Die Frau über den Wolken

heidi dorma

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DIE FRAU ÜBER DEN WOLKEN​


Nebel, rings herum nur dicker Nebel – Sicht gleich null. Aber was war das? Ein Licht, so hell wie Eva es noch nie gesehen hatte durchbrach den Nebel mit einer starken Intensität und zog sie magisch an. Der Nebel löste sich schlagartig auf und das Licht verlosch.

Eva fand sich auf einer endlos großen Wiese wieder. Vereinzelt standen ein paar Bäume darauf. Menschen in seltsamen Gewändern flanierten an Eva vorbei. Alle möglichen Tierarten spielten friedlich miteinander. Eine Frau kam lächelnd auf Eva zu. Eva erkannte diese Person sofort: es war ihre Großmutter, die sie über alles geliebt hatte. Aber wieso sah sie so jung aus? Ihr folgte ein Hund – Puma, ein Mischling aus Schäferhund und Labrador. Der Hund gehörte Eva. Seit Jahren hatte sie ihn nun schon nicht mehr gesehen und jeden Tag hatte sie ihn vermisst. Nun waren sie endlich wieder vereint. Eva war glücklich und entspannt. So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Sie vergaß alles – Zeit und Raum. Eva sah wunderschöne Farben, Farben, wie sie sie vorher noch nie gesehen hatte. Sie war im Paradies und wollte nie wieder von hier weg. Ihre Großmutter führte Eva an einen Bach. In dem Wasser sah sie ihr Spiegelbild: sie hatte endlich ihre Traumfigur – groß und schlank!

Was für ein bizarrer Traum. Da war er plötzlich wieder - dieser Nebel, der Eva erneut einhüllte. Sie versuchte verzweifelt ihm zu entkommen. Sie wollte auf der Wiese bleiben, doch der Nebel wurde immer dicker und zog Eva gnadenlos mit sich fort. Dann wurde es um sie herum dunkel. Eva hatte das Gefühl in ein schwarzes Loch zu fallen...

„Geschafft! Das war knapp, aber wir haben sie wieder“ hörte Eva irgend eine ihr unbekannte Stimme sagen. Sie vermied es die Augen zu öffnen, aber dann tat sie es doch. Eva war entsetzt. Sie begriff, dass sie im Krankenhaus lag. Um ihren Kreislauf zu stabilisieren hatte man sie an einen Tropf gehängt. Ärzte und Krankenschwestern wieselten um sie herum. Man redete auf sie ein, stellte ihr Fragen – aber Eva blickte nur regungslos an die Decke. Erst nach einer ganzen Weile brach es gequält aus ihr heraus: „Warum habt ihr mich zurück ins Leben geholt? Ich habe das Paradies gesehen. Ich war da und wäre so gerne geblieben. Es war so schön. Ich war endlich wieder glücklich. Ich will wieder dahin zurück. Wieso habt ihr mich nicht sterben lassen?“ Keiner wollte Eva in diesem Augenblick antworten und so schlief sie erschöpft ein.

Am nächsten Tag erhielt Eva Besuch von einem Pfarrer. Ihm stellte sie die gleiche Frage. „Der liebe Gott lässt sich gar nicht gerne ins Handwerk pfuschen. Eva, Sie haben einen Abschiedsbrief an Ihre Freundin Renate gemailt – ohne zu ahnen, dass diese gestern dienstfrei hatte. Nur durch Zufall hat sie die Post sofort gelesen und dann umgehend die Rettungskräfte alarmiert. Nur 10 Minuten später und alle Bemühungen wären umsonst gewesen. Ich glaube, das war Vorsehung. Da hat der liebe Gott Ihnen wohl einen Schutzengel zur Seite gestellt“ gab der Pfarrer Antwort. „Ach wirklich?“ kam es verbittert von Eva. „Warum hat Gott mich dann 8 cm zu klein wachsen lassen? Mein Traum war es schon immer Stewardess zu werden. Ich habe alle Voraussetzungen, die man dazu braucht, erfüllt. Nur aufgrund meiner zu geringen Körpergröße hat man mich jedes Mal abgelehnt, nur deshalb.“ „Diese Vorschriften haben Menschen gemacht – nicht Gott.“ Versuchte der Pfarrer Eva zu beruhigen. Innerlich atmete er auf. Jetzt wusste er warum diese junge Frau freiwillig mit einer Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben scheiden wollte. „Welcher Religion gehören Sie an?“ „ Ich bin evangelisch“ murmelte Eva.

Eva sah den Geistlichen traurig an: „Herr Pfarrer, ich hätte sofort bei jeder Fluglinie arbeiten können. Alle wollten mich einstellen – aber nur als Bodenpersonal. Die Personal-Chefs meinten, dass ich attraktiv bin, das aber kann ich selber nicht beurteilen. Was ich von mir sagen kann ist: Ich bin ehrlich, fleißig und zuverlässig, ich spreche perfekt 5 Sprachen, habe ausgezeichnete Umgangsformen. Ich bin nicht gebunden, bin kerngesund, rauche nicht, trinke keinen Alkohol und Drogen habe ich noch nie probiert – das alles reizt mich auch gar nicht.“ Eva redete sich ihren derzeit größten Kummer von der Seele. „Schon als Kind habe ich die Stewardessen um ihren Job beneidet. Immer, wenn Ferien waren, bin ich mit meinen Eltern ins Ausland in Urlaub geflogen. Ich liebte schon damals das Gefühl des Fliegens. Das Lernen an der Uni ist mir wirklich nicht immer leicht gefallen, aber durch eiserne Disziplin bestand ich das Abitur mit 1. Ich hatte immer nur das eine Ziel vor Augen: Ich wollte als Stewardess arbeiten – hoch über den Wolken und ich wollte die Beste sein.“ Der Pfarrer hatte Eva bewusst nicht unterbrochen. Jetzt machte sie eine Pause. Er drückte leicht ihre Hand: „Mal sehen, ob ich etwas für Sie tun kann. Eva, Sie sind eine gebildete junge Frau. Es gibt doch noch andere Berufe, wo man häufig fliegen muss. Ich denke da an den Beruf der Auslandskorrespondentin oder auch als Dolmetscherin bei...“ Weiter kam der Pfarrer nicht, denn Eva fiel ihm ins Wort: „Ich habe nie etwas anderes in Betracht gezogen. Ich weiß genau, dass ich das Zeug zu einer guten Stewardess habe. Vielleicht habe ich bei einer ausländischen Fluggesellschaft mehr Erfolg. Ich würde wirklich alles tun, damit mein Traum vom Fliegen doch noch in Erfüllung geht.“ Der Pfarrer erhob sich: „Ich werde für dich beten.“

Der Pfarrer ging in die Cafeteria. Er hatte das seltsame Gefühl, dass Eva ihm etwas verschwieg. Die Freundin, der sie ihr Leben verdankte, wohnte in einer anderen Stadt – fast 200 km weit entfernt. Bea hatte mit keinem Wort ihre Familie erwähnt. Warum sollte niemand über ihren Klinikaufenthalt informiert werden? Gab es wohlmöglich gar keine Angehörigen oder schämte sie sich ganz einfach nur? Irgendetwas musste noch vorgefallen sein, bevor Eva die letzte Absage erhielt. Diese könnte dann der Auslöser für ihre Kurzschlussreaktion gewesen sein – davon war der Pfarrer überzeugt. Andererseits: woher und wieso hatte Eva diese große Menge starker Schlaftabletten? Laut ihrer eigenen Aussage war sie doch kerngesund! War das alles vielleicht doch schon längerfristig geplant gewesen? Irgendetwas passte nicht zusammen. Der Pfarrer nahm sich vor Eva mit diesen Fragen zu konfrontieren sobald es ihr wieder besser gehen würde.

Da Eva organisch gesund war, wurde sie in die geschlossene Psychiatrie überwiesen. Nach einigen Gesprächen mit geschultem Personal fasste sie langsam wieder neuen Lebensmut.

