Die Fahrt nach "Präng"

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Fahrt nach "Präng"

Alfred hatte eine Tante in Prenden, die ein wenig vermögend war. In der Hoffnung, einmal ihr Häuschen zu erben, besuchte er sie regelmäßig. Der Ortsname wurde von allen Familienmitgliedern stets "Präng" gesprochen, erst 1991 erfuhr ich, dass "Prenden" gemeint war, welches ja dicht bei Berlin liegt, so wurde mir klar, dass jene Reise, die mein Gedächtnis als "Fahrt nach Präng" gespeichert hatte, in Wirklichkeit zu einem anderen Ort führte.
Im Spätsommer 1947 erreichte uns die Nachricht, dass eine Tante unbedingt und recht bald die Waltraud zu sehen wünschte, um festzustellen, ob sie würdig war, später einmal ihr Haus zu erben. Ich glaubte, dass es sich um die Tante aus "Präng" handelte, es war kaum möglich, dass Alfred zwei Erbtanten hatte. Nun herrschte helle Aufregung bei uns. Waltraud wurde neu ausstaffiert und die Sache auch mit Grete L. besprochen. Ida hatte mich bei Grete L. für die Dauer der Fahrt in Obhut geben wollen, aber aus irgendeinem Grunde ging das nicht. Ich hörte Grete L. sagen: "Nehm man die Jöre ruhich mit, wer weeß, vielleicht jefällt die alte Schachtel die Christa ville bessa als die Waltraud, un denn erbt die die janze Soore!" (sie war fest überzeugt, dass man nur durch Diebstahl oder Betrug zu Reichtum kommen kann. “Sore” ist unrechtmäßig erworbenes.) Ich prustete vor Lachen - wem sollte die blonde, blauäugige, zierliche und damenhafte Waltraud wohl nicht gefallen? Derjenige konnte doch überhaupt keinen Geschmack haben!
Nachdem Ida der Tante unsere Ankunft brieflich mitgeteilt hatte, zogen wir eines Tages vor Morgengrauen los. Ich plärrte, weil unausgeschlafen, aber Ida zog mich rigoros mit sich. Endlich tröstete mich Irma in einem gewissen Singsang "Jetz fährste mit de Puffpuffbahn, mit de Huschhuschbahn, mit de Eisenbahn, damit kann nich ein jeda fahn, aba Christa kann mit de Puffpuffbahn, Puffbahn fahn!"
Sie trug unser Gepäck zur Bahn, worin sich außer Proviant, Beschäftigungsmaterial und Wechselkleidungsstücke - man kann nie wissen, was auf einer langen Bahnfahrt alles passiert und Waltraud sollte doch "wie aus dem Ei gepellt" sein - auch ein Geschenk für die "Erbtante" befand. Man geht nicht ohne Geschenk zu Besuch. So verflog meine Müdigkeit, und ich fieberte dem Abenteuer entgegen. Es erwies sich als arge Strapaze. Auf dem Bahnhof herrschte ein heilloses Gedränge. Ich musste mich an Idas Mantel festklammern, um nicht von ihr getrennt zu werden. Irma konnte uns nicht bis an den Zug bringen. Damals musste man, wenn man keine Fahrkarte hatte, beim Betreten des Bahnhofs eine Bahnsteigkarte kaufen. Soviel Geld hatten wir nicht. Also trug Ida jetzt das große Gepäck und hatte keine Hand frei. Waltraud folgte uns mit dem kleinen Gepäck. Sie war durch das Gedränge und den Lärm völlig verschüchtert. Nach langem Suchen und vielem Nachfragen befanden wir uns endlich im richtigen Zug und setzten uns in unser Abteil. Der letzte, den Ida fragte, hob mich - husch! In den Waggon.
