Die Gasse - Eine deutsche Alltagsgeschichte

Verboholiker

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Die Gasse - Eine deutsche Alltagsgeschichte


Im alten Herzen unserer Stadt stand vor ein paar Jahren noch ein von der öffentlichen Zerstreuung geflüchtetes Haus inmitten der Sanguisgasse. Es reihte sich mit seinen kleinen, von städtischem Atem fast gänzlich erblindeten Fenstern und seiner schmutzig-grauen Fassade in die links und rechts gelegenen Nachbarhäuser ein, die nach dem Krieg jedoch wesentlich frischer gestrichen und mit kunstvollen Ornamenten verschönert worden waren. Das Haus, so hätte ein Passant damals denken können, gehöre nicht in die Reihe der Schöneren, jedoch, und so hätte das endgültige Urteil nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens dieses vorbeieilenden Menschen wohl gelautet haben können, sei es gleichsam unschön, aber auch so unscheinbar, dass es nicht weiter auffiele und somit für wenig Aufsehen sorgte. Es wirkte wie eine kleine Fuge in einer Mauer, die niemand vermisst hatte, durch deren Fehlen kein Zusammenbruch des Gefüges hätte passieren können, und auch das Haus selbst schien mit seiner Unauffälligkeit einem Vermissen entgegenzuwirken. Die das kleine Haus beherbergende Gasse verband zwar unfreiwillig zwei verkehrsreiche Hauptstraßen miteinander, jedoch benötigte die Stadt den althergebrachten Verkehrsweg nicht mehr, sie hatte Umgehungskreisläufe wachsen und den alten Weg somit in den Hintergrund geraten lassen. Das Kopfsteinpflaster war es wohl, das den Verkehr längs der alten Hausfronten schmälerte, feiertags oder sonntags nahezu gänzlich zum Erliegen brachte. Nur in der Ferne vermochte man tagsüber das unentwegte Rauschen des städtischen Verkehres wahrzunehmen. Auch ohne Kalender konnte man in der Gasse das Wochenende allein durch Lauschen und Schauen kommen und gehen hören. Nachts herrschte eine Totenstille, nur ab und zu war ein fernes Hupen oder das Bellen eines Köters zu hören. Das sonst so kräftige Rauschen wurde, wenn die Sonne sich senkte, zu einem Flüstern, und wenn sich ihre Strahlen gänzlich in der Nacht verloren hatten, zu einem Schweigen.
Manchmal, wenn der Frost gegen die Fenster des Hauses mit der Nummer 45 inmitten der Gasse schlug, und wenn man von der gegenüberliegenden Seite auf dem Gehsteig stehend sehr scharf das kleine, sich im obersten Geschoss des Hauses einbettende Fenster beobachtete, konnte man sogar im Winter blühende Blumen bemerken. Ein knochiger Finger kratzte dann über das Fenster, bewegte sich behände und mit fast künstlerischem Mut, zeichnete die Eisblumen des Frostes mit dicken Strichen nach, zuckte jedoch zurück in den Schatten, sobald ein Blick versuchte, die Gestalt hinter den Eisblumen zu erspähen.
Der alte Mann betrachtete die Einsamkeit in der Nummer 45 als Geschenk, brachte sie doch Ruhe und eine gewisse Apartheit mit sich. Unzählige Baustellen umgaben die kleine Gasse. Es wurde gehämmert, bearbeitet und erneuert. Die unzähligen Kräne in der nächsten und in der übernächsten Straße kamen ihm wie gigantische Galgen vor, wenn er manchmal einen weiteren Blick in die Stadt wagte. Die neue Stadt wuchs zu schnell. Irgendwann, dachte er, würde er mit seinem Haus verzehrt werden. Wenn er über seine Gasse hinaussah und daran dachte, zog er sich in die hintere rechte Ecke der Küche zurück, setzte sich auf seinen Stuhl. An seinem Küchentisch schrieb er seit dem Krieg in unregelmäßigen Abständen an seinem Tagebuch. Bleistift und Papier waren gute und vor allem verlässliche Genossen.
