Die Flasche Rotwein

Die Flasche Rotwein

Die Flasche Rotwein stammte aus Frankreich. Gewachsen waren die Trauben noch in Friedenszeiten. Sie waren nicht für Eroberer gereift. Vielleicht für eines der netten kleinen Bistros in Paris, vielleicht für ein Restaurant, in dem man sich niedersetzt nach dem Besuch der Comédie Francaise. Sie hatten von französischer Sonne ihre Süße genommen für lachende und feiernde Menschen, Suzanne oder Minou sollten die jungen Frauen heißen, in deren roten Mündern sie ihr Bukett entfalten wollten, ein Jean oder Gérard sollte den Korken der Flasche aufziehen. Aber dann war ihr Hans gekommen und hatte die Flasche mitgenommen. Hoffentlich hat er sie bezahlt, dachte sie, als er sie mit den anderen Mitbringseln von der Westfront vor ihr auspackte, in dem Urlaub, bevor er an die Ostfront ging, um zu sterben und sich zudecken zu lassen vom Schnee bis zum nächsten Frühjahr. An Beutestücken hätte sie keine Freude gehabt. Aber ihr Hans hatte nur gelacht. Den trinken wir zusammen, wenn wieder Frieden ist, das kann nicht mehr lange dauern. Aber dann reifte der Wein doch noch drei Jahre in der Flasche weiter und Hans zerfiel auf russischer Erde.
Sie wischte den Staub von der Flasche. Nun wollte sie ihn trinken, bevor die Russen kamen. Die Geschütze grummelten schon lange wie fernes Donnergrollen vor der Stadt. Wenn die Russen erst da waren, dann war es gut, nichts Trinkbares im Haus zu haben. Und mitnehmen wollte sie die Flasche auch nicht, es gab genug zu tragen, Lebensnotwendiges und einiges zur Erinnerung. Zurücklassen aber wollte sie dieses letzte Geschenk ihres Hans auch nicht. Vielleicht wurde es ja jetzt bald Frieden, wenn erst einmal die Russen hier waren. Aber sie wollte sie nicht empfangen. Sie nicht. Heute nacht wollten sie aufbrechen, sie und die Christa von nebenan. Christa war auch so eine, die niemanden mehr hatte. Nur war der Ihre in der Biskaya geblieben, irgendwo unter den Wellen, wo das Flugzeug das U - Boot fand. In der Nacht wollten sie sich auf den Weg nach Westen machen, weg vom Krieg, weg von der Angst.
Es klingelte. Das mußte die Christa sein. Sie hatte einen Schlüssel, aber seit einiger Zeit legte sie die Kette vor, man konnte nie wissen, die Angst saß doch tief. Mit dem schrillen Klingelton fingen die Sirenen an zu heulen. Vorhin war der Voralarm gewesen, dies war der Luftalarm. Sie stellte die Flasche ab und ging mit ruhigen Schritten zur Tür. Nein, sie würden den Alarm ignorieren, sie würden jetzt ein wenig Frieden leben, sie und die Christa, auch wenn sie kamen und ihre tödliche Fracht über den Häusern auslüden. Immer wieder fiel ihr ein kleiner, milchbärtiger Bombenschütze ein, der im Flugzeug kauerte und den Befehl erhielte, über den Häusern die Bomben auszuklinken, und der fassungslos stammeln würde: Aber da leben doch Menschen... Doch solche tapferen jungen Männer gab es wohl nicht mehr, die hatte der Krieg alle verschlungen.
Auch Christa zeigte keine Unruhe sondern ging ihr ruhig hinterher ins Wohnzimmer. Die Lampe mit dem rosenbemalten Lederschirm verschwendete ihr warmes Licht. Ängstlich schaute sie auf die Fenster. Aber sie hatte gut funktioniert. Die Verdunkelungsrollos waren heruntergezogen. Christa wickelte aus dem braunen Papier ein lecker leuchtendes Weißbrot, fein gebräunte Kruste, verlockende weißliche Einschnitte quer über den Laib des Brotes gezogen. Das ist Jochens Sextant, er braucht ihn nicht mehr, er hat sein Ziel schon gefunden, sagte sie, und es klang ein wenig bitter. Sie ließ die Worte ihrer Freundin im Raum stehen und ging zum Vertiko, holte die blitzenden Gläser aus Bleikristall heraus. Die haben wir zur Hochzeit bekommen, sagte sie dann, als wäre es eine Antwort. Wir haben nur einmal daraus getrunken. Wir werden auch nicht wieder daraus trinken, nur dieses eine Mal noch.