„Fräulein Lindner“ eine Ärztin winkte Eva zu sich heran „ich habe eine gute Nachricht für Sie: Morgen werden sie in die offene Abteilung verlegt. Sie haben es geschafft.“ Eva fiel ein Stein vom Herzen: „Endlich! Ich bin mir die letzten 14 Tage vorgekommen wie im Gefängnis. Ich verspreche Ihnen, dass ich so eine Dummheit nie, nie wieder machen werde. Der Pfarrer, mit dem ich geredet habe, als ich hier eingeliefert wurde, hat mich da auf eine Idee gebracht. Er meinte, wenn ich als Auslandskorrespondentin arbeiten würde, hätte ich öfter die Chance zu fliegen.“ Die Ärztin lächelte: „Es ist gut, dass Sie so denken. Möchten Sie noch einmal mit dem Herrn Pfarrer reden? Ab nächste Woche Mittwoch ist er wieder hier. Zur Zeit ist er in Urlaub, ansonsten haben wir eine Vertretung.“ Eva schüttelte den Kopf: „Ist nicht nötig. Der Pfarrer hat mir die Augen geöffnet. Allerdings hat er mir mit wenigen Worten mehr vermittelt als all die anderen Psychologen hier auf dieser Station. Sie haben sich zwar Mühe gegeben – vielleicht lag es ja auch an mir – aber bei diesem Geistlichen habe ich mich innerlich öffnen können.“ Erstaunt sah die Ärztin Eva an: „Sind Sie sehr gläubig?“ Eva wurde ernst: „Ich gehe fast nie in die Kirche – nur zu Weihnachten. Das ist in unserer Familie Tradition. Ja, ich glaube an Gott, aber nicht an die Kirche. Die sind ebenso kommerziell wie die weltlichen Unternehmen. Wenn ich beten will, kann ich das jederzeit und überall. Dazu brauche ich nicht in die Kirche gehen und darauf warten, dass der Gottesdienst abgehalten wird. Aber das, was dieser Pfarrer mir am Tag meines Ausrutschers geraten hat, also dieses Gespräch spukt mir noch immer im Kopf herum.“ „Welcher Religion gehören Sie an?“ fragte die Ärztin neugierig. Eva lächelte: „Ich bin evangelisch. Meine Eltern haben mich taufen lassen und ich habe die Konfirmation damals selbst gewollt. Das hatte 2 Gründe: der 1. Grund waren die Geschenke und das Geld, das man zu diesem Anlass bekommt. Ich war 14 Jahre alt und sehr viele junge Leute lassen sich auch heute noch nur aus diesem Grund konfirmieren. Der 2. Grund war und ist es auch noch immer: Ich möchte irgendwann einmal kirchlich heiraten – ganz in weiß. Ich schätze, dass wohl jede Frau irgendwann mal davon träumt.“ Der Pieper, den die Ärztin in ihrem Kittel hatte, meldete sich. Sie musste das Gespräch mit Eva beenden und sich um einen anderen Patienten kümmern.

Eva ging in ihr Zimmer. Sie ließ das letzte halbe Jahr noch einmal in Gedanken Revue passieren. Alles war damals noch gut. Sie hatte ihr Studium mit Auszeichnung bestanden und ihre Eltern hatten ihr daraufhin eine 14-tägige Flugreise in die Staaten spendiert. Am Vortag der Abreise waren plötzlich die Flugtickets verschwunden. Da Evas Eltern nicht zu Hause waren suchte sie die Scheine selbst. Im Safe lagen sie nicht und auch nicht im Sekretär. Sie ging in das Arbeitszimmer ihres Vaters und suchte auf dem Schreibtisch. Obenauf lagen die Tickets nicht, doch zufällig steckte der Schlüssel auf der Schublade. Sie schloss sie auf und durchsuchte sie. Sie hatte dabei ein ganz schlechtes Gewissen, denn dieser Tisch war auf Geheiß ihrer Eltern schon seit ihrer Kindheit an tabu für sie. Eva stieß auf ihre eigenen Adoptionspapiere! Ein Beleg fehlte: der mit den Namen ihrer leiblichen Eltern. Ihr Vati und ihre Mutti waren nicht ihre leiblichen Eltern. Man hatte es ihr verschwiegen, obwohl sie schon fast 3 Jahre volljährig war. Für Eva brach eine Welt zusammen. Warum hatten sie ihr das verschwiegen? Sie verschloss den Schreibtisch ihres Vaters wieder, die Tickets befanden sich auch dort nicht. Sie suchte nicht mehr weiter.

Eva ging in ihr Zimmer und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Es gelang ihr nicht. Warum nur hatte man gerade sie zur Adoption freigegeben? Sie zitterte am ganzen Körper. Verletzt schluchzte sie laut auf. Ein Weinkrampf schüttelte ihren jungen Körper. Zusammengekauert saß sie auf dem Fußboden. Erst nach einer ganzen Weile wurde sie ruhiger. Eva hatte keine Ahnung wie lange sie schon so dagesessen hatte. Sie brauchte frische Luft und öffnete das Fenster. Kalter Wind blies ihr ins Gesicht. „Ich muss hier raus, ich will hier weg.“ murmelte Eva vor sich hin. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Ein Auto fuhr vor. Ihre Eltern kamen von einem Theaterbesuch nach Hause. Eva wollte sich nichts anmerken lassen, darum verschwand sie im Badezimmer. Nachdem sie eine Stunde in der Wanne gelegen hatte begrüßte sie kurz ihre Eltern und verzog sich dann umgehend in ihr Zimmer. Obwohl es stockfinster war machte sie kein Licht an. Fast wäre sie über ihre beiden bereits fertig gepackten Koffer gestolpert, die mitten im Raum standen. Als ihre Mutter kurz darauf nach Eva sah, lag sie bereits im Bett. Die Nervosität war Eva am nächsten Tag deutlich anzumerken. Die Eltern schoben das auf die Vorfreude des Urlaubs zurück. Die Flugtickets lagen neben ihrem Frühstücksbrett. Noch aus den Staaten teilte Eva ihren Eltern ohne Begründung mit, dass sie von zu Hause ausziehen wollte, was sie dann auch tat. Zwar bezahlten ihre Eltern ihr die Miete, aber um einigermaßen finanziell über die Runden zu kommen arbeitete sie als freie Mitarbeiterin in einem Maklerbüro. An alle deutschen Fluggesellschaften schickte sie ihre Bewerbungsschreiben für den Job einer Stewardess und wartete. Es kam eine Absage nach der anderen. Auch die Geschäfte im Maklerbüro gingen schlecht und deshalb war sie schließlich arbeitslos. So war Eva auch nicht böse, als Ina, die Tochter ihrer Nachbarin, bei ihr klingelte. Sie erfuhr, dass die alte Dame schon vor zwei Wochen im Krankenhaus verstorben war. Ina fragte Eva, ob sie nicht Lust und Zeit hätte die Wohnung ihrer Mutter gegen Bezahlung mit zu räumen. Eva versprach zu helfen. Im Wohnzimmerschrank stapelten sich jede menge Medikamente. Eva bot sich an diese zur Apotheke zu bringen, um sie richtig entsorgen zu lassen. Fast eine Woche dauerte es, bis die Wohnung besenrein war. Dann kam der verhängnisvolle letzte Brief und zur Apotheke war Eva wegen Zeitmangel auch noch nicht gegangen.... So war alles gekommen.

Zur gleichen Zeit besuchte der Pfarrer Jochen Angerer seinen Vater. Schon seit Wochen wollte er ihn besuchen, aber immer wieder kam irgend etwas dazwischen. Nun stand er überraschend vor ihm. Nach der herzlichen Begrüßung eröffnete Jochen seinem Vater, dass er für ein paar Tage nach Hause kam. Manfred Angerer nahm seinen Sohn in den Arm: „Du hast Glück, dass ich gerade noch eine Woche zu Hause bin. Nächsten Freitag muss ich schon wieder nach Bozen, Paris und vielleicht auch noch nach Los Angeles. Aber das entscheidet sich erst in Paris.“ Als Hoteltester für verschiedene Reisebüros hatte sich Manfred Angerer einen guten Namen gemacht. Er war bekannt dafür, dass er faire Verträge abschloss.

