Die Fremde

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Eremit

Mitglied
Zuerst war es eine Frau. Anna fand, sie sah ganz gewöhnlich aus und da sonst nirgendwo ein Einzelplatz in der Straßenbahn zu haben war, setzte sie sich neben sie. Eine halbe Minute später stand die Frau auf und suchte weiter vorne in dem Zug nach einem anderen Platz. Anna spürte einen Anflug von Unsicherheit und schnüffelte vorsichtshalber unter den Achseln. Da roch es aber nach dem am Morgen frisch aufgetragenem Deodorant und sonst nach gar nichts.
Es war Stoßzeit und nach der nächsten Station setzte sich wieder eine Dame neben Anna. Sie versuchte sich möglichst unauffällig zu verhalten und starrte krampfhaft aus dem Fenster. Es half nichts. Wenig später suchte auch dieser Fahrgast das Weite.
Nun begann Anna sich selbst kritisch zu überprüfen. Die Haare waren nicht gebürstet, aber das war auch viel verlangt, wenn man gerade erst nach einem dreistündigen Spaziergang auf dem Heimweg war. Die Kleidung war schlicht, aber sauber und ohne Flecken. Unbehaglich rubbelte sie ihre Augen und hoffte, für den Rest der Fahrt ohne Sitznachbar auszukommen. Aber es half nichts. Eine Station später setze sich ein Mann auf ihren Nebenplatz.
Er war relativ jung und machte einen robusten Eindruck. Anna fühlte, er würde sie nicht allein lassen, aus welchen Gründen auch immer. In dem Moment stoppte die Straßenbahn. Eine Stimme aus den Lautsprechern verkündete, dass sich die Weiterfahrt wegen eines Rettungseinsatzes verzögerte. Der Mann neben Anna stieß einen unterdrückten Fluch aus, blieb jedoch sitzen. Ganze zehn Minuten lang. Dann stand er auf und setzte sich weiter vorne hin.
Anna war inzwischen schicksalsergeben. Sie nahm es hin, dass eine ältere Dame so bald ein anderer Platz frei wurde, ebenfalls die Flucht ergriff.
Endlich konnte sie aussteigen. Sie nahm ihren Beutel mit den Äpfeln und ein paar kleinen Einkäufen für den Abend, drängte sich zur Tür und verließ die Straßenbahn.
Müde kam sie schließlich bei ihrer Wohnung an. Sie sperrte die Tür auf, setzte die Einkäufe ab und blickte auf das von der Abendsonne durchflutete Atelier. Irgendwann in ihrem Leben hatte sie begonnen, die Einsamkeit mit Bildern zu bekämpfen. Inzwischen sammelten sich die Millionen auf ihrem Konto und für ein Bild konnte sie einen Preis von Zehntausend verlangen.
Anna ging in die Mitte des Raumes. Die Leinwände und Gemälde um sie herum begannen zu tanzen. Die Farben und Formen verschmolzen und ließen sich dicht links und rechts von ihr nieder.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Eremit!

Ich weiß nicht, ob ich deine Geschichte richtig verstehe.
Was ist es, was die Menschen dazu bringt, die körperliche Nähe der Protagonistin zu meiden? Was hat sie an sich, was die anderen abstößt?
Der einzige Hinweis, den du gibst, ist der Reichtum der Frau. Ist es der (unsichtbare, nur einbebildete) Geruch des Geldes?
Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Vielleicht liege ich ja ganz falsch.
Auch der Titel "Die Fremde" macht mich ratlos.
Bitte, kläre mich auf. :)

Gruß, Hyazinthe
 

Eremit

Mitglied
Hallo Hyazinthe , danke für dein Feedback. Tut mir leid, wenn das nicht so klar rüber kommt; aber die Heldin der Geschichte ist Außenseiterin, sie ist einsam, sie ist anders als alle anderen. Man kann das nicht an oberflächlichen Gründen festmachen, wie etwa an einem schlechten Geruch oder verwahrlostem Aussehen. Etwas umgibt sie, ein Flair, eine Ausstrahlung, die andere Menschen auf Abstand hält. Bemerkenswert daran ist, dass die Menschen offenbar unbewusst handeln, sie meiden Anna, wie Herdentiere ein krankes Mitglied meiden.
Diese "Krankheit" ist es, die Anna zu einer großen Künstlerin macht, gleichzeitig jedoch ihren Preis fordert.
Die instinktive Distanz, die Menschen zu ihr hegen, wird in der Geschichte zugegebenermaßen sehr plakativ geschildert. Das anders sein als alle anderen kann sich jedoch seltsamer Weise wirklich in Situationen spiegeln, die offenbar keine nüchternen Grundlagen haben.
Viele Menschen sagen oft, sie wollen sich von anderen unterscheiden und sie wären gerne "speziell", aber sie sind sich nicht bewusst, was es wirklich heißt, anders zu sein - selbst wenn sie sich auffällig kleiden oder z.B. als Punks jenseits der gesellschaftlichen Normen positionieren.
Anders sein.... das ist ein Weg, der bereits in der frühen Kindheit beginnt.
Und es hat seinen Preis.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Danke, Eremit, für deine Erklärung. Jetzt verstehe ich auch den Satz von den Farben, die sich " dicht links und rechts von ihr niederließen".