Das Licht flackerte und verlosch. Stromausfall oder Stromsperre. In der schwarzen Dunkelheit waren ihre Schritte und Bewegungen sicher und ruhig. Sie fand und ertastete den silbernen Leuchter, ein Streichholz ratschte, die Flamme leuchtete auf. Sie stellte den Leuchter auf den Tisch, nahm den zweiten vom Vertiko, setzte auch ihn auf die Tafel. Es wurde noch heller in der Wohnstube. Richtig festlich, flüsterte Christa andächtig. Ja, wie ein Altar sieht das aus. Setz dich, sagte sie.
Die beiden jungen Frauen saßen sich am Tisch gegenüber. Der rote Wein floß geheimnisvoll leuchtend in die Kelche. Sie nahm ein Glas und hielt es gegen die Flamme der weißen Kerze. Wie er funkelt, flüsterte sie, so dunkelrot wie Blut, nicht wahr? Christa nickte. Unbeabsichtigt flüsterten sie, ergriffen von dem feierlichen Anblick des Tisches. Ob sie es wollten oder nicht, ihre Bewegungen waren gemessen, fast rituell, als sie das Brot brachen und den Wein tranken. Sie roch den hefigen Duft des frischen Brotes, die süße schwere Blume des Weines, aber in ihrer Nase war auch der kühle feuchte Geruch der Stadtkirche, in der sie konfirmiert worden war, damals, als das Leben noch wie ein verlockender Garten vor ihr lag. Sie schüttelte die aufkeimenden Bilder nicht ab, sondern stellte sich ihnen. Ja, so war es und so sollte es sein. Dies war ihr letztes gemeinsames Mahl vor ihrem Aufbruch. Dies war wie eine Tür, die sich öffnete. Was gewesen war, lag nun hinter ihnen, es gab keinen Weg zurück. Sie tauchte ein in die sonderbare Feierlichkeit des Augenblicks wie in ein reinigendes Bad. Während sie das Brot schmeckte und der Wein ihren Mund duftig ausfüllte, spürte sie, wie ihr Kraft zuwuchs, Mut für die langen Straßen, die sie würden gehen müssen nach diesem Mahl, beginnend in dieser Nacht und endend dort, wo Frieden war.
Sie lächelte ihrer jungen Nachbarin über dem Rand ihres Kelches zu. Christa schien gleiches zu spüren. Ihre Miene war freudig entschlossen. Die flackernde Angst, die noch in ihren Augen gewesen war, als sie hereinkam, war verschwunden. Jetzt sah sie aus, wie jemand, der weiß, wohin er will. Sie lächelte erlöst, wie befreit von einer schweren Last. Sie aßen das Brot und tranken den Wein, und ohne daß sie ein Wort darüber verloren, wußten sie: Der Friede, der jetzt über ihrem Tisch lag, würde sie von nun an begleiten. Nie wieder Krieg, nie wieder Flugzeuge und Bomben, nie wieder Frauen, denen man einen Hans oder Jochen nahm, nie wieder Russen, die nicht als Gäste kamen - sie würden alles tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Als sie gegessen und getrunken hatten, erhoben sie sich von der Tafel, zogen jede zwei Mäntel übereinander, löschten die Kerzen, griffen an der Tür nach den bereitstehenden Rucksäcken, schulterten sie in der Finsternis und traten in den Hausflur. Ihre Schritte hallten im leeren Treppenhaus. Die Nacht vor dem Haus erwartete sie brandhell. Sie schritten kraftvoll aus. Entgegenkommende hätten sie für Männer gehalten.
Das blieb auch so. Sie verloren sich in den nun folgenden Jahren zuerst aus den Augen, aber später dann kreuzten sich ihre Wege wieder und es zeigte sich, sie hatten nichts aus jener Nacht vergessen. Nebeneinander hielten sie den Wasserwerfern stand, duckten sich nicht unter tief fliegenden Hubschraubern, gingen ohne mit der Wimper zu zucken auf die Schilde der behelmten Polizisten zu, ließen sich von ihnen wegtragen und Mannweiber schelten.
Als die Ostermärsche verebbten, starb Christa. Wer sie kannte, wunderte sich, warum sie sich nicht wehrte gegen die verzehrende Krankheit. Sie hat sich aufgegeben, sagten die Leute.
Als deutsche Kampfflieger wieder über Belgrad auftauchten, öffnete eine alte Frau eine Flasche französischen Rotwein, und aß weißes Brot.
Über ihre Wangen rannen Tränen.
 



 
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