Die Gasse

Tappiti

Mitglied
Schon immer wollte sie diesen Weg gehen. Oft ging sie nur an ihm vorbei. Aber an diesem Tag würde sie nicht wieder an ihm vorbeigehen. Heute würde sie einbiegen und schauen, wo dieser Weg hinführte. Der Weg war schlecht einzusehen und vielmehr einer Gasse gleich. Viele Menschen hasteten jeden Tag an ihm vorbei ohne einen Blick auf ihn zu richten. Zu fest hatten sie ihr Ziel vor Augen, als sich von einer unbekannten Möglichkeit irritieren zu lassen. Das Pflaster des Weges war noch nicht von vielen Füßen glatt getreten. In einem scharfen Winkel bog er von der Hauptstraße ab und verbarg so jeden flüchtigen Blick. Wer wissen wollte, wo dieser Weg hinführte, musste ihn betreten, sich ihm anvertrauen.
Noch nie sah sie jemanden diesen Weg nehmen. Scheinbar wohnte niemand in den Häusern an der Ecke des Weges. Vielleicht hatten diese Eckhäuser aber auch nur ihre Eingänge an einer anderen Straße. Dunkelheit herrschte in dem Weg, der eng in eine Biegung entschwand. Eine dauernde Feuchtigkeit und Kälte machte den Weg noch unwirtlicher. Warum sollte irgendjemand diesen Weg nehmen?

Sie streifte sich ihren wärmsten Mantel über ihren dicken Pulli. In zwei Hosen konnte sie sich kaum noch bewegen. Sie nahm ihre gefütterten Schuhe und zwang sich mit zwei paar Socken hinein. Nein, so farbenfroh, wie sie normalerweise unterwegs war, waren diese Kleidungsstücke nicht. Aber ihr erschienen sie der Gasse zu entsprechen. Und nachdem die kalte Jahreszeit bereits begonnen hatte, wählte sie noch wärmere in Gedanken an die beklemmend wirkende Atmosphäre der Gasse.
Sie fühlte sich nicht gerade wohl bei dem Gedanken daran, heute in die Gasse zu gehen. Düsternis, Kälte, Ablehnung schienen die Gasse jedem lebenden Wesen entgegenzubringen, das auch nur einen Blick auf sie warf. Aber genau da wollte sie hin.
Ihr Leben verlief jeden Tag gleich und das war nicht das Leben, dass sie sich früher als Kind erträumt hatte. Wild, aufrührerisch und neugierig sollte ihr Leben sein. Und dann traf sie ihn. Er war zuvorkommend, galant und liebevoll. Bis sie schwanger war. Dann war er weg. Und nun versuchte sie Beruf und Kind miteinander zu vereinbaren. In der Arbeit zuverlässig zu sein und dem Kind einen Rhythmus zu geben. Und verlor sich dabei.
Aber heute hatte sie frei und ihr Kind war im Kindergarten und danach bei Freunden. Und sie machte sich auf den Weg.

