Die Futterkrippe

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catsoul

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Die Futterkrippe

Es hatte wieder über Nacht geschneit und jetzt war es einer jener Tage, an denen einem die Kälte überallhin kroch. Am frühen Morgen flirrte die Luft und Laura wäre am liebsten im Haus geblieben. Allerdings hatte sie ihrem Vater versprochen, heute zur Krippe zu gehen, um die Tiere im Wald zu füttern. Ihre Eltern waren schon früh aufgebrochen, denn sie wollten in der nahen Stadt ihre Weihnachtseinkäufe erledigen.

Laura ging in die Scheune, um den Schlitten zu beladen. Eine große Fuhre Heu, einen Sack mit Kastanien und einen mit Eicheln gefüllt, band sie auf den Schlitten und zurrte sie fest. Dann ging sie noch einmal ins Haus und machte sich einen sehr heißen und sehr süßen Kakao, um sich für ihren Gang zu stärken.

Laura war erst 13 Jahre alt aber durch die Arbeit auf dem Bauernhof kräftig und zäh geworden. So war es für sie auch kein Problem, den hochbeladenen Schlitten hinter sich her, durch den Schnee, zu ziehen.

Sie liebte alle Tiere, aber ganz besonders die im Wald. Das Mädchen wusste, dass der Boden fest gefroren und deshalb die Nahrungssuche sehr schwierig war. Sie hatte vor ein paar Jahren zusammen mit ihrem Vater eine Futterkrippe gebaut, welche die beiden jetzt zweimal in der Woche füllten. Laura war selten alleine dorthin gegangen und schon gar nicht im Winter, aber sie hatte keinen Moment gezögert, als ihr Vater am Vorabend fragte, ob sie sich das zutrauen würde. Im Gegenteil, sie war sehr stolz darauf.

Es war Zeit für den Aufbruch. Lauras Füße steckten in hohen Stiefeln und die Hände in Fäustlingen. Sie zog los und nach einiger Zeit hatte sie vor Anstrengung und Kälte gerötete Wangen und es wurde ihr etwas wärmer. Das letzte Stück des Weges bis zum Waldrand war besonders beschwerlich, denn es führte einen kleinen Hügel hinauf. Oben angekommen, verschnaufte Laura kurz und genoss die Stille. Nur leise war das Knacken des Frostes zu hören und die Luft schien ab und an zu klirren.

Langsam wurde ihr kalt, also brach sie wieder auf, wandte sich zum Wald und zog den Schlitten in die schützenden Bäume hinein. Nach einer kurzen Weile stieß sie dann auf die Lichtung, wo die Futterkrippe stand.

Das Heu dort war bereits aufgebraucht und nur einzelne Halme erinnerten an die letzte Fütterung vor ein paar Tagen. Laura zog ihre Fäustlinge aus und begann mit dem Abladen. Die beiden Säcke wuchtete sie erst einmal zur Seite und bereitete das Heu zunächst dicht unter, und dann den Rest über der Krippe aus. Und schon hoppelte das erste vorwitzige Häschen vorsichtig heran, sprang wieder weg, um dann auf der andere Seite der Futterkrippe an den Halmen zu nagen.

Laura verteilte gerade die Kastanien und Eicheln, da brach eine Ricke durch das Unterholz. Sie kam näher, witterte, begann an den Kastanien zu knabbern und wurde immer ruhiger. Inzwischen kamen immer mehr Tiere des Waldes an die Futterkrippe und ließen es sich schmecken. Nach einiger Zeit schien es, als hätten sich alle Waldbewohner hier zum Mahl versammelt, die Lichtung war erfüllt von zufriedenem Geknusper, von leisen, freundlichen Geräuschen.

Laura schaute glücklich eine Zeit lang zu, aber es hatte wieder zu schneien begonnen und als der Schnee schnell dichter wurde, packte sie ihre Sachen auf den Schlitten, lächelte noch einmal in die Lichtung und begann davonzustapfen. Sie war noch nicht viele Schritte gegangen, da begann aus dem Schneetreiben ein windiger Sturm zu werden und eine graue düstere Dunkelheit tobte um das Mädchen. Keine drei Bäume weit konnte sie mehr sehen und auch der Weg war immer schwieriger zu erkennen. Verzweifelt suchte sie nach Zeichen, die ihr bekannt vorkamen, wandte sich mal nach rechts, dann wieder nach links und letztendlich ging sie einfach nur noch drauflos.

