Die Gabe (ein Hauch von Psi)

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Die Gabe
"Verreisen?"
"Ja. Nur für einen Tag. Trotzdem wird es eine ziemlich eigenartige Reise werden."
Fred verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Das heißt, eigentlich veranstaltete er gar nichts mit seinen Gesichtszügen, sondern beschränkte sich auf ein minimales Kräuseln der Augenbrauen, während er das Bierglas an die Lippen setzte. Im Grunde demonstrierte er damit seinen Glauben an unsere Freundschaft. Er ging davon aus, dass er weder etwas zu sagen noch Grimassen zu schneiden bräuchte und lediglich die Augenbrauen minimal kräuseln müsste, um mir ohne den Rest eines Zweifels zu offenbaren, was er von dieser Idee hielt.
"Es hat mit dem Job zu tun!"
"Unser Job ist hier! Wozu musst du dann verreisen?"
"Ich werde mich um Unterstützung kümmern."
"Wir können keinen Dritten bezahlen. Wir können uns selber noch nicht einmal bezahlen! Vielleicht überstehen wir den Auftrag, wenn wir nur 22 Stunden am Tag arbeiten und die letzten zwei Stunden dafür abzweigen, um in der Einkaufspassage betteln zu gehen!"
"Ich weiß! Und genau darum werde ich mich nach Hilfe umsehen!"
"Bei wem?"
"Bei jemandem, der besser ist als alle unsere Mikrofone und Kameras zusammen. Jedenfalls, wenn es klappt!"
"Und? Wird es klappen?"
Ich hatte den Bierdeckel hochkant auf den Tresen gestellt und hielt ihn aufrecht, indem ich den Zeigefinger gegen die oberste Ecke drückte, während ich ihn mit den Fingerspitzen der anderen Hand anschnippte, um ihn zum Kreiseln zu bringen. Dadurch hatte ich einen Vorwand gewonnen, um ihn nicht anzuschauen. Er verstand das und würde nichts sagen. Ich mochte es, wie wir uns gegenseitig das Leben leichter machten.
"Klappen? Du solltest einfach darauf hoffen!"

*

Die Gegend veränderte sich, die Birken wurden häufiger. Vermutlich ein Zeichen, dass der Boden hier feuchter und morastiger war. Meine Heimatkundelehrerin pflegte diese Landschaft immer mit einem gewissen Schaudern Geest zu nennen. Beim Lenken warf ich einen Blick auf das Handy, das ich auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Vielleicht würde Britt ja doch anrufen. Aber für sehr wahrscheinlich hielt ich das nicht. Seitdem sie wieder in einer akuten Phase war, gab es zwischen uns nur zwei Formen der Abschieds: Bei der einen schaute sie mich mit großen umschatteten Augen an – mit Augen die mir verrieten, wie sehr sie darunter litt, mich unter Druck zu setzen, die aber nicht anders konnten, als darum zu flehen, sie jetzt nicht allein zu lassen.
Aber heute morgen war es die andere Art gewesen: Die Erschreckendere. Die, bei der sie starr durch mich hindurchschaute, weil es ihr Zustand nicht erlaubte, sich auf mich zu konzentrieren. Dieser Zustand, in dem sie sich einfach auf das Sofa setzen würde, wenn ich gegangen war. Auf dem sie dann Stunde um Stunde nur da saß. Oder lag. Wahrscheinlich wartete sie dann noch nicht einmal auf mich. Vielleicht wartete sie darauf, dass die Wirkung der Antidepressiva einsetzen würde. Vielleicht wartete sie auch auf gar nichts. Jedenfalls waren das nicht die Tage, an denen sie anrufen würde.
Das Handy klingelte. Ich drückte die Annahmetaste und hielt mir das Gerät ans Ohr. Es war Fred.
„Rätst du, was auf dem Band zu sehen war?“ hörte ich seine elektronisch ausgedünnte Stimme sprechen.
„So wie immer?“
„Genau. Nichts! Nada. Noch nicht einmal eine illegale Rauchpause.“
Unsere Detektei hatte vom Management der Nakuma AG den Auftrag erhalten, ihre Mitarbeiter mit Überwachungskameras zu kontrollieren. In solchen Fällen gehörte es eher zu den Ausnahmen, die Missetäter wirklich beim Klauen zu ertappen. Meistens reichte es der Geschäftsleitung aber schon, wenn die Kollegen unsere Anwesenheit bemerkten und eine zeitlang etwas zurückhaltender wurden.
Während ich Fred in seinen Unterlagen stöbern hörte, lenkte ich den Wagen mit einer Hand. Das war bis jetzt nicht gerade sehr kompliziert gewesen, da es nicht den geringsten Gegenverkehr gab. Aber allmählich begann die Straße enger zu werden. Büsche und Äste ragten bis an den Rand des Asphalts heran. Außerdem hatten sich über den Feldern einige Nebelschwaden gebildet.
„Und?“
Dieses „und“ bedeutete nichts anderes als die Aufforderung, ihm alles offen zu legen.
„Es lässt dich nicht in Ruhe, ja? Gut, ich werde es dir sagen: Ich will der Nakuma etwas bieten! Etwas richtig Spektakuläres, verstehst du? Damit sie gar nicht anders können, als uns den Auftrag zu geben!“
„Wie hast du dir das gedacht? Willst du da was hindrehen? Irgendeine Inszenierung? Du bist völlig verrückt geworden!“
„Kalt, ganz kalt! Es wird absolut reell sein. Und es wird sie begeistern!“
Natürlich war es den Auftraggebern recht, wenn die Diebstähle aufhörten. Das Problem für uns dabei wäre: Das konnte jede Detektei liefern. Und wir hatten in der letzten Zeit wirtschaftlich viel Pech gehabt. Wir konnten nicht billig sein. Aus ihrer Sicht hatten wir nichts, was sie nicht auch von anderen bekommen könnten. Das einzige, was Wirkung hätte, war, dass wir ihnen wirklich ein paar Langfinger präsentierten. Und das hätte eine mächtige Wirkung. Denn in jedem Menschen steckte auch ein Jäger. So etwas hinterließe beim Management der Nakuma AG einen bleibenden Eindruck, auch wenn sie es bewusst gar nicht bemerkten. Es würde unsere Beziehungen festigen - weil wir das Wild gemeinsam zur Strecke gebracht hätten.
„Und darum musst du also verreisen?“
„Ich werde mich mit jemandem treffen.“
„Mit wem?“
„Mit einem Jungen. Er heißt Thido und ist vierzehn Jahre alt.“
„Vierzehn? Genau das richtige Alter für unseren Job, findest du nicht auch? Hör bitte auf, mir Salamischeibchen hinzuwerfen! Was hast du vor?“
„Den Tipp hab ich von Britt. Sie kommt aus dieser Gegend. Aus Steenfelde. Ein ziemliches Nest, du wirst bestimmt noch nichts davon gehört haben. Ich bin übrigens gleich da.“
„Und da triffst du Thido?“
„Genau! Britt hat hier Verwandte, die von ihm erzählt haben.“
„Was erzählt?“
„Na, ja. Dass er etwas hat! Oder kann. So eine besondere Gabe halt!“
„Himmel, Herrgott! Wenn man das, was du da redest, zu Papier brächte, würde es aussehen wie ein Kreuzworträtsel!“
„Hör zu, Fred! Die Leute hier – die reden normalerweise keinen Unsinn. Die sprechen nur über Dinge, die sie selbst gesehen haben. Und Thido hat diese gottverdammte Gabe. Er sieht Dinge. Er weiß einfach, was Leute gemacht oder gedacht haben! Irgendetwas in dieser Art. Ich weiß es noch nicht genau. Aber ich werde es rausfinden!“
Ich hörte, wie er nach Luft schnappte und machte mich darauf gefasst, dass er gleich zu brüllen anfing. Aber nach einer unerwartet langen Sprechpause kamen seine Worte sehr ruhig und gefasst durch die Leitung.
„Jochen, So etwas wie The Sixth Sense gibt es nicht. Jedenfalls nicht in Wahrheit. Und du bist nicht Bruce Willis! Hör auf mit dem Quark! Komm zurück!“
„Ich komme zurück. Später.“
Es war das erste Mal, dass Fred einfach ein Gespräch abbrach. Vor mir tauchte das Ortsschild auf. Britt hatte mir beschrieben, wie ich den Jungen und seine Mutter finden würde. Aber auch ohne diesen Tipp wäre es nicht so schwer geworden, sie zu finden. Hier wohnten nur 50 Seelen.

