Die Füchse und die weißen Wölfe

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Agamemnon

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Eines schönen Tages, als der Löwe, der König des Volks der Füchse, gerade an seiner Tafel saß und genüsslich Mahl hielt, brachten seine Untertanen, die Füchse, eine Handvoll weiße Wölfe vor ihn. Der König war sehr erstaunt und fragte die unerwarteten Gäste um ihr Begehr. Diese jedoch fielen auf ihre Knie, küssten die Füße des Königs und klagten ihm ihr Leid:

„Eure hochwohlgeborene Majestät!“, begann der größte und stärkste der Wölfe, „Wir kommen aus dem Reich der Wölfe. Seit Jahrhunderten lebten weiße und schwarze Wölfe friedlich miteinander, doch nun beschlossen die schwarzen Wölfe, dass sie keine weißen Wölfe mehr in ihrem Reich haben wollen. Und da es von uns nur so wenige gibt, blieb uns nichts anderes übrig, als unser Land zu verlassen. Bitte, o gütige Majestät, gewährt uns Unterschlupf in Eurem Reich!“

So endigte der Wolf, und der König zwirbelte seinen Bart und überlegte, was er nun tun sollte. „Aber ich bin doch der Herrscher der Füchse, und nicht der Herrscher der Wölfe.“, entgegnete er nach einer längeren Pause dem noch immer am Boden vor ihm liegenden Wolf.

„Das ist doch kein Problem“, ereiferte sich dieser, und seine Augen schienen plötzlich wieder etwas Lebendiges an sich zu haben, „dann werden wir eben zu Füchsen!“

„Ihr seid Wölfe, keine Füchse! Und ihr werdet auch niemals Füchse werden!“, schrie unverhofft einer der Füchse, der die Wölfe vor den König gebracht hatte.

„Aber wir werden uns verhalten wie Füchse! Wir wollen essen, was Füchse essen, wir wollen sprechen, wie Füchse sprechen, wir wollen sogar, so weit dies möglich ist, aussehen wie Füchse aussehen!“, unterstrich der Wolf sein bedingungsloses Angebot.

„Ihr seid Wölfe! Wolf bleibt Wolf, Fuchs bleibt Fuchs!“, protestierte der Fuchs und wandte sich, angewidert von der Unterwürfigkeit des Wolfes, ab.

Da erhob sich der König, der dem Ganzen schweigend zugehört hatte, von seinem Essplatz und begann mit fester Stimme: „Wölfe, ihr seid zu mir gekommen, weil ihr in Not seid. Darum soll euch geholfen werden. Trotzdem bin ich der Herr der Füchse, und darum sollt auch ihr euch verhalten wie Füchse!“

Dann wandte er sich zu den Füchsen: „Meine teuren Untergebenen! Ihr wisst, wie sehr ich euch schätze. Darum erteile ich euch den Auftrag, die Wölfe zu unterweisen, wie sich ein richtiger Fuchs verhält. Lasst kein Detail aus, zeigt ihnen alle eure Verhaltensweisen, und seien sie noch so nebensächlich. Wenn ihr mit ihrer Ausbildung fertig seid, möchte ich, dass sie nicht mehr von euch zu unterscheiden sind.“

Und so verließen die Wölfe das Schloss des Königs mit Erleichterung und Freude, da sie endlich eine Zuflucht gefunden hatten, die Füchse allerdings mit Gram und Zorn, da sie keine Lust hatten, die Wölfe, ihre natürlichen Feinde, zu ihresgleichen zu machen.


So kam es, dass sie den Befehl des Königs, die Wölfe in füchsischem Gehabe zu unterweisen, schlichtweg ignorierten. So oft die Wölfe auch kamen und sie baten, die Füchse machten keine Anstände ihnen zu zeigen, wie sich ein Fuchs verhält:

„Ihr seid Wölfe, wir wollen nicht, dass ihr mit uns sprecht! Lasst uns in Ruhe!“, sagten die Füchse und verweigerten fortan jede weitere Kommunikation.

Doch schon bald wurde ihnen die stumme Präsenz der Wölfe unheimlich. „Ihr seid Wölfe, und wir wollen euch nicht auf den Straßen sehen! Bleibt in euren Häusern!“, sagten die Füchse und erlaubten von nun an keinem Wolf mehr, die Straße zu betreten.

Und als sich dann kein Wolf mehr auf offener Straße blicken ließ, bekamen die Füchse Angst, die Wölfe könnten in ihren Behausungen geheime Verschwörungspläne schmieden, und so sagten sie schließlich: „Ihr seid Wölfe, wir wollen nicht, dass ihr unter uns lebt! Verlasst unsere Siedlung und sucht euch im Wald neue Behausungen.“

So verließen die Wölfe unter Spott- und Hohnrufen der Füchse die Siedlung.


Doch die Wölfe, nachdem sie aus jeglicher Zivilisation verstoßen worden waren, verwilderten zusehends und vergaßen völlig ihr Bestreben, den Füchsen gleich zu werden. Im Gegenteil waren sie nun stolz darauf, Wölfe zu sein. Sie errichteten sich ihre eigene Siedlung inmitten des tiefsten Waldes, die zwar in keinster Weise mit der der Füchse zu vergleichen war, jedoch dem Wesen der Wölfe viel mehr entsprach.

Als die Zeit gekommen war, überfielen sie das Dorf der Füchse, töteten jene, die Widerstand leisteten und versklavten jene, die sich freiwillig ergaben. Dann zogen sie zum Palast des Königs, der zwar ein mächtiger und durchaus beliebter, jedoch kein allzu kluger Herrscher war. Als dieser das Rudel der Wölfe sah, fragte er erstaunt, wo denn die Füchse seien, und warum die Wölfe noch immer nicht wie Füchse aussehen.

Da antworteten die Wölfe in einmündigem Gleichklang: „Aber, o gütiger König, erkennst Du uns denn nicht wieder? Wir sind es, Deine Füchse!“

Der Löwe blickte verdutzt in die Reihen der Wölfe, und da er nur äußerst selten Kontakt zu seinem Volk hatte, meinte er nach kurzem Überlegen: „Und wo sind dann die Wölfe?“

„Ja siehst Du denn nicht, o lieber König, dass sie uns schon so ähnlich geworden sind und sogar schon so aussehen wie wir?“, antwortete da der älteste der Wölfe.

Der König nickte zufrieden ob der Erfüllung seines Befehls und lud die Wölfe, die nun Füchse waren, zu einem großen und feudalen Festschmaus.
 

steyrer

Mitglied
Schöne Geschichte

Was haben die Füchse von all ihrer Schläue, Listigkeit und Durchtriebenheit, wenn sie von einem derart dämlichen Löwen regiert werden? Arme Viecher. ;-)

Schöne Grüße
steyrer
 

Agamemnon

Mitglied
Danke, steyrer, freut mich wenn sie Dir gefällt!

Stimmt, gute Frage - aber kann man sich das nicht auch selbst öfter fragen...? ;-)

Schöne Grüße

agamemnon
 



 
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