Die Feuerprobe

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ergusu

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Die Feuerprobe

Volker Biesenthal lag faul auf dem Sofa und trank bereits das zweite Bier, obwohl es erst Nachmittag war. Er wusste, dass seine Frau Marika jeden Moment von der Arbeit kommen und ihm wieder Vorwürfe machen würde. Es war ihm, dem 35-jährigen arbeitslosen Sanitäringenieur, egal geworden. Viermal hatte er sich in diesen zwei Jahren beworben und nur Absagen erhalten.
Plötzlich stand Marika im Zimmer. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sagte: „Ich habe es geahnt. Ich arbeite mich kaputt und du liegst faul auf dem Sofa.“
„Kann ich was dafür?“
„Du kannst. Bewirb dich endlich wieder. Es muss doch keine Ingenieurtätigkeit sein.“
„Wozu habe ich studiert?“
„Ich arbeite auch nicht als Kauffrau, obwohl ich diesen Beruf erlernt habe. Wenn du wenigstens im Haushalt helfen würdest. Ändere dich, sonst...“
„Willst du keinen Sex. Ich weiß.“
„Du weißt gar nichts. Dann lasse ich mich scheiden.“

Nach dieser Offenbarung brauchte Volker frische Luft. Grußlos erhob er sich vom Sofa und trollte sich in Richtung Innenstadt. Natürlich hatte Marika Recht, aber er würde das niemals zugeben. Als er vor einem Reisebüro stehen blieb und auf die Angebote starrte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Er drehte sich um und erblickte Silke, mit der er einst jahrelang befreundet war. Wegen seiner übertriebenen Sparsamkeit trennte sie sich damals von ihm. ‚Wie gut sie noch immer aus sah, schlank, braungebrannt, und lebensfroh’, dachte er.
„Hallo Volker. Wie geht es dir?“ fragte sie.
„Sag ich dir drüben im Cafe.“
Als sie an einem Zweiertisch saßen, erfuhr Volker, dass sie geschieden und Sekretärin in einem Planungsbüro war. Sie lebte wieder mit ihrer Mutter zusammen.
„Und du? Erzähle, Volker,“ sagte Silke und blickte in sein müdes schmales Gesicht mit den vielen Sommersprossen.
Er strich sich die rötlichen Haare aus der Stirn und leckte sich die Lippen. Da wusste Silke, dass er verlegen war.
Schließlich gestand er: „Ich bin arbeitslos.“
„Da kann ich dir vielleicht helfen. Bewirb dich bei uns. Unsere Firma richtet gerade eine neue Außenstelle ein. Und außerdem...“ Sie zögerte. Volker spürte ihren unruhigen Blick.
„...außerdem sehen wir uns dann öfter.“

Volker bewarb sich und wurde vierzehn Tage später als Planungsingenieur auf Probe eingestellt. Er arbeitete in einer besseren Baracke, die einen Sportplatz längsseitig begrenzte. Sein winziges Büro lag genau an der Mittelinie. Das übernächste Zimmer gehörte seinem neuen Chef, und Silke war dessen Sekretärin.
Immer wieder fand sie einen Vorwand, Volker zu besuchen.
Die erste Woche war vergangen, da fragte ihn Silke: „Wie ist denn so deine Frau?“
„Wie soll sie sein. Arbeitsam, sauber...“
„Ich meine im Bett.“
„Das geht dich gar nichts an.“
„Ich weiß, aber ich könnte...“ Sie zögerte.
„Was könntest du?“
„Du weißt schon.“ Dann drehte sie sich um und ließ den verblüfften Volker mit seiner Rohrberechnung allein. Er kam nicht vorwärts, weil er nur an sie dachte. Als sie nach einer Stunde wieder in sein Büro schlich, ihn küsste und dann schnell wieder den Raum verließ, spürte er, sie wollte Sex.
Nun packte auch ihn die Begierde. Und war nicht Marika selber schuld, die sich ihm entzog und jeden Abend Müdigkeit vortäuschte?
Am nächsten Tag stand Silke wieder in seinem Büro und flüsterte ihm zu: „Am einfachsten wäre es in der Baracke.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
„Der Chef ist morgen auf Dienstreise. Die letzten gehen um 17.00 Uhr. Der Wachdienst schließt erst zwei Stunden später ab.“ Dann küsste sie ihn und war blitzschnell verschwunden.

