Die Flucht

Silberpfeil

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Die verbliebenen Sonnenstrahlen verschwanden hinter den grauen, hoch aufragenden Wohnhäusern und nahmen ihre Wärme mit sich. Ein Windstoß pfiff durch die Häuserschluchten und untermalte damit den Wechsel zwischen Tag und Nacht, Wärme und Kälte.
Klara schlenderte die Straße entlang in Richtung Innenstadt. Als sie an einem Imbiss vorbei kam, blieb sie stehen. Nachdenklich starrte sie durch die großzügige Fensterfront in die Stube. Ein junges Paar saß an einem der Tische, nur Augen füreinander. Eine Familie mit drei kleinen Kindern belagerte einen weiteren Tisch, die jüngste Tochter das Gesicht mit Ketchup beschmiert. Klara verharrte einen kurzen Augenblick, bevor sie sich schließlich abwandte. Nein, ihr war nicht nach Pommes mit Currywurst.
Die Dunkelheit zog schneller über die Stadt herein als gewöhnlich, denn schwarze, regenverhangene Wolken breiteten sich aus und verschleierten den Himmel zunehmend. Vereinzelte Tropfen fielen auf das Pflaster und wurden schnell dichter. Klara hatte keinen Schirm bei sich. Zunächst nahm sie auch gar nicht wahr, wie ihre Kleidung mehr und mehr durchnässt wurde, auch ihre tropfenden Haare fielen ihr nicht auf. Erst als ihr Körper vor Kälte zu zittern begann, wurde ihr die Lage bewusst. Unbeholfen schirmte sie ihr Gesicht mit den Händen ab. Ihre Bluse unter der dünnen Strickjacke klebte bereits an ihrem Körper, als sie endlich einen Unterschlupf unter einem Dachvorsprung erblickte. Eilig lief sie darauf zu.
In der Zwischenzeit war es sehr düster geworden. Eine beleuchtete Reklametafel unterstützte den Lichtschein, den eine einsame Laterne auf den Boden warf. Klara war sich sicher, ihren Schirm mitgenommen zu haben und war nun mehr als verwirrt, als sie an ihrem vor Nässe triefenden Körper herab schaute. Eine Jacke hatte sie ebenfalls nicht an. Und sie trug viel zu dünnes Schuhwerk, braune Stoffschuhe, die aussahen wie Pantoffeln, so dass selbst ihre Socken die Bekanntschaft des Regens machten. Sie verstand nicht, weshalb sie so unvorsichtig gewesen war und dem Wetterbericht nicht mehr Beachtung geschenkt hatte. Hieß es nicht, es solle ein warmer, sonniger Tag werden?
Mit dem Regen verschwanden die Fußgänger. In der Ferne sah Klara ein Paar, dicht gedrängt unter einem Schirm, in die Richtung gehen, aus der sie gekommen war. Autos fuhren vorbei und spritzen Regenwasser vor der Straße auf den Bordstein, direkt zu ihren Füßen.
Unschlüssig stand sie da und starrte auf die orangerote Reflektion der Reklametafel in einer Pfütze. Ein Mann, jünger als sie selbst, kam unmittelbar auf sie zu, die Augen weit geöffnet. Ein laues Lächeln umspielte seine Lippen. Trotzdem war Klara der Mann nicht geheuer. Er öffnete den Mund, um etwas zu ihr zu sagen, doch energisch schnitt sie ihm das Wort ab. Er solle weggehen und sie ihn Ruhe lassen. Sein Lächeln erstarb. Einen kurzen Moment sah er sie noch verwirrt an, dann zuckte er stumm die Schultern, hob seinen Regenschirm gen Himmel und machte kehrt.
Die Zeit verging. Irgendwann begann Klara sich zu fragen, wie lange sie schon unter dem Vorsprung stand. Eine Uhr hatte sie freilich nicht um. Fröstelnd strich sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Regen war inzwischen zu einem leichten Nieseln abgeklungen. Klara entschied, dass es Zeit war weiter zu gehen.
Sie bog in die nächste Querstraße ein, doch mit der Zeit wurde sie sich ihres Weges immer unsicherer. Führte dieser Weg wirklich in Richtung Innenstadt? Klara war in dieser Stadt aufgewachsen und hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Schon als kleines Mädchen war sie durch diese Straßen gelaufen, hatte ihren Wandel miterlebt und die Menschen beobachtet, die eilig an ihr vorbeischritten. Gebäude wurden abgerissen und neue wurden erbaut. Geschäfte zogen um, oder mussten für immer schließen. Was einst ein blühender, lebendiger Stadtteil gewesen war, wurde nun beherrscht von fremd aussehenden Menschen und billigen Werbetafeln mit unbekannten, für Klara keinen Sinn ergebenden Wörtern. Was zur Hölle sollte ebike sein? Und was sollte sie sich unter einem Smartphone vorstellen? Klara konnte diese Wörter nicht einmal aussprechen.
Ein Junge kam den Bürgersteig entlang gerannt. Klara sprang eilig ein Stück zur Seite. Trotzdem streifte er sie mit seiner Schulter so heftig, dass sie beinahe gestürzt wäre. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben, war bereits außer Sichtweite, als Klara sich wieder gefangen hatte. Sprachlos blickte sie ihm hinterher.