Wir waren froh, dass der Zug nicht so überfüllt war wie der Bahnsteig. Jeder hatte bequem Platz. Ida reichte das Frühstück, bestehend aus Klappstullen. Waltraud war mäklig wie immer, ich aber biss herzhaft zu. Ida schimpfte über Waltrauds "Getue" und hielt ihr mich als Beispiel vor. Waltraud rümpfte die Nase und flüsterte: "Christa is doof und frisst viel!" Das war eine beliebte Äußerung von Ida, wenn sie ihrer Verachtung irgendeinem Menschen gegenüber Ausdruck verlieh. Ich legte die Stulle weg, aber Ida befahl mir, sie aufzuessen: "Wat man anjebissn hat, isst man ooch uff!" Diese Maxime hinderte mich später daran, eine mir unbekannte Speise zu probieren; ich hatte immer Angst, dass ich etwas, das überhaupt nicht schmeckt, aufessen muss.
Endlich bemerkte ich, dass der Zug fuhr, aber es war noch zu dunkel, um vor dem Fenster irgendetwas erkennen zu können. Ida gab uns unsere Bilderbücher. Bald hatten wir sie durchgeblättert. Wir besaßen sie schon länger und konnten nichts Neues mehr in ihnen entdecken. Nun spielten wir mit den Puppen, die Ida uns in die Manteltaschen gesteckt hatte. Aber es wurde mir bald langweilig, denn ich konnte Waltrauds Spielvorschlägen nicht so recht folgen. Ich war erst drei, sie neun Jahre alt. Sie wollte etwas spielen, das ihrem Bildungsstand entsprach.
Endlich stieg die Sonne über den Horizont und ich blickte begeistert in die Landschaft. AH! So sieht also die Welt aus! "Oma, kiek ma, sooo ne jroße Wiese!" - "Det is n Feld, du Dussel." Ich lernte: Wenn eine Wiese sehr groß ist, nennt man sie "Feld". "Oh, Omi - un da, da is die Erde janz putt!" Ida blickte kurz hinaus und schüttelte den Kopf über meine Blödheit: "Da is jeflüücht worn, Mensch!" - "Wat is n det, jeflüücht?" - "Na, der Baua hat sein n Fluch üba t Land jezooren." - "Wat hatta denn for n Fluch jesaacht?", fragte ich stark interessiert, denn jetzt wurde die Sache märchenhaft. Märchen waren mir das Liebste. Ida schalt mich ein saublödes Gör und widmete sich wieder ihrer Strickerei. Waltraud warf der Ida einen missbilligenden Blick zu, dann begann sie zu singen: "Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt . . ." Sie sang das ganze Lied und ich wusste nun etwas über Landwirtschaft.
Indessen ging die Fahrt weiter. Vor dem Fenster zogen Felder und Wälder vorbei. Nachdem ich den optischen Unterschied zwischen Misch- und Tannenwald festgestellt hatte, wollte ich natürlich wissen, warum der eine heller als der andere war und wurde auf die Schule vertröstet: "Der Leehra wird dir det schon allet beibring." Das ärgerte mich außerordentlich, denn es mussten ja noch soo viele Jahre vergehen, ehe ich schulreif war!
Manchmal erblickten wir auch kleine Dörfer, bis der Zug endlich in einer Stadt hielt. Ich sprang sofort auf, denn ich glaubte, wir seien am Ziel. Ida packte mich am Arm und setzte mich unsanft auf meinen Platz: "Wißte woll schdillesitzn, du Trampel!" Ich zeterte: "Sin wa jetz nich da?" - "Nee", erwiderte sie scharf, "wir müssn noch lange faahn."
Irgendwann stiegen wir auf einen anderen Zug um, das war eine mittlere Katastrophe, denn ich traute mich nicht vom Trittbrett herunter. Ich sah mich außerstande, mit meinen kurzen Beinen die nächste Stufe zu erreichen, die ich nicht einmal sehen konnte. Die Zugangsstufen der Eisenbahn befinden sich bekanntlich untereinander. Ida hatte beide Hände voll Gepäck, das sie nicht abstellen mochte - vor Taschendieben wird gewarnt! - und Waltraud war zu zierlich, um mir helfen zu können. Endlich kam ein Eisenbahner und hob mich plärrendes, ausgescholtenes Bündel vom Trittbrett herunter.