Der Tag war kalt und sie hastete die Hauptstraße entlang. Sie musste nicht weit gehen. Zum Glück, denn sonst hätte sie vielleicht der Mut oder die Entschlusskraft verlassen. Die anderen Passanten beachteten sie nicht. Für sie war die Frau nur eine weitere von vielen.
Sie fror, trotz ihrer Schichtkleidung. Vielleicht fror sie auch nur vor dem Unbekannten, zu dem sie sich entschlossen hatte.
Nicht weit konnte sie schon den Weg sehen. Fast nur ein Schatten in der Häuserwand. Wind setzte ein und fraß sich in ihre Backen. Ihren Schal hatte sie vergessen. Jeder senkte den Kopf noch tiefer in die Krägen und Schals und beschleunigte den Gang um dem Wind zu entkommen. Wie gerne würde sie jetzt umdrehen und einfach nach Hause gehen und sich mit einer heißen Tasse Tee gemütlich auf die Couch kuscheln.
Aber nun waren trennten sie nur noch ein paar Schritte von ihrem Ziel. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht anhalten dürfte, sondern einfach in die Gasse einbiegen müsste, als wäre das das selbstverständlichste der Welt. Als wäre irgendein Haus in der Gasse ihr Ziel. Und so eilte sie ihren Weg entlang und bog scheinbar selbstverständlich, doch unvermutet in die verlassene Gasse ein. Und tatsächlich bemerkte dies niemand. Keiner schaute verwundert auf und blickte ihr nach. Sie hätten sich mit dem Nachblicken auch beeilen müssen. Denn kaum war sie in die Gasse gebogen, folgte sie ihr auch schon in die nächste Biegung. Als müsse sie vor den Leuten auf der Hauptstraße verbergen, welchen Weg sie nahm. Nach der Biegung blieb sie aber unvermittelt stehen. Sie blickte sich vorsichtig, nicht all zu offensichtlich um. Noch immer versuchte sie den Schein zu wahren, als wäre es das selbstverständlichste, in diese Gasse zu gehen.
Die Häuser drängten sich eng zu beiden Seiten nach oben und ließen nur einen Spalt für den Himmel frei. Grobe Steine bildeten die Wände, unterbrochen von blinden Fenstern. Und die Wände und das Pflaster waren feucht. Der Wind hatte aufgehört sie zum Umkehren zu bewegen. Sie war umgeben von völliger Stille. Unterbrochen nur von ihrem eigenen stoßartigem Atem.
Langsam setzte sie nun einen Schritt vor den anderen und wagte sich tiefer in die Gasse hinein. Nichts regte sich, aber sie hatte das Gefühl absolut vorsichtig sein zu müssen, als würde böses Leben auf sie lauern. Ihre Schuhe knirschten leise bei jedem Schritt. Aber in dieser Stille wirkte das Geräusch laut und auffordernd.
Die Gasse wurde mit jedem Schritt tiefer, noch enger und dunkler. Und nicht weit war der Weg in eine Dunkelheit gehüllt, dass sie ihren weiteren Verlauf nicht erkennen konnte.
Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, stieß ihn gleichmäßig ein und aus, begleitet von ihren Schritten. Sie kam dem Dunklen immer näher und langsam konnte sie Konturen erkennen. Unglauben stieg in ihr auf. Sie beschleunigte ihre Schritte, vergaß ihren Atem. Und dann hatte sie erreicht, was sie glaubte zu erkennen. Eine Hauswand, die die Gasse abschloss. Eine Wand mit den gleichen groben Steinen und den gleichen blinden Fenster bildete das Ende der Gasse.
Sie drehte sich um und stellte fest, dass diese Gasse, die sie so magisch angezogen hatte kaum mehrere hundert Meter lang war und schlicht aus den Rückseiten der Häuser bestand. Deshalb ging auch niemand in diese Gasse. Wozu, wenn keine Türe in eine gemütliche Stube oder auch nur eine enge Kammer einlud?
Sie kam sich unendlich dumm vor, stopfte ihre Hände tiefer in die Jackentaschen und stapfte fast schon wütend auf sich selbst die Gasse entlang, um die Kurve in die Hauptstraße und nach Hause.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Tappiti, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Du hast eine spannende Geschichte mit einer überaschenden Auflösung geschrieben!

Bitte die Kommasetzung noch einmal überprüfen.


Viele Grüße von DocSchneider

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Tappiti

Mitglied
Schon immer wollte sie diesen Weg gehen. Oft ging sie nur an ihm vorbei. Aber an diesem Tag würde sie nicht wieder an ihm vorbeigehen. Heute würde sie einbiegen und schauen, wo dieser Weg hinführte. Der Weg war schlecht einzusehen und vielmehr einer Gasse gleich. Viele Menschen hasteten jeden Tag an ihm vorbei ohne einen Blick auf ihn zu richten. Zu fest hatten sie ihr Ziel vor Augen, als sich von einer unbekannten Möglichkeit irritieren zu lassen. Das Pflaster des Weges war noch nicht von vielen Füßen glatt getreten. In einem scharfen Winkel bog er von der Hauptstraße ab und verbarg so jeden flüchtigen Blick. Wer wissen wollte, wo dieser Weg hinführte, musste ihn betreten, sich ihm anvertrauen.
Noch nie sah sie jemanden diesen Weg nehmen. Scheinbar wohnte niemand in den Häusern an der Ecke des Weges. Vielleicht hatten diese Eckhäuser aber auch nur ihre Eingänge an einer anderen Straße. Dunkelheit herrschte in dem Weg, der eng in eine Biegung entschwand. Eine dauernde Feuchtigkeit und Kälte machte den Weg noch unwirtlicher. Warum sollte irgendjemand diesen Weg nehmen?

Sie streifte sich ihren wärmsten Mantel über ihren dicken Pulli. In zwei Hosen konnte sie sich kaum noch bewegen. Sie nahm ihre gefütterten Schuhe und zwang sich mit zwei paar Socken hinein. Nein, so farbenfroh, wie sie normalerweise unterwegs war, waren diese Kleidungsstücke nicht. Aber ihr erschienen sie der Gasse zu entsprechen. Und nachdem die kalte Jahreszeit bereits begonnen hatte, wählte sie noch wärmere in Gedanken an die beklemmend wirkende Atmosphäre der Gasse.
Sie fühlte sich nicht gerade wohl bei dem Gedanken daran, heute in die Gasse zu gehen. Düsternis, Kälte, Ablehnung schienen die Gasse jedem lebenden Wesen entgegenzubringen, das auch nur einen Blick auf sie warf. Aber genau da wollte sie hin.
Ihr Leben verlief jeden Tag gleich und das war nicht das Leben, dass sie sich früher als Kind erträumt hatte. Wild, aufrührerisch und neugierig sollte ihr Leben sein. Und dann traf sie ihn. Er war zuvorkommend, galant und liebevoll. Bis sie schwanger war. Dann war er weg. Und nun versuchte sie Beruf und Kind miteinander zu vereinbaren. In der Arbeit zuverlässig zu sein und dem Kind einen Rhythmus zu geben. Und verlor sich dabei.
Aber heute hatte sie frei und ihr Kind war im Kindergarten und danach bei Freunden. Und sie machte sich auf den Weg.