Ich verstehe auch deine Interpretation vom Anderssein; jedoch: Äußert sich ein solches Sich-von anderen-Unterscheiden durch das Suchen nach körperlicher Distanz, wie bei einem schlechten Körpergeruch? Ich glaube nicht. Man kann doch inmitten einer großen Menschenmenge total isoliert unf einsam sein.

Mich würde interessieren, wie andere Leser deinen Text verstehen.

Gruß, Hyazinthe
 

Eremit

Mitglied
Was alle von Annas Sitznachbaren empfinden, ist ein vages Unbehagen. Das ist natürlich kein Grund stehen zu bleiben, wenn man doch müde Beine hat. Aber es ist ein Grund, sich rasch einen anderen Platz zu sichern, wenn es ohne Mühe möglich ist.
In einem Gewühl oder einer großen Menge würden diese Gefühle nicht so eine Rolle spielen, wie in einer Straßenbahn wo man doch für einige Zeit körperliche Nähe teilt.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Eremit,

erst nach Deiner Erklärung habe ich Deinen Text verstanden, da ich nach einem Merkmal suchte, das Anna abstoßend machte. Ich weiß, was Du sagen willst, es gibt Menschen, mit denen wollen andere nichts zu tun haben. Das Gegenbild ist Annas Schwester, neben die sich ALLE setzen. Und nicht nur das, sie erzählen ihr auch alles, ihre gesamte Lebensgeschichte. Das ist genauso komisch.

Vielleicht müsstest Du das noch anders herausarbeiten, weshalb Anna so abstoßend wirkt, damit es Deine Erklärung nicht braucht.

Ein Text, der nachdenklich macht.

VG,
DS
 

Eremit

Mitglied
Hy Doc, das Schwierige ist, dass man etwas Unsichtbares so schwer "heraus arbeiten" kann. Ein Text lebt andererseits von Beschreibungen. Aber wie soll man das fassen, was Anna schon ihr ganzes Leben lang durchmacht? Es gäbe da noch so viele Szenen... etwa an der Supermarktkasse, wo die Vorgängerin nett mit der Kassiererin plaudert aber Anna von beiden nur einen kalten Blick erntet, als sie mitreden will.
Klar, eine Menge Zurückweisungen. Anna hat auch aufgegeben, die Schuld bei den anderen zu suchen.
Interessant wäre m.M. eher eine Fortsetzung der Story in der Anna im Künstlerumfeld geradezu fanatische Verehrung erntet, die sie jedoch ebenso wenig annehmen kann, wie sie die Ablehnung der "gewöhnlichen" Menschen verhindern kann.
Hier das alte Künstler-Thema des Leiermannes (Vertonung: Schubert, Text Wilhelm Müller) - es gibt keinen Ausweg aus der Einsamkeit. Was bleibt ist Resignation.....
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Eremit,

ich habe gerade mit großen Interesse deinen Text und die Kommentare darunter gelesen. Ähnlich wie meine beiden Vorleser hatte ich den Eindruck, dass du die sonderbare Distanz die die Anderen zu deiner Protagonistin suchen noch etwas weiter herausarbeiten könntest. Ich finde das gerade die Undefinierbarkeit des Grundes aus dem die Anderen diese Distanz suchen an deinem Text reizvoll ist.Ich hatte beim Lesen auch den Eindruck, dass deine Protagonistin bereits ihr Leben lang auf der Suche danach ist um ihr Außenseiterdasein, was sie ja erst erfolgreiche Malerin macht wenn nicht zu ändern, so doch wenigstens zu verstehen. Darin liegt tatsächlich eine gewisse Tragik und ein Konflikt, über den es sich nachzudenken lohnt. Vielleicht könnte das auch ein Ansatzpunkt sein, dieses, wie du selbst schreibst, Unsichtbare in deinem Text noch etwas mehr aufscheinen zu lassen.
Im ersten Abschnitt wirkt deine Protagobnistin m.E. noch ein wenig zu überrascht von der Distanz die die Anderen zu ihr einnehmen. Sie kennt das nach deinen Erläuterungen ja bereits ihr ganzes Leben, was du auch im letzten Abschnitt des Textes andeutest.

Insgesamt hat mir dein Erzählstil gut gefallen und ich habe den Text gerne gelesen.

Beste Grüße

Blumenberg
 
A

aligaga

Gast
@Ali musste bei diesem Text als erstes an Twains "Geschichte des Invaliden" denken, in der erzählt wird, wie der Geruch, der sich im Gepäckwagen eines Zuges mählich ausbreitet, einem vermeintlichen Sarg zugeschrieben wird, der mitfährt, und der so schlimm wird, dass er Reisende in den Tod treibt - bis sich herausstellt, dass es gar kein Sarg, sondern eine Gewehrkiste ist und der Geruch einem Paket entströmt, das Käse enthält.