Das Haus in der Birnbaumgasse, so hieß sie vor vielen Jahren, hatte er um 1950 mit seiner Frau bezogen. Zunächst gehörten alle drei Stockwerke zu seinem Besitz, seit 1961 bewohnte er die obere Etage allein, die unteren Stockwerke standen leer. Der alte Mann hatte sich seit dem Tod seiner Frau nicht mehr dorthin begeben. Das Nähzimmer und die Küche seiner Frau Eva waren seitdem unberührt. Der liebste Raum des alten Mannes war seine eigene Küche in der obersten Etage. Das kleine Fenster ließ schummriges Licht hinein, und hier konnte er die Welt in einem schmalen, für ihn jedoch ausreichenden Horizont beobachten und belauschen.
Der Winter verbot ein Öffnen des Fensters, weil der alte Mann sehr stark abgenommen hatte und ihm jeder Windzug wie eine eisige, nach seinem Hals greifende Schlinge vorkam. Die äußere Kälte forderte ihn oftmals so sehr, dass er den Rest des Tages vor der in der Küche stehenden Elektroheizung verbrachte. Trotzdem gehörte der Winter nicht zu seinen Feinden. Die Stadt war für ihn sogar eine frostige Freundin, die Eisblumen mit großer musischer Geduld an sein Fenster malte. Oftmals betrachtete er die gezeichneten Werke stundenlang, konnte jedoch nur grobe Umrisse erkennen. Selbst von innen konnte er sie zum Schmelzen bringen, indem er mit seinem Finger Linien und Kreise zeichnete. Wenn draußen alles gefror, legte er seinen Finger auf das kalte Glass. Trotz seiner inneren Kälte konnte der alte Mann scheinbar seine gesamte restliche Körperwärme auf die Kuppe seines rechten Zeigefingers konzentrieren. Wenn er nun seinen Finger über die Scheibe zog, hinterließ er eine schmale Spur des Tauens. Er war selbst überrascht von der Gabe, eine derartige Wirkung zu vollbringen, dass ihn deren Abklang bis in die Mittagsstunde beschäftigte. Alles fiel letztlich zur Mittagsstunde tauend ab, wenn die Sonne kräftig kam, um der Natur und seines alten Fingers Werk abschmelzen zu lassen. Außerdem kamen seine 15 Minuten um diese Zeit
In irgendeiner Nacht malte er mit einigen kräftigen Strichen einen Zug und ein sich über die gesamte Breite des Fensters erstreckendes Gleis auf das Fenster. Es war ein eine alte Dampflok mit einigen Anhängern. Die Fenster waren aufgrund der sommerlichen Hitze fast alle halb heruntergezogen. Der Zug stoppte im Bahnhof von Hannover, den er planmäßig aber nicht hätte anfahren sollte. Mit einem kräftigen Ruck, der die Insassen in Friedrichs Abteil überraschte und kurz wanken lies, kam er zum Stehen. Er blickte aufgeregt nach seiner Mutter, die ebenso überrascht zu sein schien. Mit unruhig wirkenden Augen sah sie von ihrer Zeitung auf, suchte den Blick seines Vaters. In den Kriegsjahren war jeder unplanmäßige Halt ein schlechtes Zeichen. Sein Vater wirkte hingegen fast routiniert, er merkte mit beruhigender Stimme an, dass es sich wahrscheinlich nur um ein technisches Problem handeln könne, denn die Wehrmacht sei schließlich momentan ganz weit im Osten, fern von Hannover. Die Türen des Abteils wurden aufgerissen, ein Bahnbeamter schoss herein und gleichsam vorbei, verkündete, dass sich der Zug aufgrund technischer Probleme um eine Viertelstunde verzögern werde. Friedrich war zu dieser Zeit 24 Jahre alt und nach einer Verletzung seines Armes in einem Verwaltungsbüro der Bahn in der Stadt M. tätig. Er zögerte nicht lange, entschuldigte sich hastig bei seinen Eltern, verließ mit fliegenden Schuhen das Abteil, um auf den Bahnsteig zu gelangen. Sein Vater nickte ihm wissend nach, er hatte das Laster seines Sohnes nie verurteilt. Seine Mutter saß angespannt und verschwitzt auf der Bank des Abteiles, versuchte, sich durch das Fächern mit ihrer Zeitung Kühlung zu verschaffen.
