Die Ehrenwerte Frühstücksgesellschaft

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Sonntags traf ich zufällig meinen alten Freund Michi am frühen Vormittag in der Stadt. Fast wäre er an mir vorbeigelaufen. Wer Michi besser kennt weiss, dass ihn nur ein aussergewöhnlicher Grund zu dieser Stunde aus dem Bett bringen konnte.
Seine Mutter hatte über die Jahre alles versucht, ihn zu früherem Aufstehen zu bewegen. Anfangs hatte sie noch listig den Duft von Frühstückskipferln und Erdbeerkuchen in sein Zimmer gleiten lassen, später liess sie vor dem Haus Strassenarbeiter mit den lautesten Schlagbohrern auffahren und zuletzt sogar einen ausgedienten Schleudersitzmechanismus unter seiner Schlafstätte einbauen. Alles vergebens. Das Bett wurde später zwei Strassen weiter gefunden, aber Michi lag ruhig schlafend auf dem Perserteppich in seinem Zimmer. Es schien fast zu sein, als ob in seinem Zimmer die Naturgesetze Kapriolen schlugen und ihn Schwerkraft, Bettdecke, Zeit und Raum ans Bett fesselten.
Mit anderen Worten: Michi war nicht wirklich ein Morgenmensch.

Umso grösser war meine Überraschung, ihn zu so früher Stunde geschniegelt, geschneuzt und behenden Fusses auf der Kärntnerstrasse anzutreffen.
„Servus Michi, was…“. Es gelang mir nicht den Satz zu beenden, er zog mich im Eilschritt mit sich fort.
„Keine Zeit, stehenzubleiben“, stammelte er keuchend, „ich muss in fünf Minuten bei der Galerie Hilger sein, und wenn ich nicht rechtzeitig dort bin, dann frisst mir das Gesindel wieder die besten Stücke weg.“
„Gesindel? Galerie Hilger? Seit wann bist du kunstsinnig?“, schnaufte ich, während er mich in eine Seitengasse schleifte.
„Ich erkär Dir alles später, aber mach mir jetzt den Gefallen und tu so, als ob du ein vermögender Kunstsammler bist und dich für diese jämmerliche zeitgenössische Kunst interessierst.“ Bevor ich noch etwas antworten konnte, hob er mich auf die Beine, klopfte den Staub von meinen Hosenbeinen und schubste mich durch den Eingang in die Galerie. Misstrauisch nahm uns der Inhaber ins Visier, aber ehe er noch Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, schlüpften weitere Galeriebesucher durch die Tür und verstellten ihm die Sicht auf uns.

„Los, auf zum Büffet“, flüsterte Michi mir ins Ohr. „Schau auf die Bilder, nicke beifällig und arbeite dich langsam aber stets an die Fressalien ran.“
Ich verstand noch immer nicht, was das sollte. „Kannst du so freundlich sein, und mir erklären, was hier eigentlich vorgeht?“, zischte ich ihn unwirsch an.

„Herrgott, sei doch nicht so begriffstutzig“, warf er mir mit einem ungeduldigen Blick und Geste des Bedauerns für soviel angeborene Dummheit zu. „Wir sind hier, um bei dieser Ausstellungseröffnung das Gratisbüffet zu stürmen. Ist doch nur gerecht, als Entschädigung für die Betrachtung dieser künstlerischen Armseligkeiten sich am Büffet schadlos zu halten.“ Und schon griff er auf das Tablett mit den Kaviarbrötchen und stopfte sich in routinierter Geste mit seiner Linken drei Stück auf einmal in den Mund, während die Rechte grosszügige Stücke der Lachspastete auf ein Tellerchen schaufelte.

„Hier, halte mal“, murmelte er und schon hatte ich 2 Teller und 2 Gläser Prosecco in der Hand. In der Zwischenzeit hatte der Galerieinhaber wieder freie Sicht auf uns gewonnen und stampfte finsteren Blickes auf uns zu. Durch ein geschicktes Manöver bugsierte ich Michi auf die andere Seite des Büffets, und zwei ältliche Galeriebesucherinnen vor den Inhaber. Auf diese Weise gezwungen, sie zu begrüssen, hatten wir eine Verschnaufpause gewonnen.
Michi war bereits zu den Nachspeisen gekommen und lud gerade haufenweise Cremebällchen, Schokoladekuchen und Vanillepudding auf seinen und meinen Teller, als es zu einem unschönen Zwischenfall kam. Eine ältere Dame schlug ihm mit den Spazierstock auf die Finger und lud während seiner kurzzeitig schmerzbedingten Unachtsamkeit die letzten Schokoladeeiskugeln in einen Isolierbehälter.