Plötzlich fühlte sie sich fehl am Platze. Sie sehnte sich nach Hause, wollte nur noch hier weg.
Als sie sich umwandte, fiel ihr Blick auf eine Frau, die ihre Tochter hätte sein können, da sie ihr sehr ähnlich sah. Die Frau starrte sie an. Klara schaute zu Boden. Was war nur los mit den Leuten? Die einen beachteten sie überhaupt nicht, ja rempelten sie sogar an. Andere, wie die Frau ihr gegenüber oder der Mann von vorhin, waren scheinbar auf ihre Person fixiert, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, weshalb.
Mit gesenktem Blick schickte Klara sich an, an der seltsamen Frau, die sie noch immer unverhohlen anschaute, vorbei zu gehen. Als sie gerade an ihr vorüber schreiten wollte, wendete die Frau sich jedoch in ihre Richtung, streckte die Hand aus und berührte Klara am Arm. Klara wollte die Hand abschütteln und sie anschreien. In diesem Moment sah sie in die Augen der Frau und was sie sah, verwirrte sie nur noch mehr. Klara stockte. Die Frau hatte Mitleid in den Augen.
„Es geht mir gut. Sie müssen sich nicht um mich kümmern“, versuchte sie zu erklären. „Der junge Mann hat mich zwar ordentlich angerempelt, aber es ist ja nichts passiert.“
Verdattert nahm die Frau ihre Hand von Klaras Arm. Klara war frei, doch sie ging nicht weiter. Völlig perplex schaute sie in das Gesicht ihr gegenüber. Was sollte das ganze Gehabe? Die Frau blickte sie mit großen, traurigen Augen an, die plötzlich noch mehr Mitleid ausstrahlten, als zuvor. Klara konnte sich nicht erklären, warum.
„Sie arme Frau, sie sind ja ganz durchnässt“, sprach die Fremde nun. „So kommen sie doch mit, dort drüben ist ein hübsches, kleines Café.“ Sie legte einen Arm um Klaras Schultern, die sich daraufhin gänzlich versteifte.
„Es geht mir gut“, wiederholte sie, doch die Frau reagierte nicht, sondern schleifte sie vorwärts. Klara wurde wütend. „Lassen sie mich gehen, oder ich rufe die Polizei.“
„Aber ich will ihnen doch nur helfen. Hier draußen erfrieren sie mir noch“, setzte die Frau an. „Es ist spät, eiskalt und ihre Kleidung ist völlig nass. Schuhe haben sie auch keine an.“ Am Café angekommen öffnete sie mit ihrer freien Hand die Tür.
„Natürlich habe ich Schuhe an!“ Klara war außer sich. „Sind sie denn blind?“
Erneut der mitleidvolle Blick. „Hm, sie haben durchaus Schuhe an, und zwar ihre Hausschuhe. Und das, obwohl wir hier auf der Straße stehen und es seit Stunden regnet.“
Klara konnte sich keinen Reim auf diese Behauptung machen. Verwirrt ließ sie es zu, dass sie in das Café bugsiert wurde. Die beiden Frauen setzten sich an einen Tisch.
„Ich bin Claudia. Wie heißen sie?“ fragte die Frau.
„Klara.“
„Und wie lautet ihr Nachname?“
Klara fühlte sich unwohl. Weshalb wollte diese Fremde ihren Namen wissen? Was wollte sie überhaupt von ihr? Und was war aus ihrem Vorhaben geworden, in die Stadt zu gehen?
Da diese Frau, Claudia, sie so nett ansah, wollte Klara ihr dann doch antworten. Doch plötzlich konnte sie sich an ihren vollen Namen nicht mehr erinnern. Je mehr sie sich zu erinnern versuchte, umso mehr entschlüpfte er ihr. Langsam stieg Panik in ihr auf.
Klara sprang mit einem Ruck hoch und stürzte aus der Tür, zurück in den Regen. Sie rannte so schnell, wie es ihr in ihrem Alter und mit Pantoffeln an den Füßen möglich war. Keuchend blieb sie stehen und stellte fest, dass niemand hinter ihr war. Sie holte noch ein paarmal tief Luft, dann versuchte sie sich zu orientieren. Es klappte nicht. Sie wusste nicht, wo sie war. Dort drüben war doch einst eine Bäckerei, und dieses Gebäude dort auf der anderen Straßenseite war doch zuvor nicht da gewesen. Wo war sie überhaupt?
Ziellos wanderte sie umher und sah sich nach etwas um, das ihr bekannt vorkam, doch sie fand nichts. Sie fühlte sich unendlich hilflos und setzte sich, ihrer letzten Kraft beraubt, auf eine überdachte Treppenstufe.
Noch mehr Zeit verstrich, ohne dass sich noch ein Mensch blicken ließ. Es war nun mitten in der Nacht. Klara zitterte am ganzen Körper. Irgendwann schlummerte sie, an das Geländer gelehnt, in einen tiefen Schlaf. Den nächsten Sonnenaufgang erlebte sie nicht mehr.
Zwei Tage später stolperte Claudia, die nette Frau, die Klara auf der Straße aufgelesen hatte, über einen Zeitungsartikel in den Lokalnachrichten, der lautete: Demenzkranke nach Flucht aus dem Heim auf der Straße erfroren!
 

