Die Endlichkeit

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Parislille

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Die Beschissenheit des Lebens liegt nicht in seiner Endlichkeit. Es sind vielmehr die Gedanken, die sich in einer unendlichen Schleife darum drehen.
In dieser Nacht träume ich von meiner Mutter. Genau genommen träume ich von einem Bild, an dem ich gerade arbeite. Sie sitzt dabei auf einer Bank unter meinem Lieblingsbaum im Garten meines Elternhauses. Es ist eine Trauerweide, die ihre Äste wie langes, lichtes Haar herunterhängen und das Gesicht meiner Mutter samt knorrigen Baumstamm mehr als nur erahnen lässt. Ich habe sie gemalt, ich kenne ihr Gesicht und doch sehe ich sie mir jetzt genau an. Meine Mutter ist eine schöne Frau. Im Traum ist ihre Haut jedoch so faltig, wie sie es in Wahrheit gar nicht ist. Sie wäre gerne eine richtige Großmutter, daher die Falten, denke ich. Sie wartet seit Jahren auf einen Enkel, für den ich als Einzelkind zuständig bin. Das sagt sie manchmal und lacht, damit ich nicht mitkriege, wie ernst es ihr damit ist. Spätestens beim Thema biologische Uhr glaube ich nicht, dass sie Witze macht.
Der Wecker klingelt. Mit geschlossenen Augen die rechte Hand hochheben, sinken lassen. Wie Nebel kriecht der Kopfschmerz an seinen Platz. Der kalte Luftzug sucht sich den Weg unter die Decke. Diese Seite des Bettes ist noch immer ein wenig warm. Ralf ist wohl eben gegangen, ohne mich geweckt zu haben. Decke runter, Drehen, Strecken, linke Hand dabei hochheben und die vordere Klappe des Weckers nach vorne ziehen. Ruhe! Unter die Decke zurückkriechen. Einen Moment noch liegen bleiben. Nur nicht wieder einschlafen! Ich will um Acht im Atelier sein. Dann ist da noch niemand und ich kann für ein paar Stunden arbeiten ohne mit Fragen gelöchert zu werden. Alle sagen, ich habe mich verändert, niemand traut sich Vermutungen anzustellen. Der Kaffeegeruch sucht sich in feinen Schwaden den Weg über den Flur direkt in meine Nase. So scheint es mir zumindest und so öffne ich nun doch meine Augen und beschließe aufzustehen. Den Puls in meinem Kopf versuche ich zurückzudrängen. Dafür starre ich eine Weile an die Decke, wo ich die weißen Duftkringel vermute, finde sie nicht, drehe mich auf die rechte Seite und klettere wie eine Schildkröte aus dem Bett. Ohne Hausschuhe an den Füssen schlappe ich im Dunkeln in die Küche, fülle meinen Becher mit Tiramisukaffee und sehe durchs Fenster auf die Straße hinaus. Im Schnee vor dem Hauseingang glitzert mir eine Fußspur entgegen, die von dem Haus weg davonführt und sich ein paar Meter weiter verliert. Ich beobachte sie solange, bis sie nicht mehr zu sehen ist. Schicht für Schicht bedeckt sie der Schneeflockenflaum. Tack-Tack. Ich weiß nicht, wie lange ich da stehen bleibe. Die Füße auf dem Fliesenboden, der Becher in meinen Händen. Mir ist kalt und ich überlege, wie spät es jetzt sein mag, trete auf der Stelle, stelle den Becher ab und gehe ins Schlafzimmer, um mich fertig zu machen. Unterwegs vergesse ich diese Sache mit der Zeit. Seit die einzige Uhr in meiner Wohnung die ist, die eine Weckerfunktion hat, hat sich mein Blick auf das Thema verändert. Es war die Idee meines Mannes, ein Trick, um sich den Dingen zu widmen, die am wichtigsten sind. Laut Ralf sind es die Abende und Nächte, die wir gemeinsam verbringen. Laut Monika, meiner Freundin und Partnerin im Atelier, ist es die Kunst, für die wir leben. Meine innere Uhr sagt mir, dass es auch etwas anderes sein könnte. Ich denke an den Wunsch meiner Mutter, trete ins Badezimmer, stelle mich vor den Spiegel und beginne meine Zähne zu putzen. Zwischen den einzelnen Auf- und Ab- Bewegungen der Zahnbürste atme ich den Geruch von Minze ein. Kurz hinaufsehen, das Gesicht vor sich bloß nicht betrachten, sondern nur streifen. Ich sehe älter aus, als ich in Wahrheit bin. Vierunddreißig ist doch kein Alter, um auszusehen wie eine Trauerweide. Vierunddreißig ist doch kein Alter, um die biologische Uhr zu hören.