Jochen schüttelte den Kopf: „Paps, du bist mehr in der Welt unterwegs als mancher Politiker. Was sagt denn Lissy dazu, dass du sie so oft alleine lässt?“ „Lissy wusste von Anfang an worauf sie sich einließ, als sie mich vor 5 Jahren geheiratet hat. Manchmal kann ich sie mitnehmen. Das ist dann sehr schön, aber oft muss ich eben alleine fliegen. Du kennst ja meinen Beruf. Je älter ich werde um so mehr strengt mich das Fliegen an.“ „Paps hör doch einfach auf. Finanziell kannst du dir das doch wirklich erlauben“ warf Jochen ein. Manfred verzog die Mundwinkel: „Nein, zum alten Eisen gehöre ich noch lange nicht. Ich brauche das für mein Ego.“ Jochen stierte aus dem Fenster. „ Jochen, du wirkst auf mich momentan so geistesabwesend . Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“ Manfred Angerer sah seinen Sohn verwundert an. Sonst war er ein aufmerksamer Zuhörer – aber heute? In Jochens Kopf kreisten die Gedanken. Er dachte an die junge Frau in der Psychiatrie – wie war doch gleich ihr Name? Bea? Eva? Sie wollte beruflich so gerne fliegen und durfte es nicht. Sein Vater hingegen war beruflich oft mit seinem Privat-Jet unterwegs und ihm wurde es langsam zu stressig. „Das Leben ist manchmal schon ungerecht“ murmelte Jochen kopfschüttelnd vor sich hin. „Paps, ich habe da eine junge Frau kennen gelernt. Bitte ziehe jetzt keine falschen Schlüsse – ich bin Pfarrer und ich weiß was ich darf und was nicht. Das was ich dir jetzt erzähle fällt nicht unter das Beichtgeheimnis, wie sie ausdrücklich betont hat. Ich habe sie in der psychiatrischen Klinik kennen gelernt. Sie wollte sich das Leben nehmen, weil sie nicht als Stewardess arbeiten darf. Sie ist ein paar Zentimeter zu klein, aber blitzgescheit, sehr ehrgeizig und bildschön. Sie möchte fliegen und darf nicht und du musst fliegen und hast kein Interesse daran. Das meine ich, wenn ich sage: das Leben ist ungerecht.“ Manfred Angerer schüttelte verständnislos den Kopf: „Deswegen nimmt man sich doch nicht gleich das Leben. Es gibt so viele junge Leute, die keine Arbeit in ihrem Traumjob bekommen, wenn die sich alle das Leben nehmen würden, dann wird die Menschheit bald ausgerottet sein.“ Jochen war sehr nachdenklich: „Da muss noch etwas anderes gewesen sein. Ich weiß zwar noch nicht was das ist aber ich habe so das Gefühl, dass Eva – ja, Eva heißt sie – mir bald die ganze Wahrheit erzählt.“ „Wie alt ist die junge Dame? Weißt du das?“ Manfred Angerer wurde neugierig. Jochen überlegte: „Anfang 20 ist sie – glaube ich jedenfalls. Warum fragst du?“ „Nun, wenn die junge Dame wirklich so gescheit ist und das Fliegen so sehr liebt, warum macht sie dann nicht selbst einen Pilotenschein und kutschiert Leute – wie mich zum Beispiel – durch die Welt?“ überlegte Manfred laut. An diese Möglichkeit hatte auch Jochen nicht gedacht. Allerdings gab es da einen Haken: „Paps, diese Ausbildung ist sehr teuer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eva so viel Geld hat. Im Grunde weiß ich noch gar nichts von ihr.“ „Dir scheint sehr viel an dieser Frau zu liegen“ bemerkte Manfred erstaunt. Jochen nickte gedankenverloren mit dem Kopf. Plötzlich zuckte er zusammen: „Paps, du hast Recht und ich weiß auch warum! Irgendwie erinnert sie mich an Mutti.“ Manfred sah seinen Sohn ungläubig an: „Also, wenn ich dich nicht so gut kennen würde, würde ich eiskalt behaupten, dass du verliebt bist. Als ich deine Mutter kennen gelernt habe war es bei mir so ähnlich. Inwiefern erinnert sie dich an deine Mutter?“ „Es ist ihre ganze Art – wie sie sich bewegt, spricht und auch äußerlich ähnelt sie ihr.“ Manfred trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

Jetzt war er es, dem die Gedanken im Kopf umherkreisten. Vor 21 Jahren hatte er seine Frau verloren. Es war nur ein kleiner Eingriff, aber sie wachte nicht mehr aus der Narkose auf. Seine Tochter war noch nicht einmal ein viertel Jahr alt gewesen, sein Sohn Jochen war damals 13 Jahre alt. Manfred musste sich etwas einfallen lassen, damit seine Kinder gut versorgt werden, denn er selbst war berufsbedingt selten zu Hause. Für Jochen war schnell eine Lösung gefunden. Die Mutter von Jochens Schulfreund bot an, dass er dort mit wohnen konnte, wenn der Vater mal wieder unterwegs war. Auch nach der Schule sorgte sie dafür, dass er seine Hausaufgaben machte und etwas zu essen bekam. Sie wohnte im Pfarrhaus und arbeitete als Haushälterin für den Geistlichen. Allerdings - für einen Säugling fehlte ihr die Zeit und Manfred fand auf die Schnelle keine geeignete Bleibe für seine Tochter Beatrice. So entschloss er sich schweren Herzens seine über alles geliebte Tochter zur Adoption frei zu geben. Als Jochen sich einmal nach seiner Schwester erkundigte, erzählte ihm sein Vater, dass Beatrice bei einer sehr netten Familie im Ausland leben würde. Allerdings seien sie unbekannt verzogen und er warte selbst auf einen Brief oder einen Anruf. Jochen fragte nie wieder nach. Etwa 3 Jahre später erbte Manfred überraschend von seinem Patenonkel ein großes Vermögen. Sofort versuchte er seine Tochter zurück zu bekommen – aber die Adoptionsstelle gab den Namen der Adoptiveltern von Beatrice nicht preis.

„Jochen, bitte versuche alles über diese junge Frau in Erfahrung zu bringen: Name, wann und wo geboren, was ihre Eltern machen, ob sie Geschwister hat, wo sie wohnt und so weiter.“ Manfred hatte ein schlechtes Gewissen seiner Tochter gegenüber. Wenn er schon nicht ihr helfen konnte, so wollte er stattdessen dieser jungen Dame den Weg zu ihrem Glück ebnen – ihr den Flugschein finanzieren und sie dann als seine Privatpilotin einstellen. So hatte er selbst auch etwas davon: Nie wieder Stress beim Fliegen und Jochen mochte diese junge Dame schließlich auch. Jochen kam aus dem Staunen nicht heraus: „Paps, was hast du vor? Warum willst du das alles wissen?“ Manfred blickte an die Decke: „Keine Ahnung, vielleicht habe ich heute meinen moralischen oder sozialen Tag. Junge, heute vor 21 Jahren ist deine Mutter gestorben und du wirst morgen 34 Jahre alt.“ „Und du wirst nächste Woche 52 Jahre alt“ erinnerte Jochen seinen Vater an seinen eigenen Geburtstag. „Wenn ich an deine Geburt zurückdenke – das war damals eine mittlere Katastrophe. Deine Mutter war gerade 17 und ich war knappe 18 Jahre alt. 1965 waren wir erst mit 21 Jahren volljährig“ sinnierte Manfred kopfschüttelnd.

Lissy kam vom Einkaufen nach Hause: „Jochen?! Das ist aber schön, dass du uns mal wieder besuchst. Wie lange kannst du denn bleiben?“ „Bis Dienstag. Am Mittwoch halte ich die Frühmesse, aber vorbereiten kann ich die Predigt ja auch hier.“ Manfred ergriff das Wort: „Hier vorne an der Ecke hat letzte Woche ein Grieche ein neues Lokal eröffnet. Wollen wir den mal austesten? Ich lade euch ein.“ Verwundert sah Lissy ihren Mann an. Er liebte es zu Hause zu essen, Hotel- und Gaststätten-Essen hing ihm, nach seinen eigenen Angaben, zum Hals heraus.

Manfred stand auf und ging in den Garten. Jochen wollte ihm folgen, doch Lissy hielt ihn diskret zurück: „Jochen, kannst du deinen Vater nicht dahingehend beeinflussen, dass er endlich mal kürzer tritt? Dieser Stress macht ihn kaputt. Ich habe Angst um ihn.“ Jochen legte beruhigend die Hände auf Lissys Schultern: „Ich habe vorhin schon mit ihm gesprochen. Lissy, vielleicht habe ich die Lösung auch schon gefunden – nein so ist es nicht richtig formuliert – er hat sie wohl schon selbst gefunden. Bitte, frage mich jetzt nicht wie das gehen soll, aber wenn es soweit ist, wirst du es von meinem Vater selbst erfahren. Ich hoffe nur, dass es nicht mehr all zu lange dauert.“ Er folgte seinem Vater in den Garten und Lissy blickte ihm hinterher.