Draußen brannte der Hochsommer mit flimmernder Hitze auf Friedrichs Scheitel. Er kramte hastig in seiner Innentasche, fingerte ein silbernes Feuerzeug heraus, kramte mit der anderen, freien Hand in seiner Hosentasche, um einen zerknitterte Zigarette zu gebären. Mit flinkem Finger schnippte er ein Feuerchen, Benzingeruch stieg ihm in die Nase. Erleichtert zog er an seiner gerade entzündeten Zigarette, sog den blauen Rauch tief in sich hinein, atmete ihn langsam aus. Heute war er, obgleich uniformiert, mit seinen Eltern in privaten Angelegenheiten unterwegs, und die langwierige Bahnfahrt geriet im Hochsommer zur Tortur. Eine seltsame Erregung überkam ihn, als er den Zug mit seinen halb geöffneten Fenstern sah. Soweit Friedrich sehen konnte, hingen Hände, Arme und Köpfe aus dem Zug. Viele Türen blieben verschlossen, er war einer der Wenigen, der während der kurzen Pause den Zug verlassen hatte. In M. beschränkte sich seine Tätigkeit auf das Erstellen von Fahrplänen aller Art, und Friedrich selbst, der für den Wehrdienst untauglich geworden war, kam selten selbst zum Zugfahren. Er bevorzugte die stille Arbeit, bei der er ungestört seinen Gedanken nachgehen konnte. Er zeichnete, rechnete, optimierte, das war sein Berufsleben. Der Arbeit hatte er aber niemals eine höhere Priorität eingeräumt, dafür war er zu sehr ein Lebemann, der oftmals in den Tag hineinlebte. Er trat, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, einige Schritte beiseite, setzte sich auf eine Bank, rauchte, ließ die Asche auf den Bahnsteig fallen, ein fast glühender Windhauch trieb sie weiter über den Bahnsteig, sie verlor sich in viele kleine Flöckchen. Hannover hatte er sich anders vorgestellt. Für ihn schien es wie ein Ort in der tiefsten, in der weltfremdesten Provinz Deutschlands. 15 Minuten Pause von der Fahrt von Köln nach M. reichten ihm aus, dachte er. Genau zwei Zigarettenlängen.
Von rechts huschte eine junge blonde Dame mit grauer Uniform wie ein hell-lockiger Irrwisch an seiner rauchenden Nase vorbei, zog einen Besen mit breiter Kehrfläche hinter sich her, strich mit demselben auffallend provokativ über Friedrichs schwarz glänzende Stiefel. Er schaute verklärt auf, ließ seine Zigarette fast aus dem Mundwinkel fallen, als er den blonden Putzteufel sah. Eva malte er als kleines Strichmännchen vor den Zug, in ihrer Hand eine naive Andeutung eines Besens. Sich selbst stellte er daneben. Nur Evas Haar versuchte er mit krausen Strichen anzudeuten, sonst glichen sich die Strichmännchen völlig. Sein künstlerischer Ausdruck, dachte er fast zynisch, sei an dieser verdammten Scheibe doch recht eingeschränkt. Am Mittag taute die Sonne seine kleine Zeichnung weg, das Fenster wurde mit jedem Sonnenstrahl klarer und gab letztlich einen trüben Blick auf die tot vor des alten Mannes Haus liegende Sanguisgasse frei. Der alte Mann vergrub sein Gesicht mit entglittener Miene in seine knochigen Hände. Eva erschoss sich an einem Samstag auf dem Sofa ihres Nähzimmers im Untergeschoss.