Tack-Tack-Tack. Ich spüle mir den Mund aus, beuge mich nach vorne, um den letzten Rest der weißen Flüssigkeit auszuspucken und komme mir für einen Moment wie diese Trauerweide im Garten meines Elternhauses vor. An manchen windigen Tagen hatte ich früher dort draußen auf der Bank gesessen und dem alten Baum dabei zugesehen, wie er seine Äste unter dem unsichtbaren Gewicht hinunter ließ, um sich bald darauf wieder aufzurichten. So beuge auch ich mich nach vorne, denke an Ralf und meine Mutter, denke an die Fußspuren vor unserem Haus und daran, dass es in neun Monaten keine zweite Spur neben den Fußabdrücken von Ralf geben wird. Kurz in den Spiegel sehen. Lächeln. Eine Fußspur, die von dem Haus wegführt und schon bald verschwindet, sehe ich statt meinem Gesicht im Spiegel. Jetzt wieder das Gesicht. Ich gehe raus, greife zum Telefon. Sogar das Handy habe ich wie die Uhren aus meinem Leben verbahnt. Eine verrückte Künstlerin, haben viele Freunde gesagt und dabei geschmunzelt. Seit meine Bilder sich gut verkaufen, kann ich mir solche Verrücktheiten leisten. Seit keine Uhr mehr mein Leben bestimmt, hat die Zeit ihren Schrecken verloren. Ein zeitlich begrenzter Luxus, schmunzle auch ich jetzt. Das Telefon hat durchgewählt. „Ja, schwindlig“, sage ich, nicke und setze mich auf den Badewannenrand. „Nein, meine Familie weiß es noch nicht“, sage ich ein paar Minuten später. „Ich weiß und ja, ich werde es ihnen sagen. Danke, Herr Doktor!“ Auflegen, Durchatmen. Unter diesen Umständen ist es normal. Gut. Normalität gibt mir Sicherheit. In der zeitlosen Normalität bin ich am glücklichsten. Ich fahre los. Unterwegs sehe ich, wie gut ich in der Zeit bin. Es ist fünf nach Acht, als ich die Tür zur Galerie aufschließe und das Atelier betrete. Fünf nach Acht, nur fünf Minuten zu spät. Ich tausche meinen Mantel gegen einen verschmierten Arbeitskittel. Der Schwindel hat sich verstärkt. Immer wieder muss ich mich hinsetzen und durchatmen. Ich rolle einen Stuhl vor die Leinwand, an der ich seit wenigen Tagen sitze. Ich weiß, dass ich es ihnen sagen muss. Monika hat schon gefragt, was das Bild soll. Meine Intention, es nicht zu verkaufen, hat Erstaunen bei ihr ausgelöst. Ich lebe davon, Bilder zu verkaufen. „Sie sind Ihre Familie und sie sollten wissen, was los ist“, hat der Arzt gesagt. Ich rolle mit dem Stuhl näher heran. Meine Familie, lächle ich, schließe die Augen und sehe mich an einer Babywiege, meine Mutter daneben. Sie ist glücklich. Zum ersten Mal, seit ich erwachsen bin, ist da jemand, der ihr eine Weile nicht widersprechen wird. Ralf kommt aus der Küche, hält mir ein Fläschchen entgegen. Ich versuche zu lächeln, doch das Bild in meinem Kopf verwischt. Das Bild auf der Leinwand hingegen ist fast fertig. Ich nehme noch etwas Deckweiß, rühre es an, stecke einen flachen Pinsel ins Öl und beginne mit den Abschlussarbeiten. Verfeinerungen. Kleinigkeiten. Nichts wirklich Großes und doch sind das die wichtigsten Details. Heute sind es die Fußspuren neben denen von Ralf, die ich hinzufüge. Der Schatten des Baumes im Schnee bekommt etwas Glanz und auf der Haut meiner Mutter verschwinden unter der Farbe ein paar dunkle Falten. Sie ist zu jung, um Großmutter zu sein, denke ich. Leise erklingt die Türglocke und ich höre jemanden den Laden betreten. Noch bevor ich aufspringen kann, begreife ich, wer es ist und bleibe sitzen. Es ist Ralf und wir sind erst später verabredet. Er tritt hinter meinem Rücken näher und stellt sich hinter mich. „Sind wir das?“, fragt er und legt seine Hände auf meine Schultern. Ich nicke. Ich weiß, was er gleich noch fragen wird. Das Bild heißt Familie, das habe ich ihm erzählt. Und das kleinere Paar der Fußabdrücke darauf verschwindet unterwegs, obwohl es gar nicht schneit. „Du musst mir etwas sagen, oder?“, flüstert er. Er ahnt, dass ich weiterverhütet habe, das weiß ich. Ich habe ihn angelogen. Ich habe meine Mutter angelogen. Dabei habe ich nur meine Familie schützen wollen. Aber wie sagt man in einem solchen Fall die Wahrheit? Wie sagt man jemandem, den man liebt, dass seine Witze nicht witzig sind und dass die biologische Uhr in Wirklichkeit keine Uhr ist? Tack-Tack. Es ist eine Bombe, die jederzeit hochgehen kann. Es hört sich nur gleich an. Das Ticken meine ich. Tatsächlich aber liegen Welten dazwischen. Ich atme durch, fühle den Kopfschmerz, wie er pulsierend anschwillt, versuche mich zu entspannen. Es stimmt so nicht, doch ich bilde mir ein, meine innere Uhr zu hören. Es ist, als sehe ich den Minuten- und auch den Stundenzeiger zusammen nach vorne springen. Wie sagt man jemandem, dass ein geplantes Plus Eins eher ein Minus Eins werden wird? Ich lehne mich zurück und atme den letzten Augenblick ein, in dem ich allein im Kreis gelaufen bin.
Die Unendlichkeit der Erinnerung ist vielleicht das Einzige, was die Gedanken um die Endlichkeit des Lebens wettmachen wird. Irgendwann. Auch wenn ich weiß, dass es für diesen Moment kein Trost für Ralf ist, wie es auch kein Trost für meine Mutter sein wird. Es ist so etwas wie das Deckweiß auf meinem Bild. Das kleine Detail, das im Kampf gegen das große Ganze ein Trost ist. Zumindest für mich. Auf diesem letzten Bild bin ich da, auch wenn ich nicht da bin.
 

