Die Frau auf der Bank

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Astrid

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Er hatte aufgelegt. Kerstin stand am Fenster, das schnurlose Telefon noch in der Hand. Aufgelegt. Klar. Bloß nicht reden. Peter machte es sich wieder sehr einfach.
Sie war sauer.
Sie lief ins Bad, ließ heißes Wasser in einen Eimer und kramte im Schrank nach dem Lederlappen. Beim Fensterputzen konnte sie sich am besten abreagieren. Auch wenn die Fenster es nicht nötig hatten, denn seit sie mit Peter zusammen war, hatte sie sie häufig geputzt.
Als sie die letzte Scheibe trockenpolierte, entdeckte sie die Frau. Sie saß auf der Bank. Wie gestern und den Tag zuvor.
Das Kinderzimmerfenster lag zur Straße hin und immer wenn Kerstin hinaussah, war ihr, als würde sie den Blick der Frau spüren. Sie fühlte sich von ihr beobachtet, obwohl sie nie direkt hochschaute. Sie saß nur so da, die Hände im Schoß ineinander gelegt, so wie alte Menschen oft sitzen. Doch war sie noch nicht alt.
Die Bank stand neben dem Übergang zur Straßenbahn. Die grüne Farbe blätterte bereits ab und die mittlere Strebe fehlte. So saß sie stets auf der rechten, der vollständigen Seite. Im Sommer wurde die Bank fast vollständig von den Zweigen der Birke vor Kerstins Haus verdeckt. Nur die Seite, auf der sie saß, lugte durch die Zweige durch.
Kerstin sammelte das zusammengeknüllte Zeitungspapier ein und zog die Gardine zu. Was die nur zu gucken hat?
Ihre Wut auf Peter hatte sich nun auf die Frau übertragen. Doch dazu mischte sich noch ein anderes Gefühl. Etwas wie Wehmut. Für einen Moment blieb Kerstin im Kinderzimmer stehen und betrachtete die geputzte Scheibe. Als Paul noch klein war, hatte sie das Fenster bemalt. Mit Blumen oder einer Sonne. Im Herbst malte sie einen Drachen und im Winter einen Schneemann. Es malte sich gut auf dem Glas. Paul wollte das nicht mehr. Er sei doch jetzt groß. Außerdem gab es heute diese Klebefolienbilder für jeden Anlass. Wer malte da noch?

Als Kerstin eine halbe Stunde zur Straßenbahn ging, sprach die Frau sie an: „Bitte entschuldigen Sie, wohnen Sie in der Nummer 59?“
„Ja“ antwortete Kerstin missmutig. Was wollte die Frau?
„Ich habe dort auch einmal gewohnt. Vor ein paar Jahren. Im ersten Stock rechts.“
Der letzte Satz klang, als würde sie fragen: wohnen Sie nicht auch dort?
Kerstin war überrascht, wie jung die Frau war, vielleicht Mitte Dreißig. Etwas Geheimnisvolles lag in ihrem Blick.
„Ich wohne nicht im ersten Stock!“ sagte Kerstin, „sondern darüber. Und ich muss jetzt wirklich…“ Sie hastete zur Bahn.

Am nächsten Tag wartete Kerstin. Einige Male ging sie zum Fenster, schob die Gardine zur Seite. Wo sie nur blieb? Dann saß sie plötzlich da. Einfach so. Kerstin hatte sie nicht kommen sehen. Sie saß, als würde sie schon immer dort sitzen. Nickte sie ihr zu? In diesem Moment wurde Kerstin sich ihrer Lüge bewusst.
Die Frau trug ein graues Kleid. Sie war meist grau gekleidet. Ja die ganze Frau wirkte angegraut mit den Haaren, die sie streng aus dem Gesicht gekämmt hatte. Selbst ihre Haltung war grau. Wenn es schwarz wäre, könnte man denken, sie trauert. Aber vielleicht trauert sie ja ein bisschen…
Irgendetwas an ihr zog Kerstin magisch an. Kurzentschlossen verließ sie das Haus. Als die Frau auf der Bank Kerstin entdeckte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie grüßte, indem sie stumm nickte. Kerstin grüßte zurück und blieb unentschlossen stehen.
„Sie wundern sich vielleicht, warum ich jeden Tag hierher komme?“ Sie deutete Kerstin an, sich zu ihr setzen. Diese schüttelte den Kopf und machte eine Handbewegung, die alles hätte heißen können. „Ich muss“ meinte sie, blieb aber stehen.
„Ich habe mit meinem Mann und meinen zwei Mädchen hier gewohnt“, begann die Frau. Sie lachte und ihr Blick verlor sich in der Ferne. „Damals habe ich ihnen die Fenster bunt bemalt. Die Kleine wollte immer eine Sonne haben. Ich durfte nie etwas anderes malen.“ Die Frau hielt inne, ehe sie weitersprach. „Die Birke dort“ – sie zeigte auf den Baum vor Kerstins Fenster – „hat mein Mann gepflanzt.
Kerstin kaute auf der Unterlippe und machte schon einen Schritt in Richtung Haltestelle, als die Frau sie fragte: „Haben Sie auch Kinder?“
„Ja“, Kerstin musste sich räuspern. „Ja aber die sind schon groß. Sie wollen keine bemalten Scheiben mehr. Ich muss jetzt wirklich gehen.“
Als hätte die Frau nicht zugehört, sprach sie weiter. „Ich muss einfach herkommen, wissen Sie, hier ist für mich Anfang und Ende zugleich…“
Kerstin war gegangen und wusste nun nicht wohin. Schließlich war es doch die Frau gewesen, die sie aus dem Haus getrieben hatte. Und dann saß sie da und sagte solche Sachen. Kerstin tröstete sich damit, dass sie wohl eher mit sich selber gesprochen hatte. Doch die Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Sie lief an der Haltestelle vorbei, auf die andere Straßenseite, machte einen Bogen, bis sie schließlich wieder vor ihrem Eingang stand. Wollte sie sich heimlich reinschleichen? In ihr eigenes Haus? Wütend blickte sie zur Bank. Sie war leer.