*

„Und? Was wird später aus dir? Eher Kampfflieger oder eher Flugzeugingenieur?“
Ich deutete auf das Modell des F4-Phantom-Jägers, das den allergrößten Platz auf dem Nachttisch beanspruchte. Lächelnd wich der Junge meinem Blick aus.
„Am liebsten natürlich beides! Erst zum Bund und dann Uni. Aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich das Abi schaffe. Wahrscheinlich werde ich Gabelstapler fahren bei der Genossenschaft.“
„Gabelstapler? Interessant! Hast du davon auch schon Modelle gebastelt?“
Wir mussten lachen. Der Junge gefiel mir. Ich würde es ihm gönnen, wenn er später im Leben etwas an Volumen gewönne, aber jetzt mit seinen vierzehn Jahren waren seine Eßstäbchenbeine, sein mageres Gesicht und das blonde fransige Haar vollkommen in Ordnung.
„Sie sind der Mann von Britt?“
„Der aus der Stadt, ja.“
„Wie geht es ihr?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Und? Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, mich einzuladen nach Hamburg?“
„Britts Idee. Deine Mutter hat nichts dagegen. Hast du überhaupt Lust?“
„Natürlich!“
Er legte den Kopf ein wenig schief und peilte mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Sie sind Detektiv? Was machen Detektive denn so?“
„Was denkst du denn?“
„Na ja, Leute festnehmen. Solche, die krumme Dinge gedreht haben.“
„Festnehmen ist eher Sache der Polizei. Leider ist das Ganze nicht so aufregend, wie sich das die meisten vorstellen! Meistens schleichen wir untreuen Ehemännern hinterher oder nehmen Problemkunden die Kreditkarten ab. Oder wir überwachen die Mitarbeiter irgendwelcher großer reicher Firmen.“
An der Wand war ein Poster angebracht, das eine Szene aus dem „Herren der Ringe“ zeigte: Der Augenblick, in dem Frodo von der schönen blonden Elbin geküsst wird. Ich vermutete, dass es das Mädchen Thido besonders angetan hatte.
Unvermittelt sprang er vom Bett auf, machte einen Satz auf mich zu und griff nach meinem Hosengürtel, dorthin, wo ich das Handy trug. Er schaute mich mit großen Augen an.
„Sorry, ich dachte, das wäre ...“
„Wäre was? Meine Dienstwaffe?“
„Irgendwie schon, ja!“
Mit beschämtem Gesicht ließ er sich aufs Bett plumpsen.
„Enttäuscht?“
„Wollen wir das nicht einfach wieder ganz schnell vergessen?“
Da er wieder lächeln konnte, nutzte ich die Chance.
„Wir haben ein Gästezimmer. Mit richtigem Bett. Keine Campingliege oder Luftmatratze!“
„Keine Luftmatratze? Hört sich ja wie Vier-Sterne de Lux an!“

*

Ungefähr eine Stunde später saßen wir schließlich im Auto. Thidos Mutter war nicht allzu misstrauisch gewesen. Wahrscheinlich hatte ich das Ganze ziemlich geschickt als Idee von Britt darstellen können, die einfach Lust hatte, für ein paar Tage jemanden aus ihrem Heimatdorf um sich zu haben. Und wahrscheinlich wähnte sie Mitgefühl hinter der Aktion – da doch jeder im Dorf wusste, wie schwer sie es momentan hatte und dass es ihr ganz gut täte, sich für eine Woche einmal nicht um das Kind kümmern zu müssen.
Als wir uns durch die Nebenstrecken geschlängelt und die Bundesstraße erreicht hatten, fing der Junge an zu sprechen.
„Es sind diese Fähigkeiten, ja?“
„Was meinst du?“
„Es interessiert Sie. Das, was ich kann.“
„Na ja ... ich habe dir von meinem Beruf erzählt“, antwortete ich, während ich den Blick auf die Fahrbahn richtete.
„Sie glauben an mich! Aber damit stehen Sie ziemlich allein da. Sonst glaubt mir nämlich keiner.“
„Das wäre mir ziemlich neu.“
„Wenn es anders wäre, wäre mein Vater jetzt frei!“
„Dein Vater, sagst du? Ich hörte, dass er Schwierigkeiten hat.“
„Falls man es Schwierigkeiten nennen kann, wenn jemand unschuldig im Gefängnis sitzt, dann hat er bestimmt welche!“
„Ich habe nur sehr wenig von der Sache gehört“, erwiderte ich, wobei ich nicht ganz bei der Wahrheit blieb.
„Kann ich mir vorstellen. Wird auch nicht so gern drüber gesprochen!“
Schweigend ließ ich ein paar Sekunden verstreichen, damit der Themenwechsel nicht so abrupt wirkte.
„Glaubst du wirklich, dass du etwas Besonderes kannst?“
Er hob die Schultern, während er die Mundwinkel übertrieben weit nach unten zog. „Okay! Dann sag mir doch einfach, woran ich jetzt denke!“
Während er mich fixierte, bildeten sich senkrechte Falten auf seiner Stirn. Irgendwie wirkte es wie Show.
„Sie machen sich Sorgen! Nicht um sich selber – um jemand anderen. Um jemanden, den Sie sehr mögen! Jemand, der ...“
Das Thema passte mir nicht, deshalb unterbrach ich ihn.
„Ist schon gut! Hast du das mal richtig testen lassen? Ich meine irgendwie von Leuten, die etwas davon verstehen?“
„Das gerade nicht. Aber ich habe einfach einmal mitgezählt. In den letzten Jahren habe ich siebzehnmal getippt bei Sachen, bei denen ich mir sicher war. Wo ich – wie soll ich sagen – wo ich dieses Gefühl hatte.“
„Und wie oft lagst du richtig?“
„Fünfzehnmal. Zweimal ließ es sich nicht so genau sagen.“
„Du kannst als in die Zukunft schauen?“
„Nein.“
„Sondern?“
„Eher in die Vergangenheit. Ich ahne Dinge, die passiert sind – auch wenn ich nicht dabei war.“
„Na gut! Auch so eine Art Hellseherei!“
Der Junge schaute mich mit einem bemerkenswert ernsten und erwachsenen Gesichtsausdruck an.
„Wenn ich Ihnen in Ihrem Job helfe – helfen Sie mir dann mit meinem Vater?“
Sekundenbruchteile, nachdem er das gesagt hatte, war es da. Einer dieser Momente im Leben, in denen ich spürte, dass ich tiefer und stärker fühlen konnte. Einer dieser viel zu seltenen Augenblicke, in denen sich meine Gedanken beschleunigten und dabei immer klarsichtiger wurden - wie eine wässerige Lösung, in der die groben Teile nach unten sanken.
Ich sah uns beide von oben durch das unsichtbare Wagendach, wie wir in unseren Sitzen kauerten und im Begriff waren, uns zu verbünden: Ein kaputter Privatdetektiv mit einer depressionskranken Frau, der den letzten Ausweg, um den Konkurs abzuwenden, darin sah, eigenartige Kräfte zu beschwören. Und ein Junge mit unheimlichen Gaben, dessen Vater im Gefängnis saß. Es machte Spaß. Verdammt, könnten wir nicht einfach das absolute Dreamteam werden? Ich spürte die Euphorie in meinem Hirn wetterleuchten. Und gleichzeitig morste mir mein klarer, wie eine Bogensehne gespannter Verstand, was mit uns geschehen würde, wenn wir es nicht schafften. Ich musste an Britt denken.