Um 12 Uhr klingelte es, und fast gleichzeitig drehte sich ein Schlüssel, der an einem Schlüsselbund mit dutzenden anderen Schlüsseln zu hängen schien, hastig im Schloss der Eingangstür. Das Schloss schnappte nach einiger Zeit des leeren Drehens widerwillig auf. Der alte Mann öffnete die Augen, hörte die sich öffnende Tür auf den Türstopper prallen. 15 Minuten Fürsorge hatte ihm die Stadt pro Tag gewährt. Die widerliche Frau, die ihn täglich heimsuchte und deren Namen er nicht kannte, kam seit vielen Jahren täglich um 12 Uhr und störte seine Ruhe. In der Nacht, nachdem er sich an die Begegnung mit Eva erinnert hatte, war er irgendwann auf den Boden der Küche gefallen, hatte sich dabei den Steiß schmerzhaft geprellt. Er konnte die Frau den Flur entlang stampfen hören, und eine große Scham überkam ihn. Er tastete an sich herab, fühlte eine Nässe um seine Lenden. Sie kam polternd und unwillkommen in die Küche, ihre Augen blitzten vor Belustigung, als sie den alten Mann auf dem Boden liegen sah. Mit muskulösen Armen hob sie ihn mühelos vom Küchenboden auf, trug ihn ins Bad, entkleidete ihn gänzlich und setzte ihn auf den wasserfesten Stuhl in der Dusche. Der alte Mann fror entsetzlich, seine Rippenbögen ragten mehrere Zentimeter über seinen Bauch hinaus, seine Beckenkämme glichen zwei mit Pergament überzogenen Schaufeln. Die Frau schloss die Kammer der Dusche und verließ zunächst das Bad. Mit gesenktem Kopf wartete der alte Mann einige Minuten, hörte unverständliches Fluchen aus dem Nebenzimmer. Irgendwann, nachdem sie in der Küche wohl die Misere aufgewischt hatte, stürzte die Frau wieder ins Bad, duschte ihn halbherzig mit lauwarmem Wasser ab, zerrte ihn wieder hinaus, trocknete seine Knochen ab, zog ihn an, trug ihn in die Küche. Sie verließ kurz den Raum, kam mit einer Mahlzeit in einer Alu-Schale wieder, die sie auf den Küchentisch stellte. Danach verließ sie die Wohnung, den Schlüssel drehte sie einmal, zweimal, bis das Schloss einrastete.
Am nächsten Morgen saß der alte Mann wieder in der Küche. Sein Mittagessen, das die 15-Minuten-Frau ihm am Vortag gestellt hatte, stand noch auf den Küchentisch. Die zerkochten Kartoffeln waren mittlerweile dunkel angelaufen und einige kleine Fliegen kreisten um das für seine Dritten zu zähe Kotelett. Die Frau hatte ihm nie essenswerte Kost geboten. Oft gab es Reis, den er verabscheute, Geflügel ließ er stets stehen, und das Fleisch war stets ungenießbar. Er hatte nunmehr seit Monaten kaum mehr als eine oder zwei Mahlzeiten pro Woche essen können. Mit jedem Bissen überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Es war eine seltsame Erregung, wenn er die Mahlzeiten vor sich auf dem Tisch stehen sah. Er litt sicher nicht unter krankhaften Essstörungen, nein, jedoch schämte er sich beim Essen, manchmal flammte gar eine flüchtige Röte über sein Gesicht, und er verschloss das Behältnis wieder, ohne überhaupt probiert zu haben. Dann setzte er sich in seinen Stuhl, tastete nach seinen Rippen, zählte sie. Die schlecht verheilte Fraktur einer Rippe auf der rechten Seite seines Brustkorbes konnte er immer deutlicher spüren. Eine Leiter mit einer gebrochenen Sprosse, die entweder hinauf oder hinunter führen würde, dachte er mit Galgenhumor, ließ diesen Gedanken jedoch sofort wieder verfliegen. Er schloss die Augen, schlief ein.