Der Tag war kalt und sie hastete die Hauptstraße entlang. Sie musste nicht weit gehen. Zum Glück, denn sonst hätte sie vielleicht der Mut oder die Entschlusskraft verlassen. Die anderen Passanten beachteten sie nicht. Für sie war die Frau nur eine weitere von vielen.
Sie fror, trotz ihrer Schichtkleidung. Vielleicht fror sie auch nur vor dem Unbekannten, zu dem sie sich entschlossen hatte.
Nicht weit konnte sie schon den Weg sehen. Fast nur ein Schatten in der Häuserwand. Wind setzte ein und fraß sich in ihre Backen. Ihren Schal hatte sie vergessen. Jeder senkte den Kopf noch tiefer in die Krägen und Schals und beschleunigte den Gang um dem Wind zu entkommen. Wie gerne würde sie jetzt umdrehen und einfach nach Hause gehen und sich mit einer heißen Tasse Tee gemütlich auf die Couch kuscheln.
Aber nun trennten sie nur noch ein paar Schritte von ihrem Ziel. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht anhalten dürfte, sondern einfach in die Gasse einbiegen müsste, als wäre das das selbstverständlichste der Welt. Als wäre irgendein Haus in der Gasse ihr Ziel. Und so eilte sie ihren Weg entlang und bog scheinbar selbstverständlich, doch unvermutet in die verlassene Gasse ein. Und tatsächlich bemerkte dies niemand. Keiner schaute verwundert auf und blickte ihr nach. Sie hätten sich mit dem Nachblicken auch beeilen müssen. Denn kaum war sie in die Gasse gebogen, folgte sie ihr auch schon in die nächste Biegung. Als müsse sie vor den Leuten auf der Hauptstraße verbergen, welchen Weg sie nahm. Nach der Biegung blieb sie aber unvermittelt stehen. Sie blickte sich vorsichtig, nicht all zu offensichtlich um. Noch immer versuchte sie den Schein zu wahren, als wäre es das selbstverständlichste, in diese Gasse zu gehen.
Die Häuser drängten sich eng zu beiden Seiten nach oben und ließen nur einen Spalt für den Himmel frei. Grobe Steine bildeten die Wände, unterbrochen von blinden Fenstern. Und die Wände und das Pflaster waren feucht. Der Wind hatte aufgehört sie zum Umkehren zu bewegen. Sie war umgeben von völliger Stille. Unterbrochen nur von ihrem eigenen stoßartigem Atem.
Langsam setzte sie nun einen Schritt vor den anderen und wagte sich tiefer in die Gasse hinein. Nichts regte sich, aber sie hatte das Gefühl absolut vorsichtig sein zu müssen, als würde böses Leben auf sie lauern. Ihre Schuhe knirschten leise bei jedem Schritt. Aber in dieser Stille wirkte das Geräusch laut und auffordernd.
Die Gasse wurde mit jedem Schritt tiefer, noch enger und dunkler. Und nicht weit war der Weg in eine Dunkelheit gehüllt, so dass sie ihren weiteren Verlauf nicht erkennen konnte.
Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, stieß ihn gleichmäßig ein und aus, begleitet von ihren Schritten. Sie kam dem Dunklen immer näher und langsam konnte sie Konturen erkennen. Unglauben stieg in ihr auf. Sie beschleunigte ihre Schritte, vergaß ihren Atem. Und dann hatte sie erreicht, was sie glaubte zu erkennen. Eine Hauswand. Die die Gasse abschloss. Eine Wand mit den gleichen groben Steinen und den gleichen blinden Fenster bildete das Ende der Gasse.
Sie drehte sich um und stellte fest, dass diese Gasse, die sie so magisch angezogen hatte kaum mehrere hundert Meter lang war und schlicht aus den Rückseiten der Häuser bestand. Deshalb ging auch niemand in diese Gasse. Wozu, wenn keine Türe in eine gemütliche Stube oder auch nur eine enge Kammer einlud?
Sie kam sich unendlich dumm vor, stopfte ihre Hände tiefer in die Jackentaschen und stapfte fast schon wütend auf sich selbst die Gasse entlang, um die Kurve in die Hauptstraße und nach Hause.
 



 
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