Da mir auf der weiteren Fahrt die Landschaft nichts Neues mehr zu bieten hatte, begann sie mich zu langweilen. Nun bastelte Waltraud aus dem Stullenpapier Spielzeug für uns: Sie riss geschickt Silhouetten heraus, mit denen wir eine selbst erdachte Geschichte spielten. Ida strickte, wenn ich nicht irre, an Winterstrümpfen. Bald konnte ich dem Spiel nicht mehr folgen, meine Zeit für den Mittagsschlaf war um einiges überschritten. Ich begann, am Daumen zu lutschen. Inzwischen waren einige Leute zugestiegen, sodass nicht mehr soviel Platz war wie in dem anderen Zug. Ida bettete meinen Kopf in Waltrauds Schoß, die nun stillsitzen musste, damit ich schlafen konnte. Zwangsweise gehorchte sie. Dann wurde ich unsanft geweckt, denn wir waren am Ziel. Schlaftrunken wie am Morgen taumelte ich aus dem Zug - ich war so müde, dass mir die Höhe der Stufen völlig gleichgültig war, ich ließ mich am Haltegriff hinab gleiten und war auf dem Bahnsteig, bevor eine hilfreiche Hand in Sicht war. Später hieß es dann, ich hätte mich beim Umsteigen absichtlich blöd angestellt. Und ich zittere noch heute, wenn ich auf eine Stufe steigen soll, die ich nicht sehe!
Nun waren wir in der Stadt angekommen, wo die Tante wohnte, die der Waltraud später vielleicht ihr Haus vermachen würde. Wir fuhren noch ein paar Stationen mit dem Bus, dann befanden wir uns in einer Stadtrandsiedlung, wo kleine, hübsche, gepflegte Ein- und Zweifamilienhäuser in einer langen, sauberen Straße standen. Ich erfreute mich an den vielen in voller Pracht erblühten Blumen und wunderte mich über die geharkten Straßenränder. Als ich zu einem Gartenzaun rennen wollte, um eine mir bis dahin unbekannte Blume näher zu betrachten, wurde ich von Ida unsanft am Arm zurückgerissen und die Gartenbesitzerin keifte: "Wenn Sie auf das Gör nicht aufpassen können, dann sollten Sie sie lieber zu Hause lassen!"
Ich ließ nun die Blumen Blumen sein und blieb auf dem ungeharkten Teil des Gehsteigs - wir mussten, da wir zu dritt waren – hintereinander gehen, bis wir bei dem Haus der Tante angekommen waren.
Ida vergewisserte sich, dass wir in vorzeigbarem Zustand waren, dann klingelte sie. Wir wurden von einer eisgrauen Dame inspiziert, die sich als erstes darüber mokierte, dass Ida noch ein fremdes Gör mitgebracht hatte: "Wie viele Leute soll ick denn noch bewirten?" Ida beruhigte: "Die Jörn essn nich viel. Außadem hab ick ooch selba wat zu Essn injepackt."
Wir wurden zu Kaffee und Kuchen hereingebeten. Waltraud aß wirklich nicht viel. Sie benahm sich wie eine Prinzessin, absolut untadelig. Ich aß Kuchen, so lange er reichte. Die Tante hatte nicht damit gerechnet, dass jemand mehr als ein Stück essen würde, aber Ida hatte nach der langen Bahnfahrt Appetit und aß zwei Stückchen, so ließ auch ich mir noch ein drittes geben, das ich aufaß, ohne einen körperlichen Nachteil davon zu haben. Übrigens habe ich nie wieder so winzig kleine Kuchenstücken gesehen!