Laura wollte nach Hause, ins Warme. Inzwischen war sie ziemlich durchgefroren und auch die Abstände in denen sie anhielt um zu verschnaufen wurde kürzer. Ihre Füße fühlte sie bald nicht mehr, das Gesicht war ganz taub und auch ihre Hände konnte sie kaum noch spüren. Wieder und wieder hoffte sie, nach der nächsten Biegung doch endlich eine markante Stelle zu finden, aber die Sicht wurde nur noch schlechter. Ihre Schritte wurden schleppender, nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es ihr, den Schlitten nicht zu verlieren. Im Geist sah sie eine dampfende Badewanne und heißen Kakao vor sich. Aber hier waren nur Schnee und der Wind, der sie hin und her beutelte.

Irgendwann glitt das Seil vom Schlitten aus ihren Händen, sie merkte es nicht einmal. Taumelnd zwang sie sich weiter vorwärts, stolperte immer wieder, bis sie schließlich fiel und auf dem Rücken zum Liegen kam. Ein wenig erstaunt betrachtete Laura die schwankenden Wipfel der Bäume über sich, wie sie dann nur noch sanft wogen und schließlich auch der Schnee aufhörte zu fallen. Die Luft war klar und kalt, und eine eisige Stille umfing sie. Einige wenige Sonnenstrahlen fanden den Weg durch Zweige und zauberten ein Lächeln auf Lauras Gesicht, bevor sie die Augen schloss und langsam einschlief.

Sekunden vergingen, Minuten, oder waren es vielleicht sogar Stunden?
Niemand vermag den Zeitraum zu bestimmen, aber Laura merkte irgendwann, dass sie träumte:
Eine große warme Wolke war um sie herum, aus ihr lösten sich immer wieder kleine weiche warme Wölkchen um ihr Gesicht zu streicheln, und verschwanden wieder. Es war schön. Doch immer öfter kam ein dunkles Wölkchen dazwischen
Langsam und fast unwillig hob Laura ihre Augenlider und schaute auf eine dunkle, warme, feuchte Nase unter dunkelbraunen, freundlichen Rehaugen.
Die Ricke stand vor ihr und stupste sie bald am Arm, dann wieder ganz sanft ins Gesicht.

Rings um Laura, die sich verwundert auf das Heu der Krippe gebettet fand, waren all die anderen Tiere, ganz dicht an sie gekuschelt, und hielten die Kälte von ihr fern.

Das Mädchen wollte lächeln, was ihr aber gründlich misslang, denn als sie sich zu bewegen begann, hätte sie fast aufgeschrien vor Schmerz, alles tat weh. Aber die Ricke hatte recht, sie musste versuchen aufzustehen, sonst würde sie doch noch erfrieren. Die Tiere hoppelten und gingen ein wenig zur Seite, blieben aber in kurzer Entfernung sitzen und sahen Lauras Bemühungen zu. Nicht weit von ihr stand der Schlitten. Sie kroch keuchend auf ihn zu, die Ricke blieb dicht neben Laura. Die anderen Tiere bildeten noch immer einen schützenden Ring.
Laura wollte aufstehen, aber es gelang ihr nicht, also legte sie sich bäuchlings auf den Schlitten und versuchte ihn mit den Armen vorwärts zu schieben. Diese Art der Fortbewegung war beschwerlich, aber Laura wollte, konnte nicht mehr aufgeben. Neben ihr trottete die Ricke und hob immer wieder sichernd den Kopf.

Endlich waren sie am Waldrand angelangt und Laura hörte schon die Rufe der Dorfbewohnern, die sich nach dem Schneesturm auf die Suche nach ihr gemacht hatten. Die Hoffnung verlieh Laura neue Kraft. Die Schmerzen waren für den Moment vergessen. Verbissen schob Laura sich in Richtung der bekannten Stimmen. Während das Mädchen den Schlitten langsam immer weiter aus dem Wald bewegte, blieb die Ricke zurück.

„Das ist sie! Hurra, wir haben sie gefunden!“, hörte Laura und blickte noch einmal zurück. Die Ricke stand am Waldrand und es schien, als würde sie sich vergewissern, dass Laura wirklich geholfen wurde. Das Mädchen schaute zur Ricke und flüsterte leise: „Danke!“
 



 
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