wüstenrose

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Hallo Silberpfeil,
lange war ich während des Lesens halb gespannt, halb skeptisch, in welche Richtung sich die Geschichte wohl entwickeln würde. Am Ende war ich dann enttäuscht, weil ich fand, der Text bemüht sich allzu sehr, beim Leser Betroffenheit hervorzurufen. Ich hätte es reizvoller gefunden, wenn der Text am Ende sein "Geheimnis" nicht preisgegeben hätte.
lg wüstenrose
 

Silberpfeil

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Hallo Wüstenrose,
danke für dein Feedback. Hm, ich war der Meinung, es könnte vielleicht nicht klar genug werden, um welchen Zustand es sich bei Klara handelt, wenn es nicht am Ende aufgedeckt wird. Dein Kommentar macht mich neugierig...Wie hättest du das Ende denn geschrieben?
Viele Grüße, Silberpfeil
 

wüstenrose

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Hallo Silberpfeil,
habe nochmals versucht, in deinen Text "einzutreten" und mache einen Vorschlag, wie die Story alternativ enden könnte - wohl wissend, dass das dann sehr stark von deiner Version abweicht. Überlegenswert wäre sicher auch, zu Beginn des Textes zu erwähnen, dass eine klirrende Kälte (z.B. auch Schneeregen statt Schnee o.ä.) herrschte.
Generell finde ich: Oft ist das nur Angedeutete schmerzhafter / einprägsamer als das allzu Plakative.

Noch mehr Zeit verstrich, ohne dass sich noch ein Mensch blicken ließ. Es war nun mitten in der Nacht. Klara zitterte am ganzen Körper. Irgendwann [blue]fiel[/blue] sie, an das Geländer gelehnt, in einen tiefen Schlaf.
Ungefähr um die selbe Zeit hatte die Nachtwache Ilse ihre erste Kontrollrunde beendet und trug, leicht genervt, in den Dokumentationsbogen ein: Fr. Schmidt schon wieder ausgebüxt.
 

Silberpfeil

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Hallo Wüstenrose,

hab vielen Dank! Gerne lasse ich mir das alternative Ende durch den Kopf gehen und ich gebe zu, dass Andeutungen viel mehr Spannung erzeugen. Ich hoffe, dass ich meinen Schreibstil irgendwann (ich habe ja noch ein paar Jahre) perfektionieren kann, auch wenn das noch ein weiter Weg ist.
Viele Grüße, Silberpfeil
 



 
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