*

„200 Watt Sinus, 240 Watt maximal. 30-Zentimeter-Tieftöner. Kannst du dir vorstellen, wie schön man damit seine Nachbarn beschallen kann? Als Junge habe ich von so etwas immer geträumt.“
Ich schob den in Folie eingeschweißten Karton mit der Hifi-Box ins Regal zurück und drehte mich zu Thido um.
„Und hier soll es Leute geben, die der Meinung sind, ein Gratisememplar gehöre zu den Betriebsvereinbarungen!“
Wir mussten einen Schritt zur Seite machen, um einem Gabelstapler, der sich uns rückwärts fahrend näherte, auszuweichen. Surrend bahnte er sich seinen Weg zwischen den hohen Regalwänden, bis er kurz vor der Wand zu Halten kam. Vom Fahrer durch energisches Kurbeln am Steuerrad in Position gebracht, hob der Stapler eine beladene Palette an, bis sie in ungefähr vier Metern Höhe ihren zugewiesenen Platz im Regal erreichte.
In einem der Nebengänge kam uns jemand in blauer Uniform entgegen. Sein schwarzes Barett trug er für meinen Geschmack eine Spur zu lässig und zu schief. Auf dem Aufnäher am Oberarm seines Rollkragenpullovers erkannte ich das Logo mit den zwei gekreuzten Schlüsseln. Er war von der SecOp, einem ziemlich umtriebigen Sicherheitsunternehmen hier in der Stadt. Ich fragte mich, warum die Nakuma zweigleisig fuhr und der SecOp nicht auch meinen Job anvertraut hatten. Vielleicht wollten sie aber auch Preis und Leistung vergleichen. Benchmarking war, glaube ich, das neue Zauberwort.
Wir gingen zurück in den Hauptgang. Neben dem riesigen Rolltor öffnete sich eine graue Metalltür, hinter der sich anscheinend ein kleiner Aufenthaltsraum befand. Heraus kam ein Arbeiter in Jeans und Baumwollhemd, der einen Kaffeebecher in der rechten Hand hielt. Ich konnte einen Blick ins Innere des Raums werfen. Ein vollbärtiger Mann mit orientalischen Gesichtszügen erhob sich aus seiner knienden Haltung vom Boden und faltete einen kleinen Teppich zusammen. Dann schloss sich die Tür wieder.
„Und ... hab ja keine Ahnung, wie ich das ausdrücken soll ... hast du schon was bemerkt?“ Verlegen schaute ich auf den Boden.
„Nein, hab ich nicht. Ich muss die Leute sehen!“
Ein Mann trat durch das Rolltor in die Halle und öffnete die Tür zum Aufenthaltsraum, die er mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck wieder schloss. Die Distanz zwischen uns war so gering, dass ich „H. Gruschke“ auf seinem Namensschildchen lesen konnte. Er kramte eine Zigarettenschachtel aus seiner Hemdtasche, zündete sie an und spähte beim Rauchen nervös in alle Richtungen. Dazwischen schaute er auf seine Armbanduhr. Immer wieder verirrten sich seine Blicke auch in unsere Richtung. Unsere Anwesenheit schien ihm nicht zu gefallen.
Um ihn nicht noch misstrauischer zu machen, drehte ich mich um, deutete auf die riesigen Stellwände und tat so, als würde ich Thido etwas erklären. Mit stark gedämpfter Stimme murmelte ich:
„Und? Heiße Spur?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Nein. Gar nichts.“ Sein Gesicht verriet Unsicherheit. „Eigentlich muss ich die Leute nur ein paar Sekunden ansehen, dann habe ich ein Gefühl. Hier aber nicht ...“
Als ich mich umwandte, war der Mann weg.
„Aus der Ferne funktioniert es jedenfalls überhaupt nicht.“
Eine Frau in einem hellblauen Kittel ging von hinten an uns vorbei. Ihr lockiges Haar war von einem sehr hellen Blond und ließ die Ohren frei. Ich würde sie nicht unbedingt schön nennen, aber sie hatte etwas sehr Frisches, Jugendliches an sich
Für einen Moment blieb sie vor der Tür des Aufenthaltsraums stehen, schaute nach links und rechts und ging wieder.
Erwartungsvoll schaute ich Thido an.
„Nein!“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Aber sie und der Mann vorhin, der Raucher, die haben was miteinander.“
Das Lächeln verschwand.
„Jedenfalls nichts, wobei meine Hilfe gebraucht würde!“
Ich legte meine Hand auf seine Schulter, um ihn in Richtung Hallenausgang zu dirigieren. Am liebsten hätte ich ihm in den Nacken gegriffen, so wie eine Löwenmutter ihren Kleinen in den Nacken beißt. Es wäre eine handfeste, beherzte Form der Zärtlichkeit gewesen. Aber ich habe es gelassen. Ich weiß nicht warum.

*

Pommes frites. Warum auch nicht, dachte ich, während ich auf Thidos Tablett starrte. Hätte ich besser selber nehmen sollen. Mein Schnitzel und meine gekochten Kartoffeln waren von der Art, wie sie auf hoher See ohne weiteres zu einer Meuterei hätten führen können. Innen waren die Kartoffeln vollkommen matschig und außen so hart und faserig, als wären sie in Plastikfolie eingeschweißt.
Wir hatten uns fast den gesamten Vormittag im Lager und auf dem Parkplatz umgesehen. Aus Gründen der Tarnung trug ich einen weißen Kittel, der Thido immer wieder zu einem Lächeln zwang.
Die Kantine der Nakuma AG erschien mir sehr groß. Ich vermutete, dass auch andere Unternehmen des Gewerbeparks daran partizipierten.
„Und?“
„Und was? Sie wollen wissen, ob ich etwas gefunden habe?“
„Sag doch einfach du! Wir sind doch so etwas wie Partner, oder? Ich heiße Jochen!“
„Jochen?“
„Ein blöder Allerweltsname, ich weiß. Kann ja nicht jeder mit so etwas Gesuchtem wie du getauft sein.“
„So, Jochen! Und du platzt vor Neugier, ob ich etwas bemerkt habe?“
„So in etwa!“
„Später!“
Später? So hinhaltend kannte ich ihn nicht. Ich wurde wirklich neugierig.
„OK, dann später. Und? Was machen wir bis dahin?“
Ich lehnte mich auf dem Plastikstuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie der Junge mit der Metallgabel mehrere Pommes frites gleichzeitig aufspießte. Doch anstatt sie zum Mund zu führen, legte er die Gabel beiseite, beugte sich über den Tisch und flüsterte:
„Vorher würde ich gern noch über meinen Vater sprechen!“
„Ich weiß von der Sache im Grunde gar nichts! Vielleicht solltest du mich erst einmal ins Bild setzen“, antwortete ich, wobei ich bemerkte, dass ich mich unbewusst ebenfalls über den Tisch gebeugt und meine Stimme auf ein leises Raunen herunterreguliert hatte.
„Er ...“
„Sitzt ein!“
„Genau!“
„Warum?“
„Er soll ... es soll so etwas wie eine Vergewaltigung gewesen sein.“
„Ziemlich schwerer Vorwurf. Was kann denn nachträglich noch daran gedreht werden? Um ein Verfahren wieder aufzunehmen, sind knallharte neue Beweise notwendig! Hast du sie?“
„Er war es nicht, er war es nicht, er war es nicht!“
„Sondern?“
„Sie hat das alles erfunden! Sie hat ihn reingeritten!“
Für einen kurzen Moment senkte er den Blick und schüttelte den Kopf.
„Mein Vater hat zu der Zeit als Klempner gearbeitet. Dann hatte er diesen Auftrag bei dieser dummen reichen Gans. Sie wollte ihn! Nicht umgekehrt! So hat er es mir jedenfalls erzählt. Und ich habe es ihm geglaubt. Er sagt schlicht und einfach die Wahrheit. Sie war so verrückt, dass er sie abwehren musste, so richtig körperlich. Es ist doch die einfachste Logik! Wenn ein genervter Klempner von Einsfünfundachtzig eine völlig durchgedrehte Schnepfe abwehren muss, dann ist doch klar, dass es welche gibt, oder? Ich meine Abdrücke und Blutergüsse an den Handgelenken und all das Die haben ihm schließlich das Genick gebrochen!“
Ich schob mein Tablett beiseite und fuhr mir für ein paar Sekunden wortlos mit der Hand über die Wange.
„Kompliziert! Sehr kompliziert! Wie es aussieht, bestünde die einzige Chance darin, dass sie ihre Anschuldigungen zurückzieht. Und? Hältst du das für sehr wahrscheinlich?“
Er machte noch nicht einmal den Versuch, die Unzufriedenheit in seinem Gesichtsausdruck zu verbergen. Ich wollte noch etwas sagen, um die Situation zu entspannen, doch plötzlich fühlte ich, wie mir jemand am Kragen des Kittels zupfte.
„Jochen, was ist los mit dir? Ich wusste nicht, dass du hier als Koch arbeitest!“
Lachend schaute ich zum Neuankömmling auf und deutete mit der Hand auf ihn.
„Thido, darf ich vorstellen? Das ist mein Partner Fred!“
Mein Arm schwenkte in Richtung Thido.
„Und das, Fred – äh ... das ist mein Partner Thido!“
Artig schnellte der Junge von seinem Stuhl hoch und reichte Fred die Hand, obwohl der erst einmal eine Tasse Kaffee und einen Teller Kuchen abstellen musste, um sie schütteln zu können. Ächzend ließ er seine nicht unerhebliche Körpermasse auf dem Plastikstuhl nieder und strich sich mit dem Finger über den walrossartigen Oberlippenbart.
„Warst lange nicht mehr im Büro!“
„Naja. Recherchen! Sollte dir eigentlich bekannt sein.“
Mit einem undefinierbaren Lächeln ließ Fred seine listige Äuglein abwechselnd mich und den Jungen fixieren.
„Und? Resultate?“
Abwehrend hob ich die Hände und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als Thido mir dazwischen fuhr.
„Natürlich haben wir Resultate! Schließlich sind wir das Kompetenzteam.“
Fred hob die Augenbrauen. Dass er dabei mich und nicht den Jungen ansah, verunsicherte mich.
„Wirklich?“
Seine Stimme klang ironisch, so scheißironisch, wie es niemand außer Fred auf dieser Welt zuwege brachte.
Mit einem breiten Grinsen lehnte sich Thido in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.
„Er ist sogar hier!“
„Davon hast du mir nichts gesagt!“ brummte ich ihn an.
„Ich war im Begriff!“
Er wartete ein paar Sekunden ab, bevor er nachsetzte.
„Nanu? Niemand neugierig?“
„Und ob ich neugierig bin!“ Freds Stimme war sehr leise geworden, klang aber erstaunlich eindringlich. „Bitte nicht zum Betreffenden hinschauen oder mit dem Finger auf ihn deuten. Erklär´s mir einfach mit deinen Worten!“
„Es ist der Typ in der blauen Uniform. Drei Tische weiter rechts von mir aus gesehen!“
Fred wartete einen Augenblick ab, bis er seinen Blick auf die Stelle richtete, die der Junge beschrieben hatte. Meine Augen folgten ihm unwillkürlich. Dass Thido jetzt nicht mehr wiederstehen konnte, war nur natürlich. Im Endeffekt glotzte unser dreiköpfiges Kompetenzteam starr auf einen uniformierten Mann an einem Vierertisch. Gottseidank war er zu sehr mit seinem unhandlichen Croque beschäftigt, um uns zu bemerken.
„Aber das ist der von der SecOp!“ flüsterte ich dem Jungen ins Ohr. „Gestern im Lager ist dir nichts an ihm aufgefallen!“
„Nein!“ zischte Thido. „Das ist ein anderer. Ich habe es erst gerade eben auf dem Parkplatz bemerkt. Er hat eine wirklich eigenartige ... Strahlung!“
In diesem Augenblick griff Fred nach meiner Schulter und gab ihr einen leichten Ruck. Ich spürte, wie ungeduldig er war.
„Ich gehe jetzt. Wir sollten unbedingt mal reden! Ich rufe dich nachher an.“