Es war Abend geworden. Das Küchenfenster war hell erleuchtet, von draußen drangen Stimmen von großen Menschenmengen an sein Ohr. Mutig stützte der alte Mann seine Hände auf die Lehnen des Stuhles, drückte mit Mühe seine Knie durch, erhob sich. Er tastete sich am Küchentisch entlang bis zum Fenster. Er ergriff mit schwacher Hand den Hebel, aber das Fenster ließ sich nicht öffnen, so sehr er sich auch bemühte, also lehnte er seine Ellbogen auf die Fensterbank und kam mit seinem Gesicht dem Fenster so nahe, dass sein Atem die Scheibe beschlug. Er sah durch das mit Eisblumen geschmückte Fenster hinaus. Durch die Sanguisgasse zog sich ein nicht abreißender Strom von Menschen. Viele von ihnen flackerten mit Fackeln im Strom, andere schwenkten Fahnen über ihren Köpfen. Er konnte ihre Stimmen auch bei angestrengtem Zuhören nicht verstehen, viele riefen ungeordnet umher, andere Gruppen sangen im Chor. Die Schilder, die einige mit sich trugen, waren für ihn von seiner Sicht aus dem Fenster unleserlich, auch konnte er keine Einzelnen ausmachen, aber die Menge hatte in ihrer Gesamtheit ein entschlossen ernstes Gesicht, das ihn an die Märsche seiner Jugendzeit erinnerte. Er sah die Straßen hinter seiner Gasse, sie waren ebenfalls voller Menschen. Lange lehnte er auf der Fensterbank, versuchte den Sinn der Versammlung zu ergründen, bis seine Rippen zu schmerzen begannen und er sich zurück auf den Stuhl setzen musste. Er fand an diesem Abend weder den Weg zur Toilette noch in sein Schlafzimmer. Irgendwann wurde es draußen ruhiger.
Am nächsten Tag um 12h drehte sich der bekannte Schlüssel in der Eingangstür. Die Frau stand in der Küchentür, ihre Fäuste hatte sie in ihre breiten Hüften gestemmt. Der alte Mann war im Stuhl eingeschlafen und schreckte nun hoch, als die Frau zu ihm hinüber stampfte. Das 15-minütige Prozedere forderte an diesem Tag viel Kraft, der alte Mann fühlte sich schwächer als jemals zuvor. Am Ende saß er völlig kraftlos und mit wirren Sinnen im Küchenstuhl. Er sah nun Eisblumen, die nicht da waren, hörte Chöre, die nicht sangen. Auf dem Tisch stand eine große Schale mit widerlichem Reis, aber der alte Mann verbrachte den Tag mit wirren Träumen. Eva maßregelte ihn bösartig, er habe den Fahrplan nicht korrekt erstellt. Mit einem dicken Rohrstock schlug sie, indem sie weit ausholte und gellend schrie, auf ihn ein, zerbrach des alten Mannes Beine, der ebendiese merkwürdigerweise schmerzlos splittern hören konnte. Sein unendlicher Durst machte jeden Schmerz bedeutungslos. Eva steckte einen mit Wasser getränkten Schwamm auf den Rohrstock, stellt ihn vor sich wie einen umgekehrten Besen auf, vergrub ihre Lippen in dem Schwamm und sog das Wasser gierig in sich hinein. Der alte Mann drehte seinen Kopf nach rechts, er sah zwei riesige Kreuze, an denen jeweils zwei weitere Menschen zu hingen schienen. Und Dunkelheit schob sich wie ein gewaltiger Vorhang vor seine Augen.
Abends erwachte er, brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Er konnte wieder die Massen in seiner Gasse hören. Er begab sich wieder zum Fenster. Der Mond, den der alte Mann durch das milchige Glas über der Spitze des Kirchturms sehen konnte, leuchtete rostbraun, fast wie eine zaghaft aufgehende Sonne in der Nacht. Die Zeiger der Turmuhr standen auf Dreiundzwanziguhrfünfundvierzig. Minutenlang blickte er auf Uhr und Mond. Er nahm Stift und Papier. Zwei Zeugen, die verlässlich waren. Er schrieb in das Tagebuch.