Nach Erledigung der Gastfreundschaftspflicht wurde ich hinausgeschickt, weil ich der nun folgenden Unterhaltung nicht beizuwohnen hatte. Die Hausherrin sagte, ich könne im hauseigenen Buddelkasten spielen. Ich hatte ihn schon erblickt, als wir das Anwesen betraten. Ich lief schnell dorthin und freute mich, einen so großen Buddelkasten ganz für mich allein zu haben. Obendrein lagen da etliche Spielgeräte in tadellosem Zustand parat: Förmchen, Schippe, Eimer und sogar AUTOS!
Ich habe mit den Förmchen viele Kuchen gebacken und dann mit Hilfe der Schippe Wege zu den Kuchen geebnet - für die Autos. Sie sollten die Kuchen "zum Verkauf" fahren. Plötzlich stand ein Junge neben mir und schrie: "Wer hat dir erlaubt, mit meinem Spielzeug zu spielen?" Ich konnte nichts erwidern, denn ich wusste nicht, in welchem Verhältnis er zu der Hausherrin stand. War er ihr Sohn? Unwahrscheinlich, der Altersunterschied war zu groß. War er ihr Enkel? Das schon eher, aber wenn die Tante leibliche Verwandte hatte, warum ließ sie dann die Traute aus Berlin kommen?
Aufs Geratewohl sagte ich: "Deine Oma hat mir det alaubt!" Der Junge erwiderte scharf: "Ich habe keine Oma, und du machst jetzt, dass du aus dem Garten kommst, aber dalli!" Nun begann ich zu zetern: "Meine Oma is mit die Waltraud da drinne int Haus, kannst ja nachkieken! Ick dürf hier spieln!"
Er ging ins Haus und kurze Zeit später kam die graue Dame heraus und rief nach mir. Unwillig stieg ich aus dem Buddelkasten. Mir war klar, dass ich das kleine Paradies verlassen musste, um nie wieder dahin zurückzukehren. Die Dame vergewisserte sich, dass ich mir kein Spielzeug aus dem Buddelkasten eingesteckt hatte. Damit war unser Besuch in dieser Villa beendet. Ich weiß nicht, was Ida und die "Erbtante" miteinander geredet hatten, aber ich sah, dass Ida stark verärgert war und Waltraud ihren hochroten Kopf tief gesenkt hielt.
Als ich nun "auf Diebstahl" untersucht wurde, platzte Ida der Kragen. Sie griff unsere Mäntel und wir gingen eiligst zur Bushaltestelle. Ich war so verblüfft über die Tatsache, dass diese Dame angenommen hatte, ich könnte mir etwas von dem Spielzeug eingesteckt haben - ich, die ich mit Müh und Not das eigene Spielzeug vom Spielplatz mit nach Hause nahm! -, dass nichts mehr vom Gespräch der Erwachsenen in mein Gedächtnis drang. Ich weiß nur, dass über diese Reise in Zukunft der Mantel des Schweigens gehüllt wurde.
Wir saßen noch einige Zeit auf dem Bahnhof herum, ehe unser Zug einfuhr. Ich weiß nicht, ob wir wieder umsteigen mussten - es ist anzunehmen - ich weiß nur, dass ich schrecklich müde war und buchstäblich im Gehen schlief. In tiefster Nacht kamen wir zu Hause an.
Als Grete L. am anderen Tag wissen wollte, wie die Sache ausgegangen war, winkte Ida nur ab.
Etliche Jahre später sagte Gerda auf einer Familienfeier scherzhaft zu Waltraud: "Du wärst ja beinah so n Keetschn von Heilbronn jeworn!" So nehme ich an, dass wir damals nach Heilbronn gefahren waren . . .
 

Venora

Mitglied
hi

schöne Geschichte, obwohl es mir manchmal schwer gefallen ist, zu lesen (wegen dem Dialekt), aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Guter Stil und anschaulich geschrieben.
 



 
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