Die paar Tage, die Jochen zu Hause verbrachte, vergingen wie im Fluge. Als er erneut in die psychiatrische Klinik musste, sah er zuerst nach Eva. „Herr Pfarrer?! Das ist aber nett, dass sie mich noch einmal besuchen. Ich habe über Ihren Vorschlag bezüglich eine Stelle als Auslandskorrespondentin anzunehmen nachgedacht. Er ist zwar nicht schlecht, aber ich weiß nicht, ob ich dafür geeignet bin. Politik ist nicht unbedingt mein Fachwissen und bei Katastrophen muss man vor Ort darüber berichten und ich hasse solche Nachrichten“ sprudelte es aus Eva heraus, als sie Jochen besuchte. Mit beiden Händen umschloss er ihre Hand. „Eva, ich habe noch einen Vorschlag, den ich Ihnen unterbreiten kann. Dazu muss ich aber mehr, nein – eigentlich sogar alles – von Ihnen wissen. Ich kenne da zufällig einen etwas älteren Herrn. Ich will ganz offen und ehrlich sein: es ist mein Vater. Er arbeitet als freier und unabhängiger Hoteltester weltweit für verschiedene Reisebüros. Mein Vater hat ein eigenes Flugzeug – nicht sehr groß, aber recht modern und schnell. Er ist oft unterwegs und fliegt die Maschine selbst. Nun, er wird älter und das Fliegen strengt ihn manchmal doch schon arg an. Er würde Ihnen eine Ausbildung als Pilotin finanzieren und Sie fest anstellen, wenn Sie wollen. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass mein Vater vorschnell über Sie urteilt. Er weiß, woher ich Sie kenne und er kennt auch den Grund warum Sie hier sind. Er selbst hat mir den Auftrag gegeben Ihnen sein Angebot zu unterbreiten. Eva, ich habe eine große Bitte: Entscheiden Sie jetzt nicht vorschnell – überlegen Sie sich das Angebot in aller Ruhe. Mein Vater ist zur Zeit sowieso nicht in Deutschland. Er kommt frühestens in 4 Wochen zurück.“ Jochen blickte auf die Uhr. „Bitte, seien Sie mir nicht böse, aber ich habe noch einen Termin. Wenn Sie es wünschen komme ich nächste Woche noch einmal zu Ihnen oder darf ich Sie jetzt nicht wieder besuchen?“ „Herr Pfarrer“ es klang fast wie ein Hilfeschrei von Eva: „Sie können mich jeder Zeit besuchen“ und ganz leise fuhr sie fort „Sie sind momentan der einzige Mensch, dem ich wirklich vertraue.“ Jochen spürte, dass jetzt der Zeitpunkt bei Eva gekommen war, wo sie ihm die ganze Wahrheit erzählen würde – andererseits: er sollte jetzt den Gottesdienst abhalten. Er musste blitzschnell entscheiden was Vorrang hatte. Jochen entschied sich für Eva. „Ich bin gleich wieder da, dann können wir in Ruhe über alles reden“ mit diesen Worten entschwand er aus der Tür. Er eilte in die kleine krankenhauseigene Kapelle – es war kein Mensch da – wie meistens um diese Zeit.

Erleichtert kehrte er zurück zu Eva. Stockend begann sie zu reden. „Herr Pfarrer, ich kann das Angebot Ihres Vaters nicht annehmen. Ich würde es liebend gerne tun, aber ich weiß nicht wer ich bin und wer meine Eltern sind. Ich wurde als Säugling adoptiert und kenne meine leiblichen Eltern nicht. Ich habe das nur durch einen Zufall erfahren. Geschwister habe ich nicht. Meine Adoptiv-Eltern wissen nicht, dass ich die Wahrheit kenne. Als ich es vor einem halben Jahr erfuhr ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Meine Eltern hatten mir als Belohnung für mein gutes Abschlussergebnis von der Uni eine Reise in die USA spendiert. Ich hatte meine Flugtickets gesucht. Trotz Verbot öffnete ich den Schreibtisch meines Vaters. Da fand ich die Unterlagen. Ich bin daraufhin von zu Hause ausgezogen. Meinen Eltern war das zwar nicht ganz recht, aber ich habe ihnen gesagt, dass ich alt genug bin und auf eigenen Füßen stehen will. Den wahren Grund habe ich ihnen verschwiegen – so wie sie es mir verschwiegen haben, dass ich adoptiert bin. Zähneknirschend haben sie schließlich doch nachgegeben. Es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig – immerhin bin ich volljährig. Seitdem ist der persönliche Kontakt zwischen uns abgebrochen. Sie haben mir zwar bis jetzt die Miete bezahlt, aber für meinen Lebensunterhalt musste ich selbst sorgen. Ich habe mich bei jeder Fluggesellschaft beworben, aber ich bekam eine Absage nach der anderen. Es lief alles schief. Ich hatte einen Job in einem Maklerbüro angenommen und ein halbes Jahr später war ich arbeitslos. Die Geschäfte gingen zu schlecht. Seit drei Wochen sitze ich nun auf der Straße. Wenn das ihr Vater alles wissen würde, hätte er Ihnen nie den Auftrag gegeben, mich als Pilotin anzuwerben.“ Jochen lächelte: „Da kenne ich meinen Vater aber besser. Natürlich hätte er Ihnen dieses Angebot unterbreitet. Er möchte nur wissen, mit wem er es zu tun hat. Das einzige worauf er großen Wert legt ist Ehrlichkeit. Eva, wie sind Sie an die Tabletten gekommen? Sie haben mir doch berichtet, dass Sie gesund sind...“ Eva erzählte dem Pfarrer wie es dazu gekommen war.

Nachdem Jochen Eva verlassen hatte ging er in den Klinikpark. Das, was er da eben erfahren hatte, musste er erst mal verarbeiten. Noch nie in seinem Leben ging ihm das Schicksal eines Menschen so nah wie das von Eva. Plötzlich dachte er an seine Schwester Beatrice. Was wohl aus ihr geworden war? Er wusste nur, dass sie im Ausland lebt – aber in welchem Land? Sein Vater war in der letzten Zeit auffallend oft in Südtirol. Vermutete er seine Tochter dort? Suchte er sie vielleicht schon selbst? Jochen beschloss seinen Vater danach zu fragen und Beatrice dann mit ihm gemeinsam zu suchen. Vielleicht könnten Eva und Beatrice Freundinnen werden, denn schließlich hatten ja beide dasselbe Schicksal. Jochen rechnete nach: Eva war ein Jahr älter als Beatrice – oder etwa nicht? Wie alt war er selbst, als Beatrice geboren wurde 12, 13? Jochen wusste es nicht mehr so genau. Wie lange war es nun schon her, wo er zuletzt an seine Schwester gedacht hatte – 5, 6 Monate? Dafür schämte er sich jetzt.

Jochen war schon über eine Stunde fort und seitdem saß Eva regungslos auf dem Stuhl. Noch immer hatte sie seine Worte und den Klang seiner Stimme im Ohr. Das Angebot war verlockend und sie würde den Herrn Pfarrer wahrscheinlich dann auch öfter sehen... Entsetzt sprang sie auf: „Nein, oh nein!“ murmelte sie vor sich hin „ich glaube ich begehe schon wieder eine Dummheit! Bin ich etwa in ihn verliebt? Das ist doch unmöglich!“ Ihr Herz raste. Sie zwang sich selbst zur Ruhe – mit Erfolg. Sie wollte die Stelle bei dem Vater des Pfarrers nicht annehmen, nur um dem Geistlichen nicht mehr zu begegnen.

Manfred Angerer war zum gleichen Zeitpunkt mal wieder auf den Weg nach Südtirol. Sein Sohn hatte mit der Vermutung, dass er dort nach Beatrice suchen würde nicht ganz Unrecht. Manfred hatte nie aufgehört nach seiner Tochter zu suchen. Vor 15 Jahren hatte er in Erfahrung gebracht, dass kurz nachdem er seine Tochter zur Adoption freigegeben hatte, einer deutschen Familie, die ihren 2. Wohnsitz in der Nähe von Meran besaß, ein Mädchen vermittelt wurde. Jetzt hatte er endlich die Adresse erfahren. Manfred war sich sicher, dass dieses Mädchen seine Tochter war.

Nach der Landung in Bozen nahm er sich ein Taxi und ließ sich nach Meran fahren. Aber während er im Taxi saß überkamen ihm Zweifel. Was war, wenn er sich irrte? Er verwarf den Gedanken, aber wie sollte er seiner Tochter erklären wer er war. Das „warum“ war klar - anlügen wollte er seine Tochter nicht. Manfred war immer ehrlich gewesen. Wusste sie denn überhaupt, dass sie adoptiert wurde? Er selbst hatte seine Personalien beim Jugendamt hinterlassen müssen. Sicher hatte man Beatrice diese Angaben mitgeteilt, als sie volljährig wurde. Aber warum hatte sie keinen Kontakt zu ihm aufgenommen?