Leider löst sich die uns hier vorgespielte "Reise nach Jerusalem" nicht in einer solchen Pointe auf, sondern der Autor müht sich, uns eine berühmte, millionenschwere Künstlerin näherzubringen, die gleichwohl mit dem Einkaufsnetz im öffentlichen Nahverkehr unterwegs ist und angeblich unter Isolationsängsten leidet.

Sorry, aber derlei "Unschuld" nimmt man weder der Dame noch dem Autor ab. Zu ihrer Lebzeiten zu Millionen gekommene Künstler - gleich welchen Genres - leiden normalerweise nicht unter Isolationsangst, sondern dem genauen Gegenteil, und müssen recht robust gegen die Übergriffe ihrer Fans wehren. Sie werden von den paparazzi verfolgt bis ins Grab. Ruhm hat seinen Preis!

Je kürzer Geschichten sind, desto plausibler sollten sie sein, sonst verkommen sie, so wie hier, zu mehr oder weniger sinnlosen, nicht nachvollziehbaren Texten. Warum sollte man eine Aura, die den Mitmenschen frösteln lässt, nicht beschreiben können? Wer - angeblich - seine erfolgreiche Künstlerlaufbahn auf der Scheu vor der Gesellschaft aufbaut, "entdeckt" diese Psychose doch nicht erst während der Fahrt in einer Lokalbahn! Geschweige denn, dass der millionenschwere Ruhm eines bildenden Künstlers, von dem hier geraunt wird, ohne fortlaufen Bäder in der Menge geformt oder aufrechtzuhalten wäre.

Sorry - hier sind doch nur ein paar gängige Klischees mit ganz grober Nadel zusammengeflickt worden; weder das Muster noch die Farben passen zueinander.

TTip: Nach den winzigen Zeichen suchen, die arrogante, ängstliche, präpotente oder unsichere Personen auch dann aussenden, wenn sie stumm bleiben und die von feinfühligen Mitmenschen wahrgenommen werden können; als Kompensation für Einsamkeit etwas Plausibleres und Glaubwürdigeres finden als eine hochdotierte Künstlerkarriere. Ein Haustier böte sich an, das Grab eines Kindes oder Ehegatten, Alkohol oder die weinbrandbohnenumknisterten Krimis der doitschen Fernsehabende.

Heiter

aligaga
 

Eremit

Mitglied
@Blumenberg: Danke für die Kritik, ich denke Anna hat wie viele andere Menschen gerne daran geglaubt, dass sie sich die Abweisung anderer Menschen nur einbildet. Deswegen die Überraschung trotz bereits erlebter Abweisungen in der Vergangenheit.
@aligaga: Es gibt viele Künstler, die als menschenscheu bekannt sind (z.B. Edgar Degas). Im Gegensatz zu Entertainern sind bildnerische und auch literarische Künstler oft nicht gut darin, sich selbst zu verkaufen, was oft tragisch enden kann (z.B. Van Gogh).
Ich möchte sogar die Theorie aufstellen, dass, je größer das Talent, desto größer auch die Weltfremdheit sein kann.
LG Eremit
 
A

aligaga

Gast
Hier ist nicht Rede von einem armen Poeten, sondern von einer zu Lebzeiten hochbezahlten KünstlerIn. Das heißt, dass sie mitten in der Gesellschaft angekommen sein muss. Alles andere wäre eine höchst ungewöhnliche Ausnahme, die einer Erklärung bedürfte.

Degas kam aus besten Verhältnissen und war keineswegs menschenscheu, sondern (wahrscheinlich) schwul; van Gogh dagegen bettelarm.

Über Kunst brauchen wir hier nicht zu debattieren; die MalerIn in deinem leider recht unlogischen Stückerl muss weltberühmt sein, weil sie Millionen mit der ihren verdient hat.

@Ali hat nicht kritisert, dass sich eine Omi auf's Bildermalen verlegt, statt in die Gesellschaft zu gehen. Das macht so mancher alte Mensch. Aber keiner, der mit seiner Kunst Millionen verdient, versteckte sich im Keller und stellte beim Trambahnfahren plötzlich fest "Huch, die Leuz mögen mich ja gar nicht!".

Sorry, das ist Quark.

Heiter

aligaga
 

Eremit

Mitglied
Mag mich hier nicht mehr äußern. Nur eines: man kann jede Geschichte zerstören, wenn man Spaß daran hat, sich selbst an so etwas aufzubauen.
(Und wer bitte sagt, dass Anna sich als Malerin nicht professionell verhalten kann? Das hat doch nichts damit zu tun, wie es ihr tatsächlich im sozialen Bereich geht).
 
A

aligaga

Gast
An den Haaren herbeigezogene "Geschichten" werden nicht dadurch noch schlechter, dass man auf ihre Mängel hinweist. Sie könnten allenfalls verbessert werden.

Wie, das wurde hier schon gesagt. Es ist Sache des Autors, Rat-Schläge anzunehmen oder abzuwehren, denn nicht der Kritiker, sondern er muss mit seinen G'schichterln leben.

Töricht und zu nichts führend sind Versuche, mit Kritikerschelte offensichtlich missglückte Texte zu retten. Damit macht man's, so wie hier, nur noch schlimmer, und der Rezensent

lacht herzlich!

aligaga
 



 
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