„Diese alte Vettel! Gieriges Gesindel!“ Auch ich war empört. Gerade rechtzeitig fiel mein Blick wieder auf den Galeriebesitzer, den die Besucherwelle von einer Seite zur anderen warf, nur diesmal in Richtung Büffet und damit zu uns. Schnell stiess ich einem anderen Vertreter des gierigen Gesindels mit dem Ellbogen in die Nieren und nutzte die so entstandene Verwirrung, um Michi und unsere Teller unbeschadet vom Galeriebesitzer aus dem Ausstellungslokal zu bringen.

Kaum hatten wir eine andere Seitengasse erreicht, nahm ich mir Michi zur Beichte an die Brust. „Könntest du jetzt bitte so freundlich sein, mir das alles zu erklären?“.
Michi schluckte die letzten Bissen seines Schokoladenkuchens hinunter, wischte sich am Ärmel ab und sah mich mitleidig an. „Weil du scheinbar wirklich begriffstutzig bist und nicht nur simulierst, will ich es dir langsam erklären. Ich bin Mitglied der Ehrenwerten Frühstücksgesellschaft.“ Sein Blick verriet Stolz und er erwartete offensichtlich von mir, dass ich nun wissend nicke und bewundernd vor ihm zusammenbräche. Da seine Worte auf mich aber nicht die gewünschte Auswirkung hatten, gab er, alle Hoffnung auf meinen geistigen Zustand fahren lassend, auf und weihte mich ein.

„Schau, du Dummerl, die Ehrenwerte Frühstücksgesellschaft ist ein Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, seinen Mitgliedern alle Informationen zu Vernissagen, politischen Versammlungen oder sonstigen Veranstaltungen zukommen zu lassen, bei denen es Gratisbüffets gibt. Um Mitglied zu werden, musst du dem Verein fünf solcher Veranstaltungen mitteilen. Erst dann wirst du in den elitären Zirkel aufgenommen.“

„Du willst mir doch damit nicht sagen, dass du in dem Verein Mitglied bist und auf solchen Veranstaltungen auf regelmässigen Raubzug gehst?“ fragte ich ungläubig.

„Tsatsa, Raubzug!“ Er war gekränkt. „Das sind doch keine Raubzüge. Ohne uns wären die Ausstellungen doch leer und die Veranstalter blieben auf ihren Häppchen sitzen. Die angekarrten Vertreter von der Presse, übrigens selbst die grössten Büffetfresser, lassen sich zumeist von der Menge der Leute irreführen und missinterpretieren das als aufrichtiges Interesse an der Ausstellung. Konsequenz ist: sie schreiben einen ausführlichen Artikel und machen Werbung. Und ausserdem, ich bin bereits stellvertretender Präsident des Vereins.“ Er richtete sich zu stolzer Pose auf.

Ich sah das ein. Die Sache interessierte mich. Wenn ich die miese Bezahlung durch meine Verleger betrachtete, konnte sparen am Verköstigungsgeld nicht schaden. Und obendrein tat ich was Gutes für die Veranstalter. „Kann ich auch Mitglied werden?“
Michi sah mich zuerst ungläubig und dann strahlend an. „Aber selbstverständlich. Dich als meinen alten Freund mache ich sogleich zu meinem Assistenten. Zufällig beginnt in zwei Stunden eine Buchparty im The British Bookstore anlässlich des Erscheinens des neuen Harry Potter Bandes. Dort soll es ein magisch gutes Büffet geben.“

Wir machten uns sogleich auf dem Weg, da wir dem sonstigen Gesindel die Möglichkeit vereiteln wollten, sich vor uns Zutritt zu verschaffen. Auf dem Weg zur Buchhandlung erörterten wir beide die beste Strategie, am raschesten zu den Leckereien zu gelangen. Um die Buchhandlung waren die Strassenzüge bereits weiträumig von der Polizei abgesperrt, und die Menschenmassen drängten sich um den Geschäftseingang. Die vielen als Hexen und Zauberer verkleideten Kinder sollten für uns nicht wirklich ein Hindernis sein. Zur Not müssten wir sie eben an ihren Hexenumhängen wegzerren oder mit den Zauberstäben versohlen. Am Büffet kennen wir keine Freunde.

