Die Geburt

mikhan

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Die Geburt

Willkommen! Lange hat es gedauert, ganze neun Monate um genau zu sein, aber jetzt bist du ja endlich da. Schrei ruhig, du hast schließlich eine gewaltige Anstrengung vollbracht und hast ein gutes Recht darauf, auf deine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Nicht, dass wir es nicht auch so gemerkt hätten. Sieh nur, wie viele Leute gekommen sind, nur um dich zusehen. Hier, in diesem Augenblick, dreht sich alles nur um dich. Es mag dir ein wenig seltsam vorkommen, aber wir alle haben das einmal erlebt.
Ja, du hast richtig gehört, vor vielen Jahren waren wir genauso wie du, klein und hilflos, aber entschlossen zu leben. Jetzt sind wir nicht mehr so klein, aber oft immer noch hilflos, und manch einer vielleicht auch nicht mehr so entschlossen zu leben. Aber lass dich davon nicht entmutigen, vor dir liegt noch ein ganzes Leben und du kannst alles besser machen. Niemand kann wissen, wohin deine Wege dich eines Tages führen werden, möglicherweise sogar weit, weit fort von uns. Wir werden uns nur ungern von dir trennen und doch wissen wir, dass es so kommen wird, darum freuen wir uns um so mehr auf die Zeit, die jetzt vor uns liegt.
Wir wissen nicht, ob du dich ebenso freust, aber du wirst uns schon vertrauen müssen, denn noch bist du unfähig, deine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Du weißt noch so wenig über die Welt, in der wir leben, du weißt nichts von den Schwierigkeiten, mit denen wir und andere Tag um Tag zu kämpfen haben.
Genau wie du durchleben gerade Abertausende von Menschenkindern diese Augenblicke und zur selben Zeit verlöschen ebenso viele Leben, von denen bald nicht mehr bleibt, als eine vage Erinnerung. Und dann, irgendwann, ist selbst diese Erinnerung nicht mehr da. Dann sind wir wieder das, was wir eigentlich immer waren, Staubkörner, die vom Wind umhergeweht werden. Ein starker Wind hat dich in diese Welt geweht und wird dich eines Tages wieder von ihr fortwehen, doch bis dahin hast du ein Leben zu leben.
Es ist eine große Herausforderung, aber du kannst ihr nicht entrinnen, davor zu fliehen, wäre eine sinnlose Verschwendung deiner nur knapp bemessenen Zeit. In den nächsten Jahren wird vieles für dich zu entdecken geben, manches wird dich vielleicht erschrecken oder dich gar traurig machen. Doch am meistens wirst du staunen, staunen über die wunderbare Welt, von der du gar nicht genug bekommen kannst. Pass auf, dass du nie verlernst zu staunen, denn das ist unsere beste Eigenschaft. Ohne sie sind wir nur leblose Körper, die mechanische Bewegungen verrichten. Viel zu viele von uns haben das Staunen schon verlernt. Vielleicht kannst du uns wieder zeigen, wie es ist, zu staunen…
 



 
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