„Anfang und Ende zugleich?“ Was war hier vor Jahren passiert? In dieser Wohnung? In Kerstins Wohnung? Sie begann, sich unbehaglich zu fühlen und kontrollierte zur Nacht die bereits zweimal abgeschlossene Tür. Und bevor sie ins Bett ging, sah sie noch einmal zur Bank. War sie schon verrückt?

Am dritten Tag fällte sie eine Entscheidung. Sie kaufte Pinsel und Farbe und malte an das Schlafzimmerfenster eine große gelbe Sonne. Sie malte sich die Vergangenheit zurück. Lächelnd betrachtete sie ihr Werk.
Als sie am Nachmittag mit vollen Einkaufstüten von der Bahn kam, sah sie schon von weitem die Sonne an ihrem Fenster und war sehr froh darüber und dachte nicht mehr an die Frau. Außerdem war es noch nicht ihre Zeit. Kerstin wollte den Einkauf für einen Moment auf der grünen Bank abstellen. Da saß sie. War sie eingenickt?
„Hallo?“ Zum ersten Mal sprach Kerstin die Frau an.
„Oh guten Tag! Ich bin wohl in der Sonne etwas eingenickt.“
Sie sah so anders aus heute. Wo kam das kastienbraune Haar her? Sie trug eine Bluse, die zu ihrem Haar passte und sie lächelte noch immer:
„Sonst komme ich ja erst später hierher, aber heute wollte ich“ Sie sprach nicht zu Ende.

„Ich. Also“ Kerstin suchte nach Worten. „Wie haben Sie das gemeint: es ist Anfang und Ende zugleich?“ Sie setzte sich zu ihr, vorsichtig, auf die Seite mit der herausgebrochenen Strebe, in sicherem Abstand.
Die Frau drehte sich zu Kerstin. „Mein Mann und ich, wir hatten uns furchtbar gestritten.“ Sie schwieg erneut. Kerstin war es, als wäre eine halbe Stunde vergangen, ehe sich die Frau erneut an sie wandte. „Es war am Nachmittag, ungefähr diese Zeit, zu der ich hier auf die Bank komme. Mein Mann wollte unsere Mädchen abholen, die bei einer Freundin zum Geburtstag waren. Wir stritten uns sehr selten und er war so überrascht gewesen und so verletzt.“ Sie stockte erneut und knetete ihre Hände bei der Erinnerung.
„Er verließ das Haus mit einer solchen Wut! Ich rief ihm noch nach: ‚bitte lass das Auto stehen, fahre nicht!’ Da hörte ich bereits den Motor aufheulen. Es war doch nur ein paar Straßenbahnhaltestellen weiter, wo die Mädchen waren. Ich hatte solche Angst! Zuerst lief ich in der Wohnung hin und her, wusste nicht, was ich tun sollte. Dann rannte ich aus dem Haus, fuhr mit der Bahn zu der Wohnung, wo meine Kinder sich aufhielten. Ich klingelte, aber niemand öffnete. Ich geriet immer mehr in Panik. Vielleicht waren sie ja im Park auf der anderen Straßenseite? Ohne auf den Verkehr zu achten, hastete ich dorthin. Ich hörte nicht das Hupen der Autofahrer, ich hatte nur einen Gedanken: wo sind meine Mädchen? Atemlos stand ich schließlich vor der Geburtstagsgesellschaft. ‚Dein Mann ist gerade wieder losgefahren, ihr habt euch knapp verfehlt.’“
Die Frau öffnete ihre Hände, als würde sie einen Vogel freilassen. „Ich kam zu spät.“

Es dauerte lange, ehe sie weitersprach. „Darum ist hier Anfang und Ende zugleich. Hier in der ersten Etage haben wir ein paar gute Jahre gehabt. Und hier ging alles zu Ende. An einem einzigen Tag. Nur wegen diesem dummen Streit. Ich habe es in dieser Wohnung nicht mehr ausgehalten und bin weggezogen.“

Kerstin saß da, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Sie hätte gern ihre Anteilnahme gezeigt, ihre Hand genommen, ihr ein tröstendes Wort gesagt. Sie konnte es nicht. Stattdessen sagte sie: „Seien Sie nicht böse, aber“ – sie zeigte auf die Einkaufstüten – „das muss in den Kühlschrank.“ „Ich muss Peter anrufen“ dachte Kerstin. Sie murmelte ein „Auf Wiedersehen“, stand auf, nickte ihr noch einmal zu und ging mit hängenden Schultern zu ihrem Eingang.

Nach ein paar Schritten rief die Frau hinter ihr: „Ich wollte Ihnen noch etwas sagen!“
Kerstin drehte sich um. „Ja?“
„Danke für die Sonne.“
 



 
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