*

Im Fernsehen lief irgendein deutscher Familienkitsch. Ob es der mit dem Affen, der Robbe, den Pferden oder dem Arzt war, konnte ich nicht sagen. Dazu war ich viel zu sehr in die Liste der Beschäftigen vertieft, die zum Lager der Nakuma Eintritt hatten.
Thido saß neben Britt auf dem Sofa und musste ihr andauernd irgendwelche Geschichten aus dem Dorf erzählen. Sie mochten sich. Britt sah besser aus. Ihr Gesicht war zwar noch immer etwas aufgedunsen, eine Folge ihrer starken Medikamente, aber ihre Gesichtszüge waren viel lebhafter geworden. Das Telefon in meinem Arbeitszimmer klingelte.
„Soll ich leiser stellen?“ fragte Britt, während ich die Liste auf den Teppich ablegte und mich aus dem Sessel erhob. Lächelnd winkte ich ab. Auf dem Weg durch die geöffnete Tür zu meinem Schreibtisch, auf dem das Telefon stand, sagte ich mir, dass sie zu so viel Aufmerksamkeit vor ein paar Tagen noch nicht in der Lage gewesen wäre. Als ich an ihr vorbeiging, ließ ich meinen Zeigefinger über ihren Handrücken streichen.
„Er ist ein durch und durch anständiger Junge!“ brummte Fred durch den Hörer.
„Wie?“
„Ein durch und durch anständiger Junge! Aber was er da macht, kann verdammt gefährlich für uns werden.“
„Warte einen Moment!“
Mit dem Telefon in der Hand machte ich zwei Schritte auf die Tür zu und gab ihr mit der Fußspitze einen Stoß, der ausreichte, damit sie zufiel, ohne im Schloss einzurasten.
„Da bin ich wieder!“
„Es ist doch klar: Er hat mitbekommen, dass die SecOp so etwas wie ein Konkurrent von uns ist. Wenn er denen was unterschiebt, dann denkt er, dass er uns damit hilft. Er hat doch noch nicht einmal eine Ahnung, in was für Schwierigkeiten er uns mit solchen Mätzchen bringen kann. Ich glaube, er hat überhaupt keine Ahnung. Warum bringst du ihn nicht wieder nach haus? Mehr will ich nicht. Ich verlange doch weiß Gott keine öffentlichen Reuebekundungen von dir!“
„Ich überleg es mir. Lass uns morgen weitersprechen!“
Mit einem knappen Gruß verabschiedete er sich aus der Leitung. Ich öffnete meinen Notizblock. Nach der Nummer, die ich brauchte, musste ich nicht lange suchen. Es war ein privater Anschluss. Der Psychiater meiner Frau.
„Breitenbach hier. Guten Abend.“
Dafür, dass er wahrscheinlich einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich hatte, klang seine Stimme erstaunlich frisch.
Als ich meinen Namen nannte, konnte er ihn sofort in seiner Gedächtniskartei einordnen. Das war mir sehr sympathisch. Aber vielleicht war es auch gar nicht so ungewöhnlich. Da Britt ihn mir gegenüber seinerzeit von der Schweigepflicht befreien ließ, hatten wir schon mehrmals miteinander gesprochen.
„Diesmal geht es um etwas Persönliches, Herr Doktor.“
„Persönlich? Sie betreffend?“
„Ja, allerdings ist es nichts wirklich Medizinisches!“
„Na gut, schießen Sie los!“
„Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die spezielle Gaben haben?“
Die Sprechpause, die Breitenbach einlegte, zog sich quälend lang hin.
„Hat Ihre Frau Kontakt aufgenommen zu einem ... alternativen Heiler?“
Die Art, wie er alternativ betonte, machte mir klar, dass er damit in keiner Weise alternativ meinte, sondern etwas sehr viel Unangenehmeres.
„Nein, nein! Wie gesagt, es geht nicht um Britt. Es hat mehr mit meiner Arbeit zu tun!“
„Hmm. Ist es wirklich wichtig?“
„Für mich schon. Ja, sehr wichtig!“
„Vielleicht möchten Sie ja doch etwas konkreter werden?“
„Okay. Also: Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die die Gedanken eines anderen erraten oder sonst wie erkennen können? Die erkennen, ob jemand lügt oder etwas zu verbergen hat?“
„Das ist – Entschuldigung – eine ziemlich merkwürdige Frage.“
„Aber Sie sind doch Psychologe?“
„Nein. Eher Neurologe und Psychiater. Und vor allem bin ich Praktiker. Viel kann ich zu so einem Thema nicht sagen. Aber ...“
„Ja?“
„Ich habe Freunde in der Forschung. Vielleicht sollte ich bei denen mal nachhaken!“
„Es tut mir leid, Sie damit belästigt zu haben, aber es ist tatsächlich ...“
„Keine Angst! Sie haben mich jetzt selber neugierig gemacht. Ich komme auf Sie zurück! Guten Abend!“
Das Tempo, mit dem er aus dem Gespräch ausgestiegen war, sprach für sich. Trotzdem schien er mich für keinen kompletten Idioten zu halten.