„Mein Bruder, selbst wenn Du Dich hinter dem Kirchturm versteckst, kann ich Dein Gesicht immer sehen, denn ich kenne es genau. Unser beider Schaffen ist von großer Gleichheit. Du ziehst umher auf Deiner Bahn, Du musst es; ich bin ein Mensch, ich muss es sein. In Deiner Röte zeigt die Erde auf Dich, genauso fühle ich mich auch. Deine eine Seite kennen alle. Manchmal lächelt sie, manchmal ist sie voller Trauer. Ich habe viel geweint in den Jahren. Während Du stets die gewohnten Meere, Seen und Berge zeigtest, könnte ich dies nicht tun. So dreh Dich doch, so Dreh Dich doch, dass alle es sehen!“

Der alte Mann legte Stift und Buch beiseite. Er schaute aus dem Fenster. Die Uhr bewegte sich nicht mehr, sie war stehengeblieben. Und draußen die Masse. Die Menschenstimmen hatten jedoch ihre Qualität verändert, sie schienen nun nach dem alten Mann zu rufen. Er setzte sich zurück in seinen Stuhl und wartete. Den nächtlichen Frost fühlte er kommen, seine Scheibe wurde allmählich mit Eisblumen überzogen. Kälte kroch langsam durch alle Ritzen des Hauses, durch das Fenster, unter der Tür hindurch. Wie ein Ring aus Eis hatten sie die Nummer 45 eingekreist, sie lauerten mit frostiger schärfe und tödlichen Eisschwertern griffbereit in ihren Scheiden.
Gegen Morgen hatte sich der alte Mann wieder an das Fenster gewagt. Er zeichnete Strichmännchen auf die Scheibe. Eine davon hatte lockige Haare, ihre Arme waren erhoben, die andere Figur stand mit gesenkten Armen dort. Er malte einen kleinen Zug mit geschlossenen Fenstern auf die Scheibe. Auf jedes Fenster des Zuges zeichnete er ein kräftiges Kreuz. Den Rauch der ziehenden Dampflok betonte er mit sich über die gesamte obere Hälfte des Fensters ziehenden, kreisförmigen Rauchwolken. In den Vordergrund zeichnete er Blumen. Bald war die gesamte untere Fläche des Fensters mit weißen Blüten überzogen. Und er sah rote Farben an den Blüten, die wie Tränen hie und da sachte zu rinnen schienen. Die Blüten weinten. Als er dies sah, glitten seine Finger über die Fenster des Zuges. Er bemühte sich, jedes mit Tränen aus seinen Fingerkuppen auszumalen. Nach einiger Zeit sah er, dass die Zeichnung vollendet war. Seine Chrysanthemen wurden blutrot, sie schienen durch die Kraft seines Blutes jäh lebendig zu werden. Sie wuchsen auf dem Fenster wie wilder Efeu. Kaum mehr waren Zug, Mond oder gar die Stadt zu erkennen. Und er hoffte, dass die Sonne des Mittags alles wieder zum Schmelzen bringen würde. Seine Finger Schmerzten, aber es war ein guter Schmerz, so, als hätte er gerade ein Kind durch seine alten Hände geboren. Es zappelte, es schrie, es atmete in seinen blutigen Händen. Zufrieden wartete er im Stuhl sitzend auf die 15-Minuten-Frau. Er nickte kurz ein, bis ein Rumoren im Treppenhaus und ein sich widerwillig öffnendes Schloss ihn erweckten. Zum Ersten Mal seit einer langen Zeit war er völlig wach und seine Gedanken scharf wie Rasierklingen.
