Die Ernüchterung

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Goya

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Die Ernüchterung

„Das ist mehr als nur Fiktion,“ sagte der Professor und klopfte mit seinem Kreidestück kleine Punkte an die Tafel, die wie Sterne aussahen, „wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass zum Beispiel Zeitreisen eine reale Implikation moderner physikalischer Theorien sind, jedenfalls nach dem heutigen Stand der Wissenschaft.“ Ich saß auf einem Tisch im alten, mit Holz ausgelegten Seminarraum, dessen Wände an drei Seiten mit von Kreide vollgekritzelten Tafeln bedeckt waren, dunkelgrün, beinahe schwarz. Durch die vierte Seite schien goldblendend die späte Sonne. Es war schon etwas ruhiger geworden im Gebäude, nur ab und zu drangen Geräusche von Türen oder über den Boden quietschenden Sohlen herauf. Wir waren, seit Stunden schon, hoffnungslos vom Thema abgekommen, denn ich hatte mich mit ihm allein aus dem Grund verabredet, um über Stern-Brod zu reden. Der kürzlich verstorben war. „Natürlich brauchen Sie einigermaßen viel Energie, um kosmische Strings zu erzeugen, nicht wahr, also Strings von großer Länge, und dann eben stabile, makroskopische Wurmlöcher.“ Ich musste unwillkürlich gähnen, es war mir sofort peinlich, aber ich verstand so wenig, von dem, was mir der runde alte Mann mit den buschigen Augenbrauen in seiner langatmigen Art erzählte, dass ich nicht anders konnte. Er trug, das war mir natürlich gleich aufgefallen, scheußliche grüne Gummistiefel über der grauen Hose, die mit Hosenträgern über das weiße Hemd gespannt war. „Praktisch, nicht?“ hatte er gesagt, bevor ich ihn deswegen etwas fragen konnte. Und jetzt wusste ich nicht, ob er tatsächlich über Zeitmaschinen redete, ob es wieder nur ein rein theoretisches Argument war, oder ob es sogar um etwas ganz anderes ging und er nur missverständliche Ausdrücke verwendete. So wie kurz zuvor beim Dschinn, den er als Kreis in der Raumzeit an die Tafel gezeichnet hatte, und der sich von der Weltlinie des normalen Zeitreisenden, die wie ein mäanderndes Flussbett aussah, logisch fundamental unterschied. ‚Nicht wahr?’ Inzwischen hatte seine Hand die Linien wieder unscharf gewischt, sie sahen jetzt aus wie das Band der Milchstraße, in welche die Hand des Professors nun neue Supernovae einstreute. Er sah mich lächelnd an, während er eine kurze Redepause machte, um sofort wieder anzuheben: „Die Zukunft, das machen sich die meisten Menschen nicht klar, ist die Zeit, in der alles determiniert, alles bereits festgelegt ist, aber die Vergangenheit, die ist für den Physiker offen! Jeder Zustand kann aus beliebig vielen anderen Zuständen hervorgegangen sein, und man sieht ihm nicht an, aus welchem. Aber der nächste Zustand muss, ja, muss zwingend ein ganz bestimmter sein, den man durch Kenntnis der Naturgesetze, also der Transformationsregeln, genau angeben kann.“ Ich fühlte mich plötzlich angesprochen, als Historiker und Biograf, und meinte, etwas entgegnen zu müssen. „Aber es gibt doch Quellen, Zeitzeugen, und natürlich Erinnerung. Man weiß doch, welche Vergangenheit die richtige ist. Und die Zukunft? Völlig unmöglich, praktisch unmöglich meine ich, sie vorherzusagen.“ Daraufhin drehte sich der Physiker eine Weile zur schwarz gewordenen Tafel, um nachzudenken.
Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, das Thema zu wechseln und wieder auf Stern-Brod zurückzukommen. „Ein ganz Großer, vielleicht der Größte“, hatte mir mein Gegenüber in Gummistiefeln sofort zu verstehen gegeben, war dann auch gleich auf meine Bitte eingegangen, mir zu erklären, was ihn denn so groß gemacht hatte. Stern-Brod war ein akademischer Außenseiter gewesen, der nur ein Mal in seinem Leben mit einer spektakulären Veröffentlichung ins Rampenlicht des Wissenschaftsbetriebs getreten war. In kurzer Zeit wurde er zu einem Star, nahm das Angebot an, forthin auf einem prominenten Lehrstuhl an einem der angesehensten Forschungsinstitute der Welt zu forschen, jedoch sollte er nie mehr etwas Signifikantes veröffentlichen. „Die Welt des Physikers, müssen Sie verstehen, ist die einfache Welt. Nichts Komplexes kommt darin vor, sehen Sie?“ Ich nickte, obgleich ich gerade das Gegenteil dachte. „Ihre Zeugnisse der Vergangenheit, sie sind doch nicht absolut verlässlich, oder? Es könnten Fälschungen darunter sein? Könnten? Natürlich wäre das ungewöhnlich, unwahrscheinlich, eben weil Sie über unsere, komplexe Welt reden, über die Wirren der Geschichte, über, über Menschen eben, und die sind völlige Anomalien in der Welt. Ich hingegen rede über die reguläre Welt, über Sterne, Planeten, Elementarteilchen. Da gibt es keine Erinnerung, keine Archive. Da ist alles so einfach, dass die Zukunft relativ leicht vorherzusagen ist, die nächste Sonnenfinsternis, den Zerfall eines Atoms. Aber die Vergangenheit? Darüber können wir kaum eine Aussage treffen!“ Ich war verwirrter denn je, erklärte ihm, dass auch für den Historiker die Vergangenheit keineswegs ein bloßes Faktum sei, vielmehr historische Wahrheit erst in ihrer Rekonstruktion entstehen würde, wobei es immer darauf ankäme, wer gerade die Deutungshoheit besäße. „Na, eben, Sie verstehen mich doch, da haben wir es.“ sagte er.
Ich hielt diesen Moment für die richtige Gelegenheit, um das Gespräch wieder auf Stern-Brod zu lenken. „Sie wissen sicher, dass ich einer der Wenigen bin,“ nickte er mir zu, „einer der ganz Wenigen, die Stern-Brod schon kannten, als er noch ein Niemand war. Ich hatte ihn kennengelernt auf einer Konferenz, bei einem Vortrag eines Kollegen. Es traf sich, wir trafen uns gewissermaßen, weil wir den Vortrag im selben Augenblick verließen, da wir, wie sich herausstellte, den gleichen Irrtum im Gedankengang des Vortragenden meinten festgestellt zu haben. Im Gespräch stellte sich sofort heraus, dass Stern-Bord auf meinem Gebiet höchst versiert und zudem noch von bestechender Intelligenz war, dabei jedoch bedächtig und, wie soll ich es beschreiben, ruhig eben. Ganz ruhig, von nur mildem Interesse für mich und überhaupt, für alles, für den ganzen Wissenschaftsbetrieb. Ich fragte ihn, wo er lehrte, und er schüttelte nur lächelnd den Kopf. Stern-Brod, dessen Name ich noch nie gehört hatte, arbeitete nicht, veröffentlichte nicht, unterrichtete niemanden, ließ sich auf keine Karriere ein. Er sagte, das würde ihn ablenken und ich nickte beipflichtend. Stern-Brod, so wurde mir bald klar, hatte sein ganzes Leben allein der Ausarbeitung seiner eigenen Theorie untergeordnet, aß wenig und kurz, verließ seine Wohnung selten, lebte in größter Bescheidenheit und hatte sich nichts anderes vorgenommen, als die große Teilung zu überwinden, welche die theoretische Physik seit einem Jahrhundert befallen hatte. Nicht, unser Erklärungsmodell für die makroskopische Welt, Ihre Welt, die Welt der Menschen, nicht wahr, war unbrauchbar für die Beschreibung der kleinsten Teilchen, die uns eigentlich interessierten. Für die gab es auch eine Theorie, aber beide passten nicht zueinander. Es gab also keine gültige Physik, sondern zwei, mindestens. Schrecklich. Stern-Brod hatte einen ganz neuen Ansatz. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn damals verstand. Ehrlich gesagt, habe ich ihn auch nicht sehr ernst genommen. Möglicherweise, ich weiß es nicht, war ich auch etwas beleidigt, weil Stern-Brod in kurzer Zeit alle meine Aufsätze gelesen und detailliert kritisiert hatte. Dadurch hat er mich vor vielerlei Dummheiten bewahrt. Aber eben auch davor, mit diesen Dummheiten, die damals noch als avancierte Theorievarianten galten, eine große wissenschaftliche Karriere zu machen. Das wäre durchaus möglich gewesen nach dem damaligen Forschungsstand. Doch sollte ich etwas veröffentlichen, von dem ich selber erfahren hatte, dass es ein Irrweg war? Ich gab jedenfalls den Kontakt zu Stern-Brod nach kurzer Zeit völlig auf. Und dann, siebzehn Jahre später, kam er ganz groß heraus mit dem Ergebnis seiner wissenschaftlichen Einsiedelei. Mir hatte er zuvor einmal lächelnd beschrieben, wie er sich das vorgestellt hatte, den kurzen Moment des Glücks, auf den er hinarbeiten wollte. Diese tiefe Befriedigung, welche ihn entschädigen sollte für die Arbeit, für die Entsagungen, die fehlende Anerkennung, das Leben außerhalb der gesellschaftlichen Existenz, wie er gesagt hatte. Natürlich habe ich ihm als einer der ersten gratuliert. Als einer der ersten, meine ich, die seine Ideen studiert, überprüft hatten. Da war er selbst aber in den Augen der Öffentlichkeit schon längst ein gefeierter Star, ein Jahrhundertgenie, wie das Fernsehen festgestellt hatte. Nun, Sie können sich vorstellen, wie überrascht ich war, dass er sofort abwinkte, kaum, dass er mich sah. Der Moment, sagte er gleich, er habe sich nicht eingestellt. Ich fragte, warum, seine Veröffentlichung sei doch bahnbrechend. Da lächelte er dann wieder fein und nickte. Ja, ja, aber eben nur bahnbrechend, sagte Stern-Brod. In den letzten 17 Jahren habe er durch seine Arbeit so zahlreiche neue Erkenntnisse über die Unzulänglichkeiten unserer Physik gesammelt, dass ihm die Vorläufigkeit seiner neuen Theorie längst bewusst sei. Ich starrte ihn an. Er erklärte mir, ihm sei es gewissermaßen peinlich, seine Ergebnisse veröffentlicht zu haben, ihm sei völlig klar, wo die Probleme lägen, er hätte unter gewöhnlichen Umständen die Veröffentlichung nie in Betracht gezogen.“
„Aber Sie hatten seine Theorie doch überprüft?“ sagte ich, während ich von meinem Notizblock aufschaute, auf dem sich die Fragezeichen gemehrt hatten. Der Professor zuckte mit den Schultern: „Stern-Brod hatte nicht einmal die Hälfte dessen herausgegeben, was er damals wirklich wusste. Er war unterwegs auf ganz neue Erkenntnisse gestoßen, die beide Theorien, die er erfolgreich vereinigt hatte, größtenteils in Frage gesellt hatten.“ „Dann ist das also der Grund, warum er nie wieder einen wissenschaftlichen Erfolg feiern konnte.“ bemerkte ich, doch der Professor erschrak förmlich und schüttelte erst langsam, dann heftiger den Kopf: „Nein, nein, Sie haben mich doch vorhin gehört, er war ein ganz Großer, vielleicht der Größte überhaupt. Sein Wirken hatte damals doch eigentlich erst begonnen!“
Draußen war es dunkel geworden, nur die Lichter der Stadt leuchteten vom Tal herauf. Sie glitzerten als kleine Glanzpunkte auf den schwarzen Scheiben, so dass jetzt auch die vierte Wand aussah wie der Sternenhimmel. Auf den Schiefertafeln waren die Sterne, die der Professor im Reden achtlos ins All getippt hatte, mit den komplizierten Formeln der Physik überzogen, immer wieder verwischt und überschrieben. Auf dem schwarzen Glasband hingegen waren sie von unseren matten Spiegelbildern unterlegt, die im kalten Licht der Neonröhren an der Decke bleich und ungesund aussahen. Eine kleine, füllige Gestalt in Stiefeln, die nachdenklich nach unten blickte, in Erinnerungen versunken. Und daneben meine hagere Silhouette, irgendwie unruhig und instabil, als ob ich jederzeit umkippen könnte.