Das Taxi hielt an. Manfred Angerer bezahlte und stieg aus. Er stand vor einer kleinen privaten Pension. In einem der Fenster hing ein Schild: Zimmer frei. Er atmete noch einmal tief durch und klingelte. Eine hochschwangere junge Frau öffnete ihm die Tür. Während Manfred sich nach dem Zimmer erkundigte musterte er die junge Frau unauffällig. Sie hatte bis auf die Farbe seiner Augen mit ihm selbst keine Ähnlichkeit. Auch seiner damaligen Frau ähnelte sie in keiner Weise. Vielleicht war diese Dame eine Verwandte oder eine Angestellte. Manfred Angerer beschloss der Sache auf den Grund zu gehen, deshalb mietete er das Zimmer für eine Woche an. Die junge Frau reichte Manfred die Hand: „Ich wünsche Ihnen in unserem Hause ein paar erholsame Urlaubstage. Sie bekommen Zimmer Nummer 4. Wenn Sie noch irgendwelche Fragen oder Wünsche haben sollten, können Sie mich gerne ansprechen. Ach, übrigens – mein Name ist Cornelia Frey.“ „Ich bin nicht hier um Urlaub zu machen, ich bin auf der Suche nach meiner Tochter. Sie hieß bei uns Beatrice und wird bald 22 Jahre alt. Ihren jetzigen Namen kenne ich leider nicht. Ich heiße Manfred Angerer und wohne in München“ stellte er sich vor. Aus Cornelias Gesicht wich schlagartig die Farbe: ihren eigenen 22. Geburtstag konnte sie in 3 Wochen feiern, Angerer hieß ihr leiblicher Vater! An den Vornamen konnte sie sich nicht erinnern und auch er stammte aus München... Sie krümmte sich und schrie leise auf. Der Schock hatte vorzeitig die Wehen ausgelöst. Das Kind sollte normalerweise erst in 14 Tagen kommen. „Mein Baby kommt. Ich muss nach dem Rettungswagen telefonieren. Mein Mann ist heute in Bozen und kommt erst in ein paar Stunden nach Hause. Bitte geben Sie ihm Bescheid.“ Cornelia drehte sich um und verschwand hinter einer der Türen. Knapp 10 Minuten später traf der Rettungswagen ein. In aller Eile hatte Cornelia ihre Tasche für die Klinik gepackt – jetzt fuhr sie fort.

Manfred hatte nun schon mehrere Stunden am Fenster verbracht. Endlich sah er einen Wagen mit italienischem Nummernschild auf das Grundstück fahren. Er eilte auf den Flur. Ein junger Mann kam durch die Haustür. „Sind Sie Herr Frey und ist Ihre Frau schwanger?“ rief er dem verduzten Hausherrn entgegen. Wolfram Frey überkam ein mulmiges Gefühl: „Ja! Was ist mit meiner Frau?“ „Sie hat gegen 15:00 Uhr Wehen bekommen und musste sofort ins Spital.“ Wolfram machte auf dem Hacken kehrt und raste in die Klinik. Seine Frau befand sich im Kreissaal. Er durfte zu ihr und schon ein paar Minuten später hielt er seinen Sohn im Arm. Er war überglücklich und auch seiner Frau ging es den Umständen entsprechend gut. Beseelt fuhr er nach Hause. Vor dem Haus traf er Manfred, der in einem naheliegenden Lokal zu Abend gegessen hatte und jetzt auf sein Zimmer wollte. Übermütig packte Wolfram Manfred an den Oberarmen: „He, Sie sind doch der Mann der mir erzählt hat, dass meine Frau in die Klinik musste. Ich habe einen Sohn – nein, meine Frau Cornelia und ich - wir haben einen Sohn! Ich nehme an, dass Sie bei uns Quartier bezogen haben. Ich heiße Wolfram Frey und wie heißen Sie?“ „Manfred Angerer aus München und ich wollte eine Woche bleiben“ stellte Manfred sich vor. „Angerer? Sie heißen Angerer und wohnen in München? Haben Sie das etwa meiner Frau gesagt?“ Wolfram war sichtlich schockiert. „Ja, und ich habe ihr auch erzählt, dass ich hier nach meiner Tochter suche. Dann setzten plötzlich bei ihr die Wehen ein“ Manfred konnte sich keinen Reim auf Wolframs Stimmungswechsel machen. Hasserfüllt blickte Wolfram sein Gegenüber an: „Mensch, sind Sie wahnsinnig? Sie haben vielleicht Nerven nach fast 22 Jahren hier aufzutauchen. Erst lassen Sie Cornelia im Stich und jetzt, wo sie sich damit abgefunden hat, dass ihr leiblicher Vater – und das sind Sie ja wohl - sie nicht haben wollte, tauchen Sie ohne Vorankündigung hier auf. Es ist kein Wunder, dass daraufhin die Wehen eingesetzt haben. Gott sei Dank ist alles gutgegangen. Heute Nacht können Sie das Zimmer haben, aber ich möchte Sie bitten sich morgen nach einer anderen Unterkunft umzusehen. Und bitte, lassen Sie sich hier bei uns nie wieder blicken.“ Auf diese Entwicklung war Manfred nicht vorbereitet. Er war fix-und-fertig. Einerseits hatte er endlich seine Tochter gefunden – andererseits hatte er sie im gleichen Augenblick wieder verloren. Einen Enkel hatte er auch... Schlafen konnte Manfred in dieser Nacht nicht.

Als Manfred am nächsten Tag abreiste, war er noch immer durcheinander. Mit einem Taxi ließ er sich zurück nach München bringen. Sein Flugzeug hatte er in Bozen stehen lassen. Er war jetzt nicht in der Lage die Maschine selbst zu fliegen. Seine Frau war mehr als erstaunt, als er ohne sich vorher anzumelden zu Hause ankam. Er berichtete ihr mit Tränen in den Augen was er erlebt hatte. Lissy ließ ihn reden. Sie hörte nur zu. Instinktiv wusste sie, was sie zu tun hatte. Nachdem Manfred sich nach dem Mittagessen erschöpft hingelegt hatte, rief sie Jochen an.