*

„Woher denn? Das Haus ist belastet bis unter die Regenrinne! Wieso sollte mir die Bank noch einen Kredit gewähren? Ich wüßte doch selber nicht, wie ich den jemals zurückzahlen kann!“
Meine Sätze sollten meine Hilflosigkeit ausdrücken, aber mir war bewusst, dass sie aggressiv klangen.
„Außerdem ist das jetzt nicht der passende Zeitpunkt“, bellte ich ins Handy. „Ich bin hier in der Kantine!“
Das stimmte nicht ganz. Ich befand mir vor der großen gläsernen Eingangstür zur Kantine und hatte mich in eine Ecke des Vorraums zurückgezogen.
„Wir besprechen das später!“ hörte ich Fred noch knurren, bevor die Verbindung unterbrochen wurde. „Idiot!“ zischte ich, während ich das Handy in den Halter schob. Zweitausend Euro! Woher um alles in der Welt sollte ich zweitausend Euro hernehmen? Aber Fred hatte nicht gut geklungen. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte er sogar das Wort Konkurs gebraucht.
„Ich habe gehört, Sie erzählen Sachen? Über mich?“
Als ich mich zu der Stimme umwandte, erkannte ich einen der Männer von der Sec-Op. Es war der aus der Kantine. Der, den Thido in Verdacht hatte.
„Helfen Sie mir auf die Sprünge!“
„Auf die Sprünge?“
Ich war größer und schwerer als er, aber er wirkte sehr drahtig. Außerdem gefiel mir das nervöse Flackern in seinen Augen nicht. Mit Sicherheit wäre er ein unangenehmer Gegner.
„Sie sind nicht von hier. Warum ziehen Sie sich dann einen Kittel an? Und warum sitzen Sie in der Kantine und erzählen Dinge über mich?“
„Ich soll Dinge über Sie erzählen? Wie kommen Sie darauf?“
„Ich weiß es eben! Könnte meinen Chef interessieren, meinen Sie nicht? Oder seinen Anwalt!“
Er kam einen Schritt näher.
„Aber von diesem Rechtskram verstehe ich eigentlich nichts. Ich regle meine Angelegenheiten lieber privat!“
Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten.
„Ganz privat. Nur Sie und ich! Verstehen Sie?“
Sein Zeigefinger schnellte vor und bohrte sich schmerzhaft in meine Rippen. Noch bevor ich seinen Arm beiseite stoßen konnte, hatte er ihn zurückgezogen. Abrupt wandte er sich um und strebte auf den Ausgang zu.
Ich öffnete die Tür zur Kantine, in der es aufdringlich nach Kohl roch, und schaute mich um. Thido saß an einem Tisch nahe der Fensterfront und saugte an einem Strohhalm, der in einer Coladose steckte. Mit einem Kopfnicken setzte ich mich zu ihm. Während ich mir die schmerzende Stelle auf der Brust rieb, fragte ich mich, ob ich ihm von dem Vorfall erzählen sollte. Aber das hielt ich nicht für klug. Es gab ohnehin eine andere Sache, über die mit ihm sprechen wollte.
„Was hältst du von Brit?“
„Sie fragen sicher nicht nach Ihrer Figur!“
„Komiker! Es geht um... um ihren Kopf. Du hast es ja wohl selber begriffen, was mit ihr los ist. Depressionen können gefährlich werden! Wenn ich sie so sehe, wie sie in ihren Tablettenschachteln wühlt ...“
„Sie meinen, ob Sie sich ....“
„Genau das!“
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube nein.“
„Aber du weißt es nicht?“
„Nein, ich weiß es nicht!“
Für ein paar Sekunden schien er meinem Blick ausweichen zu wollen, dann antwortete er unvermittelt.
„Ich kann sie ja etwas genauer beobachten, wenn Sie wollen! Aber ich würde gern eine andere Sache mit Ihnen besprechen. Das mit meinem Vater!“
„Lässt dich nicht los, wie? Kann es sein, dass du dich da in eine Sache verrennst?“
„Wieso verrennen? Ich dachte, Sie glauben an mich!“
Es ärgerte mich, dass er mich nicht duzen wollte.
„Das ist es ja! Irgendwie glaube ich an dich, natürlich. Aber du musst auch mich verstehen! Irgendeine Art von Beweis brauche ich natürlich auch!“
„Beweis? Ach so! So sieht es also aus, wenn Sie an mich glauben?“
Er packte die Coladose mit beiden Händen und wandte sich von mir ab. Mit dem Strohhalm erzeugte er provozierend laute Blubbergeräusche.
Diesmal konnte ich ihm nicht nachgeben, diesem verrückten Bedürfnis, ihm in den Nacken zu greifen. Ich beugte mich weit über den Tisch und streckte den rechten Arm aus. In dem Augenblick, als ich Daumen und übrige Finger spreizte, um ihn in den Nacken zu greifen, stieß er meinen Arm weg und sprang auf.
Wie er mich so anstarrte, dachte ich, dass er mich wirklich hassen müsste. Aber in diesem Alter konnte man wohl noch nicht so richtig hassen. Man konnte nur ein sehr gekränktes, sehr elendes Gesicht machen.
„Sie sind nicht zufrieden mit mir, wie? Dann erschießen Sie mich doch. Am besten mit Ihrem Handy!“
Ich schaute ihm nach, wie er aus der Kantine rannte. Mir vielen keine Worte ein, die ich ihm hätte hinterher rufen können.
*

„Hast du Thido gesehen?“
Warum lag sie wieder so da? Nie hatte ich mich an die Art gewöhnt, in der Britt auf dem Sofa lag. Ihre Beine waren dabei immer durchgestreckt und geschlossen, nie war etwas lässiges, wohlig faules, entspanntes an ihrer Haltung. Es machte mir Angst.
Ihre Antwort bestand darin, dass sie mich mit ihren wässerigen blauen Augen anschaute. Wenn es ihr gut ging, konnten diese Augen unglaublich weich und schön sein. Das Telefon in meinem Büro klingelte.
„Vielleicht ist er das ja!“ sagte ich - froh, das Wohnzimmer verlassen zu können. Ich schloss die Bürotür hinter mir und hielt den Hörer ans Ohr. Es war Dr. Breitenbach.
„Ich habe mich umgehört. Sie haben da einen wirklich interessanten Punkt berührt!“
„Sie sprechen von der Gabe?“
„Genau. Belzer, ein Studienkollege von mir, hat tatsächlich einmal an so einer Studie mitgewirkt. Entschlüsselung von Ausdrucksverhalten und Körpersprache. Faszinierendes Gebiet anscheinend!“
„Sprechen Sie bitte weiter!“
„Ich muss etwas ausholen. Waren Sie gut in Mathematik?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Aber ich habe mich so durchgemogelt. Was einige andere nicht geschafft haben. Und dann gab es natürlich auch die von der anderen Sorte – die, die keine Mühe damit hatten, die so etwas wie ein Hobby draus gemacht haben: Grenzwerte, Kegelschnitte, Differenzialrechnung, was weiß ich!“
„Ich sehe den Zusammenhang noch nicht!“
„Sehen Sie, es dreht sich einfach um die Gaußsche Normalverteilung. Es gibt eine ganze Menge Merkmale, auf die das zutrifft: Intelligenz zum Beispiel. Oder andere spezielle Fähigkeiten - meistens sind sie verteilt wie unter dieser Glockenkurve. Die Masse schiebt sich nahe dem Mittelwert zusammen, aber rechts davon – da finden wir die großen seltenen Ausnahmen. Um bei der Mathematik zu bleiben: Ich gehöre zur Masse, aber ganz weit rechts von mir unter der Kurve, ich meine jetzt wirklich ganz rechts – da sind nicht die, die in Integralrechnung eine Eins hatten. Ganz rechts sind die, die die Integralrechnung erfunden haben! Die Genies!“
Breitenbachs Stimme hatte etwas Beschwörendes angenommen.
„Aber wir können die Mathematik jetzt gern beiseite lassen. Um auf Ihren Punkt zu kommen: Die Fähigkeit, Lügen zu erkennen! Jeder Mensch kann einen schlechten Lügner entlarven. Wir sehen ihre übertriebenen Gesten, den unnatürlichen Gesichtsausdruck, wir hören ihre falsche, hohle Art zu sprechen und wissen: ‚Der lügt!’ Schlechte Lügner sind running jokes in vielen Komödien.“
„Und das heißt?“
„Das heißt, es gibt eine spezielle Fähigkeit, Lügen zu entlarven. Und warum soll nicht auch sie glockenförmig verteilt sein? Die einen können es schlechter, die anderen besser? Und warum soll es nicht auch auf diesem Gebiet Genies geben? Einer unter hunderttausend?“
„Aber wie sollte das funktionieren?“
„Da kann ich auch nur raten. Aber es gibt beispielsweise viele kleine Muskeln in unserem Gesicht, die wir nicht willkürlich kontrollieren können. Warum soll es nicht jemanden geben, der weit über das normale Maß hinaus dieses natürliche Talent besitzt, Veränderungen bei einem anderen wahrzunehmen – auch wenn sie winzig sind? Der in körperlichen Reaktionen liest wie in einem Buch? Verspannungen, Täuschungsmanöver, unterdrückte Motivationen? Kurz gesagt: Das Talent, jemandem anzusehen, was mit ihm wirklich los ist!“
„Und Sie meinen, Thido ist einer von ihnen? Einer unter hunderttausend?“
„Thido? Ich weiß zwar nicht, von wem Sie sprechen, aber so viel kann ich sagen: Belzer musste die Studie abbrechen - weil er nie einen gefunden hat. Aber er ist sich bis heute sicher, dass es sie gibt.“
Durch den Türspalt konnte ich ins Wohnzimmer schauen. Britt hatte sich aufgesetzt und starrte auf die Tischplatte. Was beobachtete sie dort? Ihre Tablettenschachteln?
„Vielen Dank für alles, Herr Doktor. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten!“
*

