Die Frau mit Nietzsche

KaramasowMC

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Valentinstag, Köln Hauptbahnhof. Ich ging zum Raucherbereich am Ende des Bahnstegs. Ein hübsches Mädchen, welches sich gerade eine Zigarette drehte, guckte mich an. Mir kam es so vor, als schaute sie für einen kurzen Moment länger, als man es bei einer kleinen, oberflächlichen Musterung tun würde. Es konnte aber auch nur Einbildung gewesen sein. Ich blieb ein paar Meter von ihr entfernt stehen um mir eine zu drehen und schaute nochmal kurz rüber. Sie sah wirklich sehr gut aus. Da sie einen Zopf hatte, konnte ich nicht erkennen, ob ihre Haare lang oder kurz waren. Sie trug Chucks, hatte eine Art Decke unter ihren grauen Anorak gewickelt und einen Lederranzen neben sich stehen (sie sah aber nicht irgendwie hipster-mäßig aus). Insgesamt war mir ihr Look sehr sympathisch. Außerdem können Frauen, die selbst drehen, kaum unsympathisch sein. Ich bemerkte eine Uni-Bonn-Tasche neben ihr und freute mich, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch nach Bonn musste.
Es kam die Durchsage, dass unser Zug einfuhr. Ich ging zum Aschenbecher um meine Zigarette auszumachen. Dort angekommen sah ich, dass auch sie ihre Zigarette ausdrückte und hineinwarf. Sie stand dabei an der anderen Seite des Aschenbechers. Ich konnte nur ihre Hand sehen, da ein am Aschenbecher montiertes Schild die Sicht auf ihren Kopf verbarg. Ich verlangsamte meinen Schritt um nach ihr einsteigen und mich in ihre Nähe setzen zu können. Dabei war ich noch ganz ohne Absicht, ich wollte nur in ihrer Nähe sitzen.
Glücklicherweise ergab es sich so, dass ich mich genau neben sie setzen konnte. Ihr Aussehen und Gebaren machten auf mich schon jetzt den Eindruck, dass sie irgendeiner Art von kreativer, intellektueller oder was-auch-immer-Tätigkeit nachging. Ich dachte, dass es ihrer Meinung über mich (auch wenn sie dahingehend noch keine hatte) nicht schaden könne, wenn ich ein Buch herauskramen würde. Ich hatte dieses Buch noch gar nicht angefangen zu lesen und es mehr als Notlektüre dabei. Als ich es aufschlug bemerkte ich, dass ich gar keine Lust auf Lesen hatte und mich mit der Frau neben mir auch sicherlich nicht würde konzentrieren können. Ich konnte das Buch aber nicht sofort wieder weglegen, das würde sicherlich keinen imposanten Eindruck hinterlassen. Ich zwang mich also zum Lesen und irgendwie klappte es sogar. Ich konnte mich konzentrieren. Auch sie kramte ein Buch raus. Ich versuchte einen Blick auf den Titel zu erhaschen, doch es ging zu schnell. „Schade“, dachte ich mir, ich hätte gerne gewusst, was sie las. Ich verspürte den Drang ein oder zwei Sätze aus ihrem Buch zu lesen um einen Eindruck von diesem zu bekommen. Sie saß ja direkt neben mir. Es war jedoch viel zu auffällig. Ich gab dem Verlangen für einen kurzen Augenblick nach und was sah ich da... auf der rechten Buchseite stand ganz oben links in der Ecke das Wort „Nietzsche“ geschrieben. „Geiler Scheiß, die liest was schlaues“, dachte ich mir.
Ich hatte ein paar Seiten gelesen, wir hielten gerade in Brühl, da packte ich mein Buch weg und dachte über die holde Frau neben mir nach. Sie sah so süß aus, ihr Stil gefiel mir, sie drehte selbst und las ein Buch, wo das Wort Nietzsche vorkam. Mir fing das Herz an zu pochen, da mir klar wurde, dass ich sie ansprechen musste. Doch leider saßen sehr viele Leute um uns herum. Hätte ich nicht aufgrund ihrer Tasche vermutet, dass sie auch in Bonn raus musste... ich hätte mich wahrscheinlich überwunden und sie angesprochen. Genau genommen musste ich in Bonn Bad Godesberg raus, doch ich würde am Hauptbahnhof aussteigen um sie dann draußen anzusprechen. Mir kam noch kurz Idee, ihr ein Zettelchen mit Nummer und Namen zu geben, sobald sie aussteigen würde. Doch ich verwarf die Idee und nahm mir vor, mit ihr auszusteigen und sie draußen zu fragen, ob Sie mal einen Kaffee mit mir trinken wollen würde. Ich war ziemlich nervös und spürte mein Herz noch immer kräftig schlagen.
Als die Durchsage kam, dass wir gleich Bonn Hauptbahnhof erreichen würden, zog ich meine Jacke an und ging Richtung Tür. Sie war genau hinter mir. Komischerweise war ich kurz vor dem Aussteigen kaum noch nervös. Ich dachte nur daran, dass es gleich soweit sei und überlegte was ich sagen würde.
Ziemlich direkt nach dem Aussteigen drehte ich mich zu ihr um. „Ich hab gerade gesehen, dass du was liest... und da stand „Nietzsche“.“
Sie lachte „Ja, das stimmt.“
„Und ich find dich auch ziemlich hübsch... würdest du mal einen Kaffee mit mir trinken?“
Sie antwortete nicht sofort, grinste recht zerknirscht und sagte, dass sie einen Freund habe. Dann fügte sie noch ein „Du warst mir aber auch sehr sympathisch“ hinzu.
„Verkackte Scheisse“, dachte ich mir. Ich wusste, dass die Sache gelaufen war, doch wollte das gerade überhaupt nicht wahrhaben. Klar war die Frage doof, doch ich brachte noch ein „Also nicht?“ heraus.
Sie schaute mich wieder zerknirscht an und sagte nichts.
„Schade“ sagte ich mit einem kleinen Seufzer. Ich bemerkte, dass der Zug noch stand und ging schnell hinein... ich musste ja eine weiter, nach Bad Godesberg.
Im Zug war ich zunächst bitter enttäuscht. Ich saß alleine und sagte zweimal leise „Scheisse“ vor mir her. Ich wusste, hätte sie keinen Freund gehabt... wir hätten uns getroffen und sicherlich sehr gut verstanden. Als ich in Bad Godesberg ausstieg spürte ich noch immer eine Mischung aus Enttäuschung und leichtem Ärger. Doch schon auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause freute ich mich, dass ich mich überwunden und sie angesprochen hatte. In einer ähnlichen Situation, die gar nicht so weit zurücklag, hatte ich mich nicht getraut.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
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Hallo KaramasowMC, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Kinokie

Mitglied
Eine schöne Geschichte, mitten aus dem Leben.
Ich hätte sie allerdings, glaube ich, nicht angesprochen. ;)
 



 
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