Jochen besorgte sich eine Vertretung und fuhr nach Meran. Als erstes suchte er seinen dortigen Amtsbruder auf. Pfarrer Peter Burger und Jochen waren beide im gleichen Alter und waren sich auf Anhieb sympathisch. Schnell ging man zum „du“ über. Da die Familie Frey gläubige Christen waren und auch regelmäßig an den Gottesdiensten teilnahmen kannte Peter sie natürlich. Jochen erfuhr, dass Cornelia mit dem aus Meran stammenden Wolfram Frey seit einem Jahr verheiratet war. Natürlich wusste Peter, dass die junge Frau ein Adoptivkind war und ebenso kannte er die Gründe, die zu der Adoption führten. „Du heißt Angerer – genau wie der Vater von Cornelia Frey. Seid ihr verwandt?“ erkundigte sich Pfarrer Peter Burger bei Jochen. „Manfred Angerer ist mein Vater und somit ist Cornelia Frey meine Schwester“ antwortete Jochen. Ungläubig blickte Peter sein Gegenüber an: „Das kann nicht sein. Als Cornelia geboren wurde war ihre Mutter gerade 20 Jahre alt – du kannst höchstens der Halbbruder sein.“ Jochen schüttelte den Kopf: „Ich war 13 Jahre alt als meine Schwester geboren wurde. Bei meiner eigenen Geburt war meine Mutter 17 Jahre alt. Beatrice war ein Wunschkind. Meine Mutter hatte 2 Fehlgeburten bevor Beatrice kam. Kurze Zeit später musste unsere Mutter sich einem kleinen Eingriff unterziehen. Sie ist nicht mehr aus der Narkose aufgewacht. Da unser Vater damals wie heute oft beruflich nicht zu Hause war, hat er meine Schwester zur Adoption freigegeben. Leicht ist es ihm wirklich nicht gefallen. Für ein Kindermädchen oder eine Haushaltshilfe hat damals das Geld nicht gelangt. Ein paar Jahre später hat mein Vater ein größeres Erbe antreten können. Er wollte seine Tochter umgehend zurückholen – aber man hat ihm den Namen der Familie, die Beatrice adoptiert hatte, nicht genannt. Er ist gelernter Koch und hat sich nach seiner Ausbildung als Hoteltester selbständig gemacht.“ Peter machte eine Flasche Wein auf und schenkte 2 Gläser ein: „Dann kann dein Vater unmöglich der Vater von Cornelia sein. Das einzige was ich weiß ist folgendes: der Vater von Cornelia ist ein gewisser Angerer und war damals Inhaber eines Reisebüros in München. Cornelias Mutter war seine Angestellte: Prokuristin, Sekretärin oder so etwas in der Art. Die beiden hatten ein Verhältnis. Das 6. Gebot hat diesen Angerer nie interessiert, denn er war mit einer blinden aber reichen Frau verheiratet und dachte nicht im Traum daran sich wegen eines Fehltritts mit Folgen scheiden zu lassen. Im Gegenteil: als er erfuhr, dass seine Geliebte schwanger war, hat er ihr den Laufpass gegeben. Sie hat daraufhin fristlos gekündigt und nach der Geburt keinen neuen Job wiederbekommen. Noch während der Schwangerschaft verfiel sie dem Alkohol und nahm Drogen. Eine Ärztin hat umgehend das Jugendamt informiert und man hat ihr das Kind entzogen. Ein halbes Jahr später hat sie sich den goldenen Schuss gesetzt.“ Jochen war entsetzt: „Oh Gott – wie furchtbar. Jetzt verstehe ich die Reaktion der beiden Freys. Mist – wie soll ich das nur meinem Vater beibringen? Er ist felsenfest davon überzeugt, dass Cornelia seine Tochter ist. Er weiß nicht, dass ich hier bin und die Sache zu einem gütlichen Abschluss bringen wollte.“ „Ich bin froh, dass du erst zu mir gekommen bist. Wenn du gleich zu den Freys gegangen wärst – also das wäre so gewesen, als ob du Feuer mit Benzin löschen wolltest. Bei dem Namen Angerer sehen die beiden sofort rot. Aber ich verspreche dir die Sache aufzuklären“ versuchte Peter Jochen zu beruhigen. Jochen nippte an dem Wein: „Der Name Angerer ist in und um München herum nicht gerade selten. Hat dieser andere Angerer wenigstens die Vaterschaft anerkannt?“ „Anfangs nicht, aber die Mutter von Cornelia Frey hat auf einen Test bestanden. Danach war alles klar – er war eindeutig der Vater. Er selbst hat den persönlichen Kontakt zu seiner Tochter vehement abgelehnt. Ich selbst habe die ganze Geschichte auch erst letztes Jahr erfahren, als die beiden das Aufgebot bei mir bestellt haben“ überlegte Peter laut.

Am nächsten Tag kehrte Jochen nach München zurück. Er suchte sein Elternhaus auf und berichtete seinem Vater, was er in Italien in Erfahrung gebracht hatte. Obwohl alle Bemühungen seine Tochter Beatrice zu finden nun endgültig fehlgeschlagen waren, war Manfred Angerer irgendwie erleichtert. Jetzt verstand er auch die ablehnende Reaktion des jungen Herrn Frey. Plötzlich stutzte er: Reisebüro Angerer – München!

Damals, 1965, gab es in der Drehe rund in und um München herum nur ein einziges Reisebüro Angerer – das von seinem Bruder Walter! Dieser war verheiratet und hatte das 6. Gebot, was da heißt: du sollst nicht ehebrechen, nie befolgt. In dieser Hinsicht war er ein echter Filou – ein Weiberheld, der jedem Rock nachstellte. Nachdem er schließlich 3 uneheliche Kinder in die Welt gesetzt hatte, ließ sich seine Frau von ihm scheiden. Danach ging es mit ihm bergab: privat, beruflich und auch finanziell. Manfred stöhnte auf – demnach war Cornelia Frey zwar nicht seine Tochter - aber seine Nichte.

Walter Angerer, der 2 Jahre jünger als Manfred war, hatte vor etwa 15 Jahren den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen, nachdem diese ihm wegen seiner diversen Fehlverhalten seiner Ehefrau gegenüber Vorhaltungen gemacht hatte. Seitdem wusste keiner mehr wo er lebt und wie es ihm ging. Manfred war das egal – es interessierte ihn auch jetzt nicht, nur Cornelia tat ihm leid. Er dachte an seinen Aufenthalt in Meran und sein Flugzeug musste er auch wieder nach München holen. „Jochen, hast du der jungen Dame, von der du mir neulich erzählt hast, schon mein Angebot unterbreitet? Es wird wirklich langsam Zeit, dass ich einen Piloten oder eine Pilotin einstelle.“ Jochen lächelte: „Was hältst du davon sie selber zu fragen? Wir können heute Nachmittag in die Klinik fahren. Ach übrigens, sie ist auch ein Adoptivkind. Ich erzähle dir jetzt ihre traurige Geschichte. Danach wirst du ihre Verfehlung - genau wie ich - bestimmt besser verstehen.“

Ein paar Stunden später betraten die beiden Männer die Klinik. Durch Jochens Ausführungen kannte Manfred nun Evas Leben und war geschockt. Jetzt kannte er den, Grund warum sie überreagiert hatte. Nun war er gespannt darauf sie persönlich kennen zu lernen. Jochen betrat vor seinem Vater Evas Zimmer. Er wollte die beiden gerade miteinander bekannt machen, da griff sich sein Vater an die Brust und sackte zusammen. Jochen erkannte sofort, dass sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte. Eva lief ins Schwesternzimmer und holte Hilfe. Warum sein Vater ohne jegliche Vorankündigung diesen Anfall bekommen hatte wusste er nicht. Glücklicherweise bekam er sofort ärztliche Hilfe. Auch Jochen war zu Tode erschrocken. Eva versuchte ihn seelisch zu stützen. Sie versuchte ihm die Hoffnung zurückzugeben, genau so wie er ihr damals geholfen hatte. „Der Stress der letzten Wochen und dann die Enttäuschung, dass er seine Tochter, also meine Schwester, nun doch in all den Jahren nicht gefunden hat - das war einfach zu viel für ihn. Ich hätte ihn nicht dazu überreden dürfen herzukommen. Er hätte sich besser ausruhen sollen. Ich muss Lissy anrufen. Sie ist seine Frau. Eva, ich komme gleich zurück. Falls sich der Arzt in der Zwischenzeit melden sollte, er möchte bitte einen Augenblick warten.“ Mit diesen Worten eilte Jochen aus dem Zimmer.

Was hatte der Pfarrer da eben in seiner Verzweifelung ihr anvertraut? Sein Vater hatte Stress. Nun gut - Stress haben viele. Aber wieso suchte er seine Tochter und das scheinbar schon viele Jahre? Was steckte dahinter? Manfred Angerer hatte auf Eva einen sympathischen Eindruck hinterlassen, obwohl sie kein Wort miteinander gewechselt hatten. Warum war er da? Was wollte der Pfarrer, dessen Namen Eva noch immer nicht kannte, mit diesem wahrscheinlich gut gemeinten Überraschungsbesuch erreichen? Die Tür wurde geöffnet und Jochen war zurück. Eva stellte ihm all die Fragen, die ihr eben durch den Kopf gingen und wahrheitsgemäß beantwortete Jochen sie ihr. Verbittert starrte Eva auf den Boden: „Ich verstehe Ihren Vater. Er hat richtig gehandelt. Leider weiß ich von meinen leiblichen Eltern gar nichts. Vielleicht sind sie tot oder Verbrecher. Es kann ja auch sein, dass ich das Ergebnis einer Vergewaltigung bin oder...“ Eva versagte die Stimme. Jochen und Eva trösteten sich jetzt gegenseitig. Es klopfte und Lissy kam in Begleitung eines Arztes in Evas Zimmer. „Ihrem Vater geht es wieder besser. Sie können jetzt zu ihm gehen.“ Eva war genauso erleichtert wie Jochen. Glücklich stellte Eva fest, dass sie kein Herzklopfen hatte als sie mit Jochen redete, sondern sie konnte mit ihm wie mit einem guten Freund reden.