„Es geht um den Zufall. Wissen Sie, wir, also wir Physiker, hatten uns im Grunde daran gewöhnt, den Zufall als Teil unserer Welt zu akzeptieren. Ihn durch Statistiken auszumitteln, gewissermaßen zu verleugnen. Hatte ich nicht vorhin den Zerfall eins Atoms erwähnt? Vor Stern-Brod galt das als ganz zufälliges Ereignis. Niemand hätte ernsthaft versucht, vorherzusagen, wann ein einzelnes Atom zerfällt. Aber ihm ist klar geworden, dass es nötig sein würde. In das Atom hineinzusehen. Dass ganz neue Forschungszweige entstehen mussten, weil ohne Determinismus keine Wissenschaft möglich ist. Und da stand er nun, vor seinem Lebenswerk, bei Entstehung bereits eine Ruine. Verstehen Sie, er musste diese Türen aufstoßen, um zu seiner Lösung zu kommen, aber hinter ihnen musste er leider auch zu seinem Entsetzen erkennen, dass all unser bisheriges Wissen in seiner Unvollständigkeit naiv war.“
Ich hatte noch mehr Schwierigkeiten, ihm zu folgen, als zuvor, aber vor meinem Auge entstand schemenhaft wie unsere Spiegelbilder im Fenster das Porträt von Stern-Brod, der sich durch seinen eigenen Erfolg alles zerstört, die Grenzen der Wissenschaft selbst verschoben hatte und sie nun nicht mehr zurücknehmen konnte. Ein tragisches Genie. Verzerrt wurde dieses Bild jedoch von einer Aussage meines Gegenübers von vorhin. Der zufolge Stern-Brods Karriere keineswegs an ein frühes Ende gekommen wäre. „Ja,“ bekräftigte er auf meine Nachfrage, „aber natürlich ist das schwer nachzuvollziehen. Wissen Sie, Stern-Brod hat mit voller Absicht aufgehört, zu veröffentlichen, im Grunde sogar, bevor er damit überhaupt angefangen hatte.“ Ich blickte nachdenklich in seine Augen, die jählings verschmitzt zusammengekniffen waren und etwas Listiges bekommen hatten. „Er bevorzugte, und das ist seine größte Leistung, lieber eine ganze Generation von Physikern zu überzeugen, seine Ideen weiterzuverfolgen, und trat selbst nicht mehr als Wissenschaftler auf. Aber, Stern-Brod hat alle seine Notizen großzügig verteilt, die richtigen Stichworte gegeben, alle Entwürfe, die wir anderen geschrieben haben, gelesen und korrigiert wieder zurückgegeben. Er ist, und das war die eigentliche Absicht hinter dem einzigen Aufsatz, den er je veröffentlicht hat, zum Netzwerker unserer ganzen Wissenschaft geworden. Ja, nicht wahr, ohne die Aufmerksamkeit, die ihm der Aufsatz eingebracht hat, wäre er nie so einflussreich geworden. Nur deshalb hat er sich an die Öffentlichkeit gewandt. Dabei musste Stern-Brod selbst fortan im Hintergrund agieren, um effizienter arbeiten zu können. Er war es, der das Zusammenwirken der unzähligen Zweige der Disziplin organisiert hat, Zweige, die er selbst alle geschaffen hatte. Wie oft hat er unserer Gruppe an schwierigen Punkten weitergeholfen, und allen anderen auch. Er war überall gleichzeitig und musste sein Leben noch viel radikaler rationalisieren, da jede seiner Sekunden zählte. Ich habe mich oft gefragt, ob Stern-Brod nicht in Wahrheit der letzte Wissenschaftler war, und gleichzeitig der erste Beweger von etwas ganz Neuem. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“ Ich nickte, während ich zum Schein eifrig Notizen niederschrieb. Das Bild von Stern-Brod war vor meinem inneren Auge verschwunden, er war zum bloßen Phantom geworden. Ein Schatten, der alle Physiker begleitete. Ich hatte keine Ahnung, was ich über ihn schreiben sollte. Es war inzwischen tiefe Nacht geworden und wir mussten das Gebäude verlassen, um nicht eingeschlossen zu werden. Auf dem Weg nach unten achtete ich auf den Schatten des Professors, der sich nur schwach auf dem Weg abzeichnete, der über die Rasenfläche vor dem Institut führte. Ich sagte, ich weiß nicht, ob im Scherz, dass nun wohl die Nacht über die Wissenschaft hereingebrochen sei. „Wir werden sehen.“ sagte der Professor, wie zum Abschied. Stern-Brod war diese Nacht.
Doch dann, kurz bevor er sich umdrehte, um im Dunkeln zu verschwinden, diktierte mir mein Professor noch etwas ins Notizheft, dass ich blind niederschreiben musste. „Einmal hat er sich ein paar Sekunden Zeit genommen, um mir etwas zu berichten. Ich nehme an, nur aus dem Grund, damit es der Nachwelt überliefert werden würde. ‚Ich habe’, so sagte Stern-Brod, ‚meinen Moment des Glücks doch noch gefunden. Es war, als ich vor zwei Wochen beim Frühstück herausfand, was der effizienteste Weg ist, eine neue Haferflockenpackung zu öffnen.’ Und dabei lachte er kurz. Dann rechnete er mir vor, wie viel Zeit er dadurch bis zu seinem Ableben einsparen würde. Vielleicht war es der letzte Eckstein zu einem perfekt organisierten Leben. Vielleicht konnte Stern-Brod nun tatsächlich genau vorhersehen, wann er sterben würde. Ich weiß es nicht, jedenfalls war Stern-Brods berühmte Veröffentlichung nicht der Höhepunkt, sondern eher der Tiefpunkt seiner Karriere. Ob dagegen sein Moment am Frühstückstisch der höchste Moment in der Geschichte der Physik war, vermag ich nicht zu sagen.“ Ich nickte zum Abschied leicht mit dem Kopf und ging die Straße hinunter, müde, verwirrt und ernüchtert vom Ende der Wissenschaft.
 



 
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