hat mich schon als Kind fasziniert und zu vielen Fragen veranlasst.
Das Gedicht selber besticht durch seine lakonische Art, die dazu beiträgt, Grauen zu erzeugen. - Das funktioniert übrigens ebenfalls, wenn man die Sachlage sofort durchschaut. Eigenartig. Schauder-Haft.

LG, orlando
 



 
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