Kaum öffneten sich die Pforten der Buchhandlung, liefen wir los, unbeachtet der Kinder und Eltern. Der unvorsichtige Buchhändler kollidierte mit einem Buchständer, einige Kinder glitten auf den vorsorglich von mir ausgestreuten Murmeln aus. Nur die alte Vettel aus der Galerie war schneller als wir und blockierte die Längsseite des Büffets mit ihrem Gehstock.
Wir nahmen die andere Seite in Beschlag und legten los. Wie ein gut eingespieltes Team kümmerte Michi sich um den Zugriff auf die Prosciutto-Brötchen, Schinkenröllchen und Hühnerkeulen und ich verteilte inzwischen die Beute nach Gewicht und Grösse sortiert auf den wie immer zu kleinen Tellern. Stockwerk für Stockwerk baute ich so das Turmgebilde auf. Herunterfallende Teile fing ich mit der Zunge auf und ass sie gleich an Ort und Stelle.

Auf einmal verspürte ich einen stechenden Schmerz in der Seite. Die Türme in meinen Händen wankten bedrohlich. Ein Kind hatte mich mit dem Zauberstab in die Leisten gestochen und sich nach vorne gearbeitet. „Du kleiner Fratz!“, zischte Michi, „Schleich Dich fort oder ich werde Dich Deinen Zauberfummel gleich verspeisen lassen.“
„Wie reden Sie denn mit dem Kind?“, herrschte uns der aus seinem Buchständer befreite und überraschend aufgetauchte Buchhändler an.

„Weil ich Sie gleich da hab’“, begann Michi mit säuerlichem Blick an den Buchhändler gewandt, ohne auf die Frage näher einzugehen. „Was denken Sie sich eigentlich dabei, ein solch minderwertiges Büffet anzubieten? Dieses Lachsbrötchen kennt Lachs nur vom Hörensagen. Und der Apfelsaft ist wohl deshalb so dünn und blass, weil er sich schämt, als reines Wasser nicht näher am Apfelbaum vorbeigeflossen zu sein? Und ausserdem: haben Sie überhaupt eine Ausschanklizenz?“

Der Buchhändler erbleichte und stammelte seine Entschuldigung. Er führte Michi und mich zu einer abgesperrten Regalreihe und zog aus einem versteckten Kühlschrank erstklassigen Champagner und Kaviarröllchen. „Melden Sie mich bitte nicht!“, flehte er uns beschwichtigen an. „Ich habe 5 hungrige Mäuler zu stopfen, meine alte Mutter ist schwanger, und mein Dackel hat ein Blasenleiden.“ Tränen schossen ihm in die Augen. „Wissen Sie überhaupt, was solch eine Ausschanklizenz in Wien kostet? Dazu müsste ich tausende Harry Potter Bücher verkaufen, um das wieder reinzukriegen. Abgesehen von der ganzen Rennerei wegen der Stempel und Formulare. Das wäre mein Ruin.“ Er brach zitternd zusammen.

Michi klopfte ihm auf die Schulter und bot ihm Apfelsaft zur Stärkung an. „Also gut, ich lasse mich heute nochmals erweichen. Aber dass mir das nicht nochmals unterkommt.“ Der Buchhändler küsste ihn vor Dankbarkeit und stopfte ihm noch ein paar kalte eingepackte Schnitzel in die Sakkotasche.

Michi war ein Profi, ich bewunderte ihn. Er war nicht umsonst der stellvertretende Vorsitzende. Wenn nur nicht dieses gierige Gesindel überall wäre, besonders diese alte Vettel. Aber gegen die konnte man nichts machen. Sie war die Präsidentin der Ehrenwerten Frühstücksgesellschaft.
 



 
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