Jochen und Lissy betraten gemeinsam das Krankenzimmer auf der Intensivstation von Manfred. Er war an alle möglichen Geräte angeschlossen, aber er war bei klarem Verstand: „Jochen, warum hast du mich nicht darauf vorbereitet? Ich habe geglaubt, dass ich einen Geist sehe.“ Manfred sprach zwar nur leise aber deutlich. Jochen wusste nicht, wovon sein Vater sprach: „Ich weiß nicht was du meinst. Worauf hätte ich dich denn vorbereiten sollen?“ Manfred blickte seinen Sohn ungläubig an: „Weißt du wirklich nicht was ich meine? Eva – sie ist deine Schwester. Sie ist eurer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Genau so hat sie ausgesehen als ich sie kennen lernte. Schau dir ihre Fotos an. Ich reise um die ganze Welt um sie zu finden und du präsentierst sie mir hier auf dem goldenen Teller. Wusstest du das wirklich nicht?“ Nicht nur Jochen, auch Lissy musste sich setzen. Jochen suchte nach Worten: „Paps, du fantasierst. Du hast gerade einen Herzinfarkt überstanden.“ Es dauerte ein paar Sekunden bis Manfred antwortete: „Sie ist es. Ich weiß es – das kannst du mir glauben.“ „Bist du dir sicher? So etwas ist heutzutage leicht feststellbar. Ich möchte dir und auch Eva gerne eine weitere Enttäuschung ersparen.“ Jochen wollte seinen Vater nicht aufregen, aber jetzt wusste er, was den Schock, der den Herzinfarkt zur Folge hatte, ausgelöst hatte. „Paps, bitte sei mir nicht böse, aber ich brauche jetzt erst mal frische Luft. Wenn du willst rede ich mit Eva.“ Manfred lächelte: „Tu das. Ordne deine Gedanken und dann bringe deine Schwester zu mir. Ich habe ihr so viel zu sagen. Ich bin auch gerne dazu bereit mich einem Vaterschaftstest zu unterziehen, damit wir alle auf der ganz sicheren Seite sind.“ „Paps, reg dich bitte nicht auf. Du brauchst jetzt Ruhe. Ich werde mich darum kümmern, dass alles in Ordnung kommt."

Eva stand in ihrem Zimmer am offenen Fenster und blickte in den Klinikpark. Es war schon schummrig. Eine Gestalt ging langsam zur Kapelle. Erkennen konnte Eva die Person nicht, aber sie vermutete, dass es der Pfarrer war. Sie schloss das Fenster, zog sich eine Jacke an und ging ebenfalls in die Kapelle. Der Pfarrer stand mit dem Rücken zu Eva vor dem Altar und hielt ein stummes Gebet. Er hatte nicht bemerkt, dass er nicht mehr alleine war. Als er sich umdrehte blickte er in Evas Augen. Jochens Blick irritierte Eva. Sie konnte ihn nicht deuten. War etwas schlimmes mit seinem Vater passiert oder ging es ihm wieder besser? Jochen streckte beide Arme nach vorne aus und ergriff Evas Hände. Eva merkte, wie er sie musterte. „Wie geht es Ihrem Vater?“ „Es geht ihm wieder besser. Paps hat Recht. Ich muss blind gewesen sein – die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend. Eva, wir müssen reden – jetzt sofort. Es ist sehr wichtig. Wir wissen jetzt, was den Herzinfarkt ausgelöst hat.“ Jochen erzählte Eva alles. Sie unterbrach ihn nicht. „So, das war´s“ endete er. Eva hatte einen Kloß im Hals: „Was soll das? Warum erzählen Sie mir das alles? Ich glaube Ihr Vater ist zur Zeit in einem so desolaten Zustand, der würde momentan wahrscheinlich jede jüngere Frau als seine Tochter ansehen. Aber wenn das wirklich wahr wäre – ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden – aber ich glaube nicht daran. Herr Pfarrer, bitte seien Sie mir nicht böse und antworten Sie mir ehrlich: glauben Sie das wirklich, was Ihr Vater da gesagt hat?“ Anstatt zu antworten griff Jochen in die Innentasche seiner Jacke, holte seine Brieftasche heraus, entnahm daraus eine Fotografie und zeigte Eva das Hochzeitsfoto seiner Eltern. Eva starrte fassungslos auf das Bild. Ihr Ebenbild war darauf zu sehen. Ihre Hände zitterten. Jochen beobachtete Evas Reaktion: „Eva, ich glaube es ist wirklich nicht ganz unverständlich, dass Paps so reagiert hat.“ „Großer Gott – dann wären wir ja Geschwister...“ Eva zitterte am ganzen Körper. „Ich bin mit einem Gentest einverstanden. Ich mache mir zwar immer noch keine große Hoffnung, aber ich würde mich freuen, wenn es wahr wäre. Dann wüsste ich wenigstens woran ich bin. Ach übrigens, mein zweiter Vorname ist Beatrice – genau wie Ihre Schwester. Ich habe mich manchmal schon darüber gewundert, denn keiner – außer eben mir – in unserer Familie hat einen Doppelnamen. Es deutet tatsächlich alles daraufhin, dass wir miteinander verwandt sind. Aber, wie schon gesagt, erst nach dem Gentest haben wir wirklich die Gewissheit.“ Jochen lächelte: „Wollen wir uns nicht endlich duzen?“ „Ich habe nichts dagegen. Aber ich weiß doch gar nicht wie du heißt“ kam es leise von Eva. Jochen strahlte Eva an: „Jochen - Jochen Angerer – ich bin 34 Jahre alt. Paps heißt Manfred und Mutti hieß Erika. Ich wohne und arbeite in Memmingen – Paps lebt mit Lissy, mit der er seit ein paar Jahren in 2. Ehe verheiratet ist, hier in München. Willst du sonst noch etwas wissen?“ Eva schüttelte den Kopf. „Ich habe zwar noch viele Fragen an meinen Vater, aber ich will erst einmal das Ergebnis der Genanalyse abwarten. Falls dein Vater tatsächlich auch mein Vater sein sollte, werde ich ihn selbstverständlich auch besuchen und zwar sehr gerne. Aber wenn das Ergebnis negativ ausfällt gehe ich nicht zu ihm. Ich möchte ihm und auch mir eine peinliche Gegenüberstellung ersparen. Bitte richte ihm das aus. Ich hoffe, dass er und auch du mich verstehst. Jochen, sei mir jetzt nicht böse. Ich muss zurück auf mein Zimmer. Ich nehme an, dass du deinen Vater morgen noch einmal besuchst. Wenn du danach noch Zeit hast, kannst du im Anschluss daran auch noch zu mir kommen.“

Voller Ungeduld fieberten nicht nur Manfred und Eva dem Untersuchungsergebnis entgegen – auch Jochen wartete gespannt auf die Nachricht. Endlich war es soweit – der Test war positiv. Zuerst erfuhr es Manfred. Der Chefarzt persönlich überbrachte ihm die Botschaft. „Ja, ja, ja! Ich habe es doch gleich gewusst. Ach, ist das schön“ jubelte er befreit und glücklich auf. „Ich will zu meiner Tochter. Ich möchte es ihr selber sagen – darf ich das, oder weiß sie es schon?“ Der Chefarzt lachte leise: „Ja und nein.“ „Wie – ja und nein?“ Manfred war verunsichert. Der Chefarzt schmunzelte noch immer: „Sie haben mir 2 Fragen gleichzeitig gestellt. Ja: ja, sie dürfen es ihr selber sagen. Nein: nein, sie weiß es noch nicht.“ Eine Ärztin kontrollierte den Blutdruck von Manfred – er war leicht erhöht – mit steigender Tendenz. Noch mehr Aufregung wollte der Chefarzt Manfred jetzt nicht zumuten und so einigten die beiden Männer sich darauf, Eva erst am nächsten Tag zu unterrichten. Kaum war Manfred wieder alleine – da rief er Jochen an. „Jochen, das Ergebnis liegt endlich vor. Es ist positiv ausgefallen. Ich bin Evas Vater und du bist ihr Bruder. Eben habe ich die Nachricht erhalten. Junge, es stimmt wirklich. Wir haben sie endlich wieder. Ich will Evas Augen sehen, wenn sie es morgen erfährt – und zwar von mir selbst. Heute darf ich es ihr leider noch nicht sagen, mein Blutdruck ist momentan zu hoch. Man hat mir gerade Medikamente dagegen gegeben. Ach Junge, ich bin so glücklich, ich könnte jetzt die ganze Welt umarmen.“ So redselig kannte Jochen seinen Vater sonst eigentlich nicht, aber nun war er genau so erlöst wie sein Vater. Gerne wäre er bei dem Gespräch dabei gewesen aber er konnte sich nicht schon wieder so kurzfristig eine Vertretung besorgen.