Seit meiner Kindheit hatte sich nichts daran geändert. Mir gefielen die Farben, wie sie durch ein Fernglas wiedergegeben wurden. Irgendwie wirkten sie verdünnt, verfeinert. Wie das Licht aus einer anderen Welt. Es war recht heiß, und ich glaubte, den Asphalt riechen zu können.
Er hatte alle Türen seines Kombis geöffnet, wahrscheinlich um das Innere zu lüften und etwas auszukühlen. Es sah nicht so aus, als ob er gleich wegfahren würde. In gebückter Haltung machte er sich unter der hochgeklappten Hecktür im Wageninneren zu schaffen.
Heute war Sonnabend, der Parkplatz war fast leer. Die weißen Streifen auf dem Belag hatten etwas von Spielfeldmarkierungen. Ich gab mir keine Mühe, die Geräusche meiner Schritte zu dämpfen. Uns trennten ungefähr noch fünfzig Meter. Ich konnte ihn schnaufen hören. Und ich erkannte, dass er auch heute seine SecOp-Uniform trug.
Obwohl sich die Distanz schnell verringerte, bemerkte er mich noch immer nicht. Er schien sich sehr sicher zu sein.
Als ich mit dem Knöcheln gegen das hintere Seitenfenster klopfte, richtete er sich mit einer überraschend hektischen Bewegung auf, sein Gesichtsausdruck wirkte vor allem verwirrt, auf jeden Fall nicht besonders bedrohlich. Ich spürte meinen psychologischen Vorteil.
„Sogar am Wochenende im Dienst? Vorbildlich! Darf ich?“
Während ich mich an ihm vorbeischob, registrierte ich, wie er einen kleinen Schritt zurückwich. Ich schlug die Wolldecke zurück, die die Ladung im Gepäckraum verdeckte.
Ich konnte es nicht verhindern, dass sich meine Lippen zu einem triumphierenden Grinsen verzogen, während ich ihm ins Gesicht schaute und mit steif ausgestrecktem Arm auf den Laderaum deutete.
„200 Watt Sinus, 240 Watt maximal. 30-Zentimeter-Tieftöner. Wissen Sie eigentlich, dass ich als Junge von so etwas immer geträumt habe?“
Er stemmte seine Hände in die Hüften und starrte in die Ferne. Nein, in diesem Augenblick sah nicht im geringsten gefährlich aus. Eher so, als ob er gleich zu heulen anfinge. Das wäre das letzte, dachte ich.
In mehreren Dutzend Metern Entfernung von uns summte ein Gabelstapler durch das Rolltor der Lagerhalle ins Freie. Es gelang mir, mit Hilfe meiner Finger einen ziemlich lauten, penetranten Pfiff zu erzeugen. Als sich der Fahrer zu uns umwandte, winkte ich ihm. Ich würde einen Zeugen brauchen.