IDee

Mitglied
Habe seit langem keinen so spannenden Text mehr gelesen.
Sehr schön die Passage mit den Fußspuren im Schnee. Insgesamt eine tolle bildliche Darstellung.
Beste Grüße
IDee
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Parislille,

großartig! Ein sehr guter Text mit gekonnter Verdichtung, gefühlvoll umgesetzt mit überzeugend beschriebenen Bildern. Großes Kopfkino!


Was mir auf die Schnelle auffiel ([blue]blau[/blue] = Vorschlag):

Im Traum ist ihre Haut jedoch so faltig, wie sie [strike]es[/strike] in Wahrheit gar nicht ist.

die von dem Haus weg [strike]davon[/strike]führt

Seit die einzige Uhr in meiner Wohnung [blue]ein Wecker[/blue] ist [strike]die ist, die eine Weckerfunktion hat,[/strike] hat sich mein Blick auf das Thema verändert.

Sogar das Handy habe ich wie die Uhren aus meinem Leben [strike]verbahnt[/strike] [blue]verbannt[/blue]


Seit keine Uhr mehr mein Leben bestimmt, hat die Zeit ihren Schrecken verloren. Ein zeitlich begrenzter Luxus, schmunzle auch ich jetzt.
[red]- Großartig![/red]


Womöglich wäre es für den Textfluss gut, ein paar Absätze einzufügen - besonders dann, wenn sich die Handlung-der Schauplatz-Gedanke-die Rede ändert.


Freue mich auf mehr "Text" von dir :)

LG, kageb
 



 
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