Am nächsten Tag hatte man Manfred schon vorsorglich ein Beruhigungsmittel verabreicht. Jetzt saß er im Ärztezimmer. Eva wunderte sich nur, dass sie zur Untersuchung auf eine andere Station gehen sollte. Eine Krankenschwester, die nicht wusste um was es ging, begleitete sie dorthin. Die Schwester meldete Eva an. Dann trat sie ein. Auf einem Stuhl saß ein weiterer Patient. Eva erkannte ihn sofort: Jochens Vater! Er strahlte derart über das ganze Gesicht, sodass Eva sofort wusste warum sie hier war. In seinen Augen konnte sie lesen, dass er eine gute Nachricht erhalten hatte und da man sie zu ihm gebracht hatte konnte es nur bedeuten, dass er ihr Vater war. Tränen liefen ihr und auch Manfred über das Gesicht. Manfred erhob sich von dem Stuhl und kam mit ausgebreiteten Armen ein paar Schritte auf Eva zu. Erschrocken eilte Eva ihm entgegen. Wortlos umarmten sich die beiden: „Beatrice, Eva, du bist meine Tochter!“ „Ist das wirklich wahr? Wie soll ich Sie – dich denn jetzt nennen? Zu meinen anderen Eltern habe ich Mutti und Vati gesagt. So will und kann ich dich nicht anreden.“ Manfred musste sich wieder setzen. „Du kannst Manfred zu mir sagen oder Paps, so wie Jochen auch. Du kannst mich nennen wie immer du willst – das ist mir ganz egal.“ Eva kniete sich vor Manfred hin. Noch immer hielten sie sich an den Händen fest: „Wenn es dir recht ist würde ich auch Paps zu dir sagen – so wie Jochen.“ Ein anwesender Arzt maß jetzt den Blutdruck bei Manfred. Er war zwar etwas erhöht, hielt sich aber in Grenzen. Trotzdem musste Manfred wieder in sein Zimmer. Eva versprach ihn nachmittags noch einmal zu besuchen.

14 Tage lag Manfred jetzt schon in der Klinik. Jetzt durfte er endlich nach Hause. Auch Eva konnte die Klinik am gleichen Tag verlassen. Manfred hatte seiner Tochter angeboten zu ihm zu ziehen. Eva brauchte nicht lange überlegen. Dankbar nahm sie sein Angebot an. Auch den Pilotenschein wollte sie machen.

Als Eva in ihre Wohnung ging um sie zu räumen fand sie einen Brief ihrer Adoptiveltern vor. Sie wollten wissen, was mit Eva los war und warum sie ihnen aus dem Weg ging. Die beiden baten um ein Treffen auf neutralem Boden. Sie hatten ein gemütliches Lokal vorgeschlagen. Der Termin war vor 2 Tagen gewesen. Eva raffte sich auf und rief an. Kurz und knapp berichtete sie wahrheitsgemäß, dass sie krank war und längere Zeit in der Klinik bleiben musste. Was das für eine Krankheit war und weshalb sie dort war erzählte sie nicht – nur, dass es ihr jetzt wieder besser gehen würde. Man einigte sich auf ein gemeinsames Treffen am nächsten Wochenende im Stadtpark.

Evas Eltern staunten nicht schlecht, als sie Eva am Wochenende in Begleitung eines Pfarrers und eines älteren Herren auf sich zukommen sahen: „Darf ich bekannt machen? Das sind meine Mutti und mein Vati, Gerda und Hubert Lindner – und das ist mein leiblicher Paps Manfred Angerer und mein Bruder Jochen“ stellte Eva die vier einander vor. Gerda und Hubert Lindner waren einer Ohnmacht nahe. Woher kannte Eva ihren richtigen Vater? Sie sollte doch nie erfahren, dass man sie adoptiert hatte. Eva war doch ihr Kind. Sie hatten sie lieb, wie eine leibliche Tochter. Sie hatten sie großgezogen, ihr Liebe und Geborgenheit gegeben, sie getröstet wenn sie krank war, mit ihr gelacht und geweint, bei ihrem ersten Liebeskummer mitgelitten – alles das, was liebevolle Eltern eben mit ihren Kindern so machen. Und nun das! Hubert war der erste, der seine Fassung wiedererlangte. „Na ja, nun ist es raus und du weißt es.“ Er teilte all seine Ängste und Sorgen den anderen mit. „Ich bin doch nicht euer Eigentum. Ihr hättet es mir erzählen müssen.“ Eva war empört. „Woher und seit wann weißt du es denn?“ schluchzte Gerda auf. Eva erzählte es ihr. Und wieder mischte sich Hubert ein: „Ich habe dir ausdrücklich verboten an meinen Schreibtisch zu gehen. Wieso bist du dir so sicher, dass dieser Mann da dein leiblicher Vater ist?“ Manfred meldete sich zu Wort: „Ich habe einen Vaterschaftstest machen lassen. Er ist positiv ausgefallen. Wissen Sie eigentlich, dass Eva sich das Leben nehmen wollte? Sie hat nur durch Zufall überlebt. Hätten Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren können?“ Das war für Gerda Lindner zu viel – jetzt fiel sie wirklich in Ohnmacht. Hubert begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte. Allerdings fehlte ihm zum Nachdenken die Zeit – jetzt musste er sich um seine Frau kümmern. Jochen hatte Wasser besorgt, welches er Gerda über die Stirn spritzte, Hubert schlug ihr leicht ins Gesicht und Eva hielt ihr eine offene Flasche Parfüm unter die Nase. Langsam kam Gerda wieder zu sich. Hubert stützte seine Frau: „Eva, was hast du jetzt vor?“ Eva war ganz ruhig, als sie antwortete: „Ich werde zu meinem Paps ziehen. Meine Sachen sind schon fast alle da. Die Miete braucht ihr nicht mehr zu zahlen. Dann werde ich eine Ausbildung als Pilotin machen und anschließend meinen Paps durch die Welt fliegen. Er hat ein eigenes Flugzeug und finanziert mir auch die Ausbildung.“

Hubert ging auf Manfred los: „Ach so, jetzt verstehe ich es: Sie haben Eva gekauft. Sie hat sich durch ihren scheinbaren Reichtum blenden lassen.“ Die Emotionen schlugen hoch. Manfred, Jochen und Eva beschimpften jetzt gemeinsam Hubert. Gerda, die bis dahin kein Wort gesagt hatte, zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub: „Hört auf!“ schrie sie aus voller Kehle und dann ganz leise: „Hubert, es hat doch alles keinen Sinn. Bitte fahr mich nach Hause. Es geht mir gar nicht gut.“ Dicke Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Sie keuchte. Eva, Manfred und Jochen kannten diese Anzeichen: es waren die Vorboten eines Herzanfalls. Schlagartig verstummten alle. Über das Handy rief Jochen einen Krankenwagen. Gerda kam in die Klinik – gerade noch rechtzeitig. So konnte Schlimmeres verhindert werden. Trotzdem musste sie ein paar Tage zur Beobachtung dort bleiben. Gerda bat darum, dass keiner, auch nicht Eva und Hubert, sie dort besuchen möge. Sie wollte ihre Gedanken und Überlegungen von niemanden beeinflussen lassen, nur nachdenken, wie alles wieder ins Reine kommen könnte. Eva tat es leid, dass alles so gekommen war, aber jetzt lagen die Karten endlich offen auf dem Tisch.

Eva nahm sich vor erst einmal Gras über die ganze Sache wachsen zu lassen. Sie beschloss, in ein paar Monaten noch einmal in Ruhe mit ihren Adoptiveltern zu reden – und zwar alleine. Eva hatte eine glückliche und unbeschwerte Kindheit gehabt. Das wusste sie und dafür war sie ihren Adoptiveltern auch dankbar. Aber sie wusste auch, dass die Lindners und die Angerers nie eine gemeinsame Linie finden würden – und schon gar nicht Freunde werden würden. Das machte sie traurig. Tief in ihrem Inneren fühlte Eva, wie sehr sie auch ihre Adoptiveltern liebte – obwohl sie sie so enttäuscht hatten. Trotzdem - sie wollte in Frieden mit allen leben – nur wie, das war ihr noch nicht klar. Eva hoffte, dass sie eine für alle Parteien akzeptable Lösung finden würde.

Jetzt hatte Eva jedoch erst einmal ganz andere Pläne: Sie wollte so schnell wie möglich ihre Ausbildung zur Pilotin machen und dann fliegen – zusammen mit ihrem Paps, hoch über den Wolken.
 



 
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