Das Vorzimmer lag auf der Sportplatzseite, doch Silke zog die Vorhänge zu. Sie ignorierten das Gejohle der fußballspielenden Kinder, sie ignorierten zwei Telefonanrufe. Sie standen eng umschlungen, sie küssten sich, sie rissen sich fast die Sachen vom Leib. Volkers Socken landeten auf einem Kaktus und Silkes Slip im Aquarium. Da sah er plötzlich die dicke Fliege auf einer Stuhlleiste und wunderte sich, dass sie so laut brummen konnte. Aber es war nicht das Insekt. Blitzschnell löste sich Silke von ihm und lauschte. Dann stürzte sie zum gegenüberliegenden Fenster und überzeugte sich. Ja, der Chef kam. Sie hatten cirka dreißig Sekunden Zeit, dass wusste sie.
Volker bemühte sich, seine Socken vom Kaktus zu bekommen, wobei er sich stach, während sie ihre Kleider einsammelte. Sie wusste sofort, dass Volker zu langsam war.
„Raus hier. Geh um die Ecke hinter die Pendeltür, dort wo der Kühlschrank steht“, befahl sie und schob ihn auf den Flur. Dann sammelte sie seine Kleidung ein, öffnete ein Fenster und warf sie hinaus. Schnell eilte sie zurück, griff ihre eigenen Sachen und stürzte zur Toilette. Keine Sekunde zu spät, denn der Chef hatte bereits die Klinke der Außentür in der Hand. Als er das Vorzimmer betrat, wunderte er sich über das offenstehende Fenster. Zwei Minuten später sah er Silke in Jeans, Pullover und frisch gekämmt, und seine Welt war wieder in Ordnung. Er wusste nicht, dass Silkes Slip nebst Büstenhalter auf der Klobrille lag.
„Na, noch fleißig?“ fragte der Chef und ließ sich in seinen Sessel plumpsen. Er übersah die eine Socke Volkers, die noch immer im Kaktus hing.
„Ich mache sozusagen eine Sonderschicht.“
„Das hört man gern. Übrigens, haben wir nicht noch ein wenig Obst im Kühlschrank?“ fragte er plötzlich und stand auf.
„Ja, ich hole es“, sagte Silke eilfertig.
„Nicht nötig“, sagte der Chef und ging zur Tür, doch Silke war schneller. „Das mache ich“, sagte sie verkrampft lächelnd und verschwand aufatmend.
Der nackte Volker hockte zitternd vor dem Kühlschrank. Er traute sich nicht, in sein Büro zu flüchten, denn der Fußboden knarrte. Obendrein musste er niesen. Nur das nicht. Er biss sich in den Arm, und als dies nichts half, aß er die frischen Pfirsiche aus dem Kühlschrank. Jetzt war ihm wohler.
Silke kam, sah und glaubte alles verloren, denn Volker verzehrte gerade die letzte Frucht. Als sie dem Chef vom verschwundenen Obst berichtete, zuckte der nur mit den Schultern und verließ die Baracke.