*

Als ich die Klinik erreichte, war es dunkel. Der Äskulapstab aus Neon wies mir den Weg zum Eingang. In der Aura seiner Strahlung wurde die Haut meiner Hände blass und fahl. Ich begann, dieses Licht zu hassen.
Fred stand an der Rezeption. Er bemerkte mich sofort. Wahrscheinlich hatte er den Eingang nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Mit ausgebreiteten Armen kam er auf mich zu und legte mir seine großen Hände auf die Schultern.
„Geht´s dir gut? Geht´s dir wirklich gut?“
Behutsam zog er mich mit sich.
„Dahinten. Da können wir sitzen!“
„Du hast sie gefunden?“ fragte ich, nachdem ich mich auf den orangefarbenen Plastiksitz an der Wand hatte fallen lassen.
„Ja, da war sie aber nicht mehr ansprechbar. Wo warst du?“
„Ich habe sogar versucht, sie anzurufen! Wie geht es ihr wirklich?“
Zögernd hob er die Schultern.
„Ich war mit im Krankenwagen. Da sagten sie noch, sie sei stabil. Atmung, Kreislauf und so. Der Arzt kommt bestimmt gleich! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
Als sich die große Flügeltür öffnete, die ins innere des Gebäudes führte, sah ich, wie ein Bett und ein Infusionsstativ über den langen Gang gerollt wurden. Ich ließ meinen Blick auf meine Hände sinken, die sich zu Fäusten verkrampften.
„Ich hab ihn an den Haken bekommen! Den von der SecOp. Verdammt noch einmal, Thido hatte Recht! Ich war bei der Polizei, hab meine Anzeige aufgegeben. Dann wollte ich dich anrufen. Zum Feiern!“
Ich öffnete meine Hände, bedeckte mit ihnen mein Gesicht und massierte mit den Fingerspitzen Stirn und Augen.
„Thido sagte, sie sei nicht ...“
„Das ist der Ehemann!“ hörte ich Fred sagen. Als ich aufschaute, sah ich einen schlaksigen Mann mit Stirnglatze vor mir stehen. Er trug einen weißen Kittel, in dessen rechter Brusttasche ein Stethoskop steckte. Er streckte seine Hand nach mir aus.
„Kann ich sie sehen?“ fragte ich, während ich aufstand und fahrig seine Hand schüttelte.
„Nicht sofort, aber sicherlich in den nächsten Stunden. Auf jeden Fall ist sie nicht in Lebensgefahr, da kann ich Sie komplett beruhigen!“
„Ich lass dich jetzt allein. Ruf mich an, okay?“ hörte ich Fred sagen, während ich noch dem Arzt in die Augen schaute. Als ich mich zu ihm umdrehte sah ich ihn nur noch von hinten, wie er seinen massigen Körper im Seemannsgang in Richtung Drehtür manövrierte.
Ich wandte mich zum Arzt um.
„Und? War es ein ...“
„Ein Selbstmordversuch? Offengestanden sieht es für mich im Moment nicht so aus!“
„Nicht?“
„Ihr Bekannter sagte, dass er eine Herdplatte habe ausstellen müssen. Einen Abschiedsbrief hat er nirgendwo gesehen. Außerdem haben die Rettungssanitäter alle Medikamente Ihrer Frau mitgenommen. Die gefährlichsten scheint sie gar nicht angerührt zu haben.“
„Was war es dann?“
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich müssen wir warten, bis Ihre Frau es uns selber sagt. Aber ich glaube, es war ein Unfall. Eine Unachtsamkeit. Sie sollten jetzt aber versuchen, etwas ruhiger zu werden. Möchten Sie hier warten? Ich kann in einer halben Stunde wieder bei Ihnen sein!“
Wortlos nickte ich mit dem Kopf und zog das Zigarettenpäckchen aus der Hemdtasche.
„Das bitte vor dem Eingang! Bis später also.“
Nachdem der Arzt gegangen war, zündete ich mir vor der Eingangstür eine Zigarette an. Als mich das Licht der Neonröhren wieder zu stören begannt, ging ich ein paar Dutzend Schritte, um ihm zu entgehen.
„Wie geht es ihr?“
Thido stand schräg hinter mir. Ich hatte ihn nicht näher kommen hören. Wahrscheinlich hatte er hier schon eine ganze Weile gewartet.
„Woher weißt du davon?“
„Ich weiß eben vieles. Zum Beispiel auch, dass ich Recht hatte mit dem Kerl von der SecOp. Ich war dabei, wie Sie ihn hochgenommen haben!“
Ich zog die Augenbrauen hoch, während ich den Rauch durch die Nasenlöcher quellen ließ. Mehr fiel mir im Moment nicht ein.
„Das Problem ist, dass Sie immer nur anderen Leuten in den Kofferraum schauen! Ich habe Sie seit gestern quasi nicht aus den Augen gelassen.“
Er wartete ein paar Sekunden ab, bevor er sagte:
„Ich glaube immer noch nicht, dass sie Schluss machen wollte!“
„Das meint der Arzt auch. Aber was ist dann sonst los mit ihr?“
Der Junge hob die Schultern.
„Ich hatte das Gefühl, dass es mit ihr bergauf ging. Irgendwas muss da ziemlich plötzlich dazwischen gekommen sein. Sie sagte mir, Fred hätte kürzlich angerufen und dabei erwähnt, wie schlecht es dem Geschäft ging. Vielleicht hat sie das ja aus der Bahn geworfen ...“
Während ich die Zigarette unter der Schuhsohle zerdrückte, fragte ich:
„Aber wenn es kein Selbstmordversuch war?“
„Ich weiß es nicht. Aber sie hat mir auch verraten, dass sie wegen Ihrer Krankheit Schuldgefühle hatte. Ihnen gegenüber!“
„Schuldgefühle?“
„Ich stelle es mir so vor, dass sie spürte, wie sich ihr Zustand wieder verschlimmerte. Und dann hat sie die Tabletten geschluckt. Irgend so eine Kurzschlusshandlung, glaube ich. Vielleicht dachte sie ja, sie füllt sich mit der ganzen Packung ab und dann ist sie wieder gesund.“
„Wahrscheinlich hast du Recht!“ Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Nachthimmel. „Wahrscheinlich hast du immer Recht. Ich habe dich unterschätzt. Ich glaube, ich muss mich entschuldigen!“
Als ich meinen Blick wieder auf ihn richtete, sah ich, wie verlegen er dreinschaute. Dann begann er zu grinsen.
„Ich mag Sie. Eigentlich sind Sie ganz in Ordnung. Aber als Schnüffler absolut erbärmlich!“
„Vielleicht unterschätzt du mich jetzt. Wenn du willst, können wir es gern noch einmal probieren! Wie wär’s zum Beispiel mit deinem Vater?“
Er schüttelte den Kopf.
„Sie werden in der nächsten Zeit so einiges geradezubiegen haben. Und mein Problem ... nun ja, es läuft mir ja sozusagen nicht weg!“
Er näherte sich einen Schritt, griff in die Brusttasche seiner Jeansjacke und reichte mir einen zusammengefalteten Zettel.
„Bitte erst anschauen, wenn ich weg bin!“
„Du gehst?“
Der Junge reagierte nicht. Ich hätte mir gewünscht, souveräner zu sein, aber ich registrierte, wie meine Muskeln erschlafften und sich mein Kopf senkte. Mein Blick ruhte nur noch auf dem Asphalt des Parkplatzes.
Dann spürte ich, wie mir Thido in den Nacken griff. In dem Moment, in dem ich zu ihm aufschaute, hörte ich sein Lachen. Dann fing er an zu rennen. Er hörte nicht auf damit, bis er in der Dunkelheit verschwand. Es verging eine Weile, bis ich mich in Bewegung setzte und auf den Klinikeingang zu schritt.

*

Mein Blut schimmerte rötlich durch den Daumennagel hindurch, als ich den Leuchtknopf für den Fahrstuhl drückte. Die Kabine wirkte winzig auf mich.
Fred stand in seiner Wohnungstür und erwartete mich. Er trug einen Morgenmantel.
Wortlos dirigierte er mich ins Wohnzimmer, wo wir uns auf seine schweren Polstermöbel setzten und uns über den Tisch hinweg anschauten.
„Sie ist noch immer bewusstlos. Ein Schlauch steckt in ihrem Nasenloch. Als ich sie küsste, habe ich gesehen, dass es etwas blutete.“
Er schaute zur Seite. Nur an der Kinnspitze konnte ich das feine Kopfnicken erkennen.
„Vorhin, als ich aus dem Krankenhaus kam, habe ich noch einen Abstecher ins Büro gemacht und mir die Bücher noch einmal angeschaut. Du weißt, wie wenig Ahnung ich von diesen Dingen habe.“
Ich zündete mir eine Zigarette an.
„Jedenfalls war ich ganz schön baff, wie viele Einkünfte wir in der letzten Zeit doch hatten. Aber es waren insgesamt verdammt viele Buchungen. Wie gesagt: Ich habe keine Ahnung davon. Aber wenn man sich konzentriert, wenn man sich einfach nur durchbeißt, dann versteht sogar ein Holzkopf wie ich das Muster. Diese endlosen Hin- und Herbuchungen, die irgendwie am Ende alle auf deinem Konto enden!“
Er wandte mit sein Gesicht zu. Alles käme jetzt auf seinem Gesichtsausdruck an. Wäre er nur eine Spur beleidigt, wütend oder unwillig, wäre er verloren.
„Es war die Scheidung, ja?“
Nein, er war nicht unwillig. Er war nur unglaublich müde. Und alt. Nie vorher war mir aufgefallen, wie alt er war.
„Wie bist du darauf gekommen?“
Ich hielt ihm den Zettel vor die Augen. Fred stand in ungelenken Blockbuchstaben drauf. Sonst nichts.
„Das ist Thidos Handschrift.“
„Thido!“
„Wie ich sagte: Er ist besser als wir alle zusammen!“
Er ließ das Kinn auf die Brust sinken.
„Ist dir lieber, wenn ich weiter spreche, ja?“ fragte ich, wobei ich kleine Rauchwolken ausstieß. „Und? Wie sieht es in Wahrheit aus mit uns? So schlecht waren wir gar nicht, oder?“
„Stimmt. Eigentlich haben wir sehr wirtschaftlich gearbeitet“, antwortete er mit zitternder Stimme, während er den Kopf hob und mich mit seinen alten Augen anschaute.
„Mit einer Anzeige wäre ich erledigt. Ist dir klar, oder? Wir könnten es doch anders versuchen, meinst du nicht? Ich verpflichte mich. Einem Notar gegenüber! Du wirst alles zurückbekommen!“
„Notar? Du willst jetzt mit irgendwelchem Rechtskram kommen? Du hättest beinahe meine Frau umgebracht! Und jetzt soll dir irgend so ein geschniegelter, frisch gebügelter Rechtsverdreher aus der Scheiße helfen!“
Er ließ den Kopf wieder sinken. Ich erhob mich aus meinem Sitz und schritt um seinen Sessel herum. Dabei schaute ich auf seinen fleischigen Nacken.
„Aber du hast Recht! Was würdest du mir als toter Mann noch nützen? Ich habe heute schon einen verdammt noch mal wirklich guten Freund verloren! Aber du wirst rackern müssen! Und wenn es nicht reicht, wirst du in der Einkaufspassage betteln gehen!“
Ich packte seinen Hals mit beiden Händen. Irgend ein Teil meines Gehirns hätte es genossen, wenn ich noch fester zugegriffen hätte. Aber es reichte mir, ihn kurz aufstöhnen zu hören. Ich mochte es, wie wir uns gegenseitig das Leben leichter machten.
 