12 Uhr, die Frau kam hinein. Seine Viertelstunde hatte begonnen. Sie stand in der Tür der Küche, ihr blondes Haar lag wüst und strähnig über ihrem schweißnassen Gesicht, dessen Augen sie wie scharfe Pfeile auf das weiße Fleisch des Mannes schoss. Dieser hingegen sah sie mit klaren Augen voller Erwartung an. Heute hat sich mein guter Bruder, mein Mond, gedreht, dachte er und erhob beide Arme. Es schien, als versuche er, die die Frau aus der Ferne zu umarmen. Diese stampfte mit schweren Schritten quer durch die Küche auf den alten Mann zu, zog dabei ihren schweren weißen Kittel hinter sich her, fasste den alten Mann unter den Achseln. Der alte Mann fasste die muskulösen Schultern der Frau, diese hob ihn fast ohne Mühe hoch. Sie zögerte nicht lange, polterte mit der alten Last zum Küchenfenster hinüber, befreite eine Hand ringend aus den klammernden Fingern des alten Mannes, nutzte diese, um das Fenster zu öffnen. Sie setzte ihn auf die Fensterbank, ließ seine knochigen Füße aus dem Fenster baumeln. Der alte Mann sah die Menschen, die sich unter seinem Fenster Versammelt hatten. Er fühlte die Massen wie mit einem riesigen Finger in seine Richtung zeigen, blickte auf, sah die roten Straßen hinter seiner Gasse, spürte die Stadt mit ihren wartenden Galgen. Er fühlte die schallenden Geschosse der Schreier auf ihn einschlagen wie Salven eines Maschinengewehres. Der Himmel zeigte eine rote Wintersonne, die mit strahlend-spitzen Krallen nach seinem Körper zu schreien schien. Wie ein durch seine 15-Minuten-Frau aufgeknüpftes Skelett zappelte er nun über der Sanguisgasse, seine wachen Augen, tief in seinem spitzen Gesicht liegend, sahen wissend und ruhig in die Menge. Die Frau ließ ihn wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden tanzen, indem sie ihn wie einen Apfelbaum, an dem nur noch verfaulte, vergiftete Früchte zu hingen schienen, schüttelte. Er sah seine Glieder nach ihrem diktatorischen Takt hin und her zappeln, wie Stöcke, die klappernd und klingend zu einer ihm unbekannten Melodie einen grotesken Tanz veranstalteten. Unten sah er Schemen von erhobenen Fäusten, die wie scharfe Waffen auf ihn gerichtet waren, Hände, die manisch nach ihm griffen wie Süchtige nach Opiaten. Viele hatten Plakate und Fahnen in ihren Händen, die er erkannte, die er schon immer gekannt hatte. Und er schloss die Augen. Er sah den Zug an seiner Scheibe, alle Fenster waren verschlossen. Eva stand mit blondem Haar und aschgrauer Haut vor einer der Türen. Sie lächelte, zeigte mit der Linken auf einen hölzernen Verschlag vor einer der Türen. Das Holz lebte und schwitzte hellrotes Blut in feinen Perlen. Eva hielt eine gesunde, schneeweiße Chrysantheme in der Hand, holte weit nach hinten aus, warf sie in die Richtung des alten Mannes. In einem Bogen flatterte die Blume durch die Luft, drehte sich einmal, zweimal, dreimal, bis Friedrich sie mühevoll mit beiden Händen fangen konnte. Er senkte langsam seinen Blick auf die eben Gefangene; ihr Stängel war vertrocknet, ihre verwelkten Blütenblätter hielten ein paar Sekunden, bis sich das erste Blatt löste und langsam fortgeweht wurde. Nach und nach lösten sich alle Blütenblätter, segelten auf den Boden. Eva erhob eine Hand, zeigte auf Friedrich, machte eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger, die Friedrich auffordern sollte, sich umzudrehen. Er drehte sich. Aus der Hand mit dem Zeigefinger Evas ballte sich eine Faust. Friedrich blickte über eine Schulter in Evas Augen und –
Ein gewaltiger Schlag gegen seinen Rücken beförderte den alten Mann hinaus, er hörte mit nun weit aufgerissenen Augen sein Rückgrat zersplittern. Er sah im freien Fall Schneeflocken an seiner Seite fliegen wie die weißen Blütenblätter einer schmelzenden Chrysantheme. Die Menge öffnete sich, schaffte eine Mulde für den alten Mann.
Noch einmal drehte er sich im freien Fall um die eigene Achse, und er starb, bevor er in die Menschenmenge einschlug.
 
K

KaGeb

Gast
Herzlich willkommen auf der Leselupe.
Möge die Muse dich küssen oder wer auch immer :)

LG, KaGeb
 



 
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