Silke und Volker war die Lust auf Sex vergangen. Außerdem konnte der Chef wieder kommen. Sie vereinbarten, die Baracke einzeln zu verlassen. Silke informierte ihn noch, wo seine Sachen lagen und ging als erste.
So sehr Volker auch aus dem Fenster spähte, er fand seine Kleider nicht. ‚Fußballjungen haben sie mitgenommen’, dachte er. Was tun? Nackt konnte er nicht auf Kleidersuche gehen. Da fiel ihm die Besenkammer ein. Tatsächlich. Im Schrank fand er neben Pornoheften einen Overall und Arbeitsschuhe. Volker wusste, dass die Sachen dem Hausmeister der benachbarten Firma gehörten, der stundenweise bei ihnen aushalf. Overall und Schuhe waren viel zu groß, aber das war ihm egal. Er verließ gerade die Baracke und stand vor der Eingangstür, als er erneut ein Motorengeräusch vernahm. Da sah er schon den Mercedes, aus dem ein Herr in schwarzem Anzug und Fliege stieg. Der Mann ging auf ihn zu.
„Es ist wohl niemand mehr da? Ich habe mehrfach angerufen.“
„Sie sind alle schon fort.“
„Sie sind doch der Hausmeister?“
„Ja“, sagte Volker, denn ihm fiel nichts Besseres ein.
„Ich bin der Geschäftsführer. Steigen Sie bitte ein. Wir haben eine Havarie.“
Volker ließ sich konsterniert auf den Beifahrersessel fallen und hörte die Erklärungen des großen Chefs: „Ein Regierungsvertreter besichtigt in einer Stunde unsere neue Halle. Und wir haben plötzlich kein Wasser. Die Produktion steht. Dies macht keinen guten Eindruck, wenn man Fördergelder für eine Erweiterung will.“
„Ich werde mein Bestes geben“, versprach Volker und hielt Wort. In fünf Minuten fand er die Absperrhähne, die irgendjemand zugedreht hatte. Dann informierte er den großen Chef.
„Das haben Sie fein hinbekommen. Wie heißen Sie eigentlich?“
„Volker Biesenthal“, sagte er wahrheitsgemäß.
„Ich habe Sie noch nie gesehen.“
„Ich bin noch in der Probezeit.“
„So, so“, sagte der große Chef und nickte mehrfach vor sich hin. Dann musste Volker ihm noch seine dienstliche und private Telefonnummer hinterlassen. Endlich durfte er sich verabschieden. Da öffnete sich plötzlich die Tür des Vorzimmers, und ein adrett gekleideter junger Mann trat ein. Dieser wartete, bis er angesprochen wurde. Misstrauisch beäugte er Volker.
„Was wollen Sie?“ fragte der große Chef.
„Ich wollte Meldung machen. In unserer Baracke steht ein Fenster offen und meine Arbeitssachen fehlen.“
„Das hat nichts zu bedeuten. Ich habe es geöffnet,“ sagte Volker schnell. Dann wandte er sich dem großen Chef zu: „Ich werde es dem Herrn Ingenieur erklären. Es ist alles in Ordnung.“
„Also“, sagte der Geschäftsführer zum staunenden Ankömmling, „ Sie hören ja. Unser Hausmeister wird Sie aufklären. Und nun lassen Sie mich bitte allein.“
Volker schob den verdutzten jungen Mann in den Flur.
„Sie haben meine Sachen an“, sagte der zu Volker.
„Wir hatten eine Havarie Als Sanitäringenieur musste ich helfen“, erwiderte Volker und ging mit ihm in Richtung Treppe. Als sie vielleicht zwanzig Meter zurück gelegt hatten, hörten sie plötzlich den großen Chef rufen: „Hallo, Sie. Ja Sie. Sie sind doch der neue Ingenieur. Könnten Sie bitte noch einmal kommen?“
Volker reagierte sofort und zischte dem jungen Mann zu: „Gehen Sie. Sie sind jetzt der Ingenieur. Sonst sage ich das mit den Pornoheften.“
Volker stand aufgeregt auf dem Flur und wartete, aber schon zwei Minuten später erschien der Haumeister wieder.
„Was wollte der große Chef?“ fragte Volker nervös.
„Er hat mich gefragt, wie sich der neue Hausmeister macht.“
„Und was haben Sie geantwortet?“
„Wir sind mit ihm sehr zufrieden.“
Volker verabschiedete sich aufatmend und versprach ihm, die Arbeitssachen wieder in dessen Schrank zu legen. Er sagte nicht, dass es erst morgen geschehen würde, denn war es dunkel geworden und jede Kleidersuche aussichtslos.

Als Volker die Wohnungstür öffnete, lachte ihm seine Marika wie lange nicht entgegen. Selbst in den ersten Tagen seiner Probezeit war sie mehr als misstrauisch gewesen, denn sie zweifelte an seinem Willen. Bisher mit Recht.
„Endlich hast du es geschafft“, begrüßte sie ihn. „Es ist zwar kein Traumberuf, aber du hast wenigstens Arbeit und scheust keine Überstunden.“
„Heute hatte ich eine Sonderschicht.“
„Ich weiß. Dein Geschäftsführer rief an. Er sagte, du hättest heute deine Feuerprobeprobe bestanden und bist ab morgen fest angestellt.“
„Fest angestellt?“
„Ja, als Hausmeister.“
 



 
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