GabiSils

Mitglied
Hallo Volker,

ist das nicht eigentlich eher ein Krimi? Das Psi-Element empfine ich gar nicht als so wesentlich, zumal der Psychiater es ja ganz einleuchtend erklärt.
Ein wenig habe ich Probleme mit dem Text; er gefällt mir insgesamt gut, aber ich hatte teilweise Mühe, der Handlung zu folgen, könnte jedoch nicht sagen, wo und warum genau. Vor allem, was nun wirklich mit Britt geschehen ist und wieso Fred sie beinahe umgebracht hat (nur durch seinen Anruf?), kommt nicht so ganz klar heraus. Vielleicht kannst du das noch "aufklären"?


Gruß, Gabi
 
Hallo Volker,

ein lausiger Ermittler ist Jochen, da gebe ich dem Jungen Recht. Das macht ihn sympathisch, aber ein wenig kompetenter hätte ihn realistischer gemacht. Gerade bei dem Punkt, wo er nach dem Vater und dessen Verbrechen fragt.

Ja, eigentlich ist es eine Geschichte, die ins Krimiforum gehört, obwohl es kein richtiger Krimi ist, aber da wäre meiner Meinung nach der richtige Platz. Wenn du wills, schiebe ich sie dort hin, aber es ist deine Entscheidung.

Fred, da stimme ich Gabi zu, ist ein Schwachpunkt der Geschichte, er läuft so nebenbei, aber seine Handlungen sind nur bedingt nachvollziehbar. Daher kommt auch die Sache mit der Frau zu kurz, so mag es im Wirklichen leben sein, aber für den Leser ist es ein wenig unbefriedigend. Wegen Fred. Er erklärt sich weder richtg, noch wird er zum Leben erweckt. Gerade am Ende verschenkst du diese Figur, indem lapidar erwähnt wird, dass er seinen Freund und Kolelgen betrügt. Da könntest du ein wenig mehr draus machen.

Insgesamt wirkt die Geschichte ein wenig fragmentatrisch, du reisst so viele Themen an ( PSI oder Übersinnliches, Krimi, Beziehungskrise, etc. ), aber nichts davon wirkt bis zum Ende durchdacht bzw. wird vor dem Ende abgebrochen.

SO, jetzt hört es sich an, als ob mir die Geschichte nicht gefallen hat, aber das stimmt nicht. Ich hatte ein großes Vergnügen, diese Geschichte zu lesen und würde mir als Leser wünschen, die von mir beanstanteten Punkte verbessert zu haben.

Warum stirbt die Frau fast? Warum ist Jochen so ein Looser? Wer ist Fred? Was hat es mit des Jungen Gabe auf sich ( mir wurde im Text nicht klar, ob die wissenschaftliche Erklärung auf den Jungen zutrifft oder nicht, du hast dir da eine Hintertür offen gelassen)?

Bis bald,
Michael
 
Hallo, Michael!
Ich sehe den Detektiv nicht als Stümper. Wenn Thido so etwas sagt, ist das eher als Frotzelei zu verstehen (wer ist im Vergleich zu Thido kein Stümper?). Fred gibt zu, dass die Detektei sogar gut laufen würde, gäbe es da nicht diese mysteriösen Kapitalabflüsse. Wenn der Detektiv nicht an die Unschuld von Thidos Vater glaubt, hat das nicht unbedingt mit Inkompetenz zu tun, sondern eher im Gegenteil mit Betriebsblindheit. Als jemand vom Fach weiß er, dass es eher zu den Ausnahmen gehört, wenn jemand unschuldig verurteilt wird und dass Angehörige kaum zu den Unvoreingenommensten gehören. Aus seiner subjektiven Warte hat er eher die Befürchtung, dass sich der Junge zu sehr an diese Wunschvorstellung klammert. In dem Moment, in dem sich Beweise für Thidos Talent ergeben, reagiert der Detektiv schnell. Außerdem war er es ja, der die ziemlich unkonventionelle Idee hatte, auf die Fähigkeiten eines „Medialen“ zu setzen. Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit des Detektivs berühren eher den privaten Bereich. Aber ahnungslos ist er nicht, weil er dumm ist, sondern weil die Dinge kompliziert sind und ihr äußerer Anschein trügen kann. Ich selber fand die Figur eines ahnungslosen Schnüfflers eben reizvoll.
Ich habe nichts dagegen, wenn die Geschichte ins Krimi-Forum gestellt wird. Was mir aber unter den Nägeln brennt: Thidos Alter ist mit zwölf zu niedrig angesetzt, vierzehn wäre viel passender. Gibt es Möglichkeiten, dass noch zu korrigieren?

Gruß Volker

PS: Ich denke, die wissenschaftliche Erklärung für Thidos Fähigkeiten reicht völlig aus, Hintertürchen sind eigentlich gar nicht notwendig. Aber natürlich ist das reine Spekulation von mir. Ob es solche Gaben wirklich gibt, ist mir völlig schleierhaft (noch ein Ahnungsloser!)
 
Hallo Volker,

am Ende deines Beitrags gibt es die Funktion edit/delete, mit der kannst du deinen Text ändern.

Zum Ermittler : Jochen fragt gar nicht groß nach bezüglich der Vergewaltigungssache. So etwas würde ein richtiger Detektiv eher nicht machen. Der würde den Jungen nach Detaisl bohren, um eine Möglichkeit festzustellen, ob es doch einen Ansatzpunkt gäbe, die Unschuld zu beweisen.

Eine wissenschaftliche Anerkennnung Thidos Fähigkeiten wäre ein Beweis für die Unschuld, kaum zu erreichen, aber ein Gedanke, der dem Ermittler kommen könnte.

Die Erklärung, Thido könne einfach nur erkennen, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt, erklärt aber nur bedingt seine bewiesenen Fähigkeiten. Denk mal drüber nach.

Bis bald,
Michael
 

Roni

Mitglied
hallo volker,

ich weiss nicht, inwiefern ich jetzt schon eine ueberarbeitete version gelesen habe. mein psi-held war jetzt von anfang an 14.

tja. ich wuerd gern was meckern ... aber ich hab nix gefunden.
mir hat es rundum richtig gut gefallen. das verbrechen (der diebstahl) wurde immer unwichtiger ... die leute immer interessanter. ich finde auch nicht, dass fred einfach nur so mitlaeuft. es wird oft genug auf ihn verwiesen ... die schnurrbart-beschreibung am anfang und die wiederholung am ende finde ich gelungen. bei der kantine-szene dachte ich: aha, jetzt erkennt der junge, dass es eigentlich fred ist!!! - das ging dann unter und ich sagte mir, ich war auf der falschen spur ... aber da war ich dann, laut ende, eben doch nicht.
nun gut - es fehlt vielleicht ein erlaeuternder satz, dass fred die ehefrau in panik trieb ...
aber ansonsten gefaellt mir alles.
mir gefaellt der schnurrbart (wie gesagt), mir gefallen die vielen, vielen arten, die du gefunden hast, licht zu beschreiben, mir gefaellt die hand im nacken, das verknuepfen,
kurz: ich habe mit freude und kurzweil gelesen.

einzig: am schluss steht: schon einen guten freund verloren.
verloren ist ja nicht ganz stimmig, denke ich. man ist halt nicht mehr zusammen ... aber die freundschaft zum jungen bleibt ja dennoch erhalten. hoffe ich zumindest.



gruss
roni
 
Hallo Roni,
freut mich, dass dir der Text gefallen hat. Du hast Recht: einige kleinere Korrekturen hatte ich bereits eingebaut. Für ein paar andere Überarbeitungen suche ich allerdings noch nach der richtigen Strategie. Es wird dabei bleiben, dass sich die beiden über Thidos Vater entzweien, aber Michaels Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. In der jetzigen Version ist der Detektiv zu abweisend, zumal er sich und Thido ja als Team sieht.